[ox] Selbstentfaltung ohne Vereinnahmung - Beispiel
- From: Heinz Weinhausen <h.weinhausen ina-koeln.org>
- Date: Thu, 24 Jul 2003 22:34:12 +0200
Barbara Grün schrieb in Re: Computer als Männersache
Es scheint doch schon schwierig zu sein, "einfachen"
Erwerbstätigen(Innen natürlich auch), der/die nicht als
SpitzenprogrammiererIn eine privilegierte Stellung besitzt, eine Lösung
des Problems anzubieten, wie mensch einerseits den Lebensunterhalt
verdient ohne andererseits von der Verwertungsmaschinerie völlig
vereinnahmt zu werden.
Eine Folge dieser aufgezwungenen Deformationen ist ja auch diese
Trennung zwischen Berufs- und Privatleben, wobei frau mit der
Entscheidung für einen persönlichen Beitrag zur Überbevölkerung i.d.R.
den eigenen Schwerpunkt auf das Privatleben legen wird. Aber deshalb
kann es nicht darum gehen, Modelle zu entwickeln, die eine Förderung der
beruflichen Karriere "trotzalledem" (mehr Programmiererinnen braucht das
Land) oder die Förderung einer Privatidylle (Hausfrauen-,
Erzeihungs"arbeit") erlauben, sondern darum, diese Schizophrenie
Arbeit/Freizeit aufzuheben.
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Die Fragestellung und Sichtweise teile ich. Ich gebe mal in die Liste,
wie Nicht-Programmierer, sogar Leute, die teils am Rande der
Gesellschaft standen, für sich eine handhabbare Lösung aus dem Dilemma
der Sphärentrennung gefunden haben. (Dies muss nicht heissen, dass der
Alltag einfacher geworden wäre.)
Hier mein Artikel zur Selbsthilfegruppe SSM, wo ich seit knapp 3 Jahren
Mitglied bin.
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Die „Sozialistische Selbsthilfe Mülheim“
Selbstbestimmt leben und lernen
Heinz Weinhausen
Gunnar ist neu bei der Kölner „Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim“
(SSM). Vor einiger Zeit lebte er noch in seinem alten Fiat, weil er es
in seinem Elternhaus nicht mehr ausgehalten hatte. Als es draußen zu
kalt wurde, kam er in eine der täglichen Morgensitzungen unserer
Selbsthilfegruppe. Er hatte im „Querkopf“, einer Zeitung von
Obdachlosen, gelesen, dass man bei uns wohnen und mitarbeiten könne.
Ranne erklärte ihm die SSM. „Wir sind hier 20 Leute auf dem alten
Fabrikgelände, und jeder hat hier sein Zimmer oder seine Wohnung. Wir
haben keinen Chef. Alles, was die Gruppe angeht, wird auf unseren
täglichen Sitzungen besprochen und entschieden. Mit unserem LKW
verdienen wir Geld durch Umzüge und Wohnungsauflösungen. Wenn die
entsorgten Möbel und der Hausrat noch gut erhalten sind, verkaufen wir
sie im Laden. Bei uns wird aber auch die Selbstversorgung groß
geschrieben.“ „Selbstversorgung, was heißt das denn?“, will Gunnar
wissen. „Die Wohnungen haben wir uns selber ausgebaut und halten sie
instand. Das Holz zum Heizen sägen wir selbst, und meistens finden wir
unsere Kleidung, Möbel und Küchengeräte bei den gespendeten oder
entrümpelten Sachen. Montags bis freitags gibt es ein gemeinsames
Mittagessen. Bei uns gilt alles, was der Gruppe wichtig ist, als Arbeit,
nicht nur das Geldverdienen. Also nicht nur die Umzüge, die
Haushaltsauflösungen oder der Ladendienst, auch das Betreuen der Kinder
ist Arbeit oder wenn jemand den Hof kehrt, Blumen pflanzt oder sich in
einer Stadtteilinitiative engagiert. Wir nennen unser Konzept „Neue
Arbeit“: jede und jeder soll nicht nur Geld verdienen, sondern auch
Eigenarbeit machen und sich im Stadtteil oder für neue Projekte
engagieren. Wir wollen unabhängig sein, daher nehmen wir keine
Sozialhilfe und ABM-Mittel. Jedes Mitglied bekommt ein gleiches
Taschengeld. Bei uns kann jeder mitmachen, egal ob Ausbildung oder
keine. Auch Behinderte können mitmachen. Zur Zeit sind hier Freddy und
Pit, die beide geistig behindert sind. Wir erwarten also keine
olympiareifen Leistungen, wohl aber, dass sich jeder seinen
Möglichkeiten entsprechend einbringt. Du hast Glück. Zur Zeit haben wir
ein Zimmer frei. Du kannst direkt mitmachen und sehen, ob das hier für
Dich passend ist.“
Ein paar Tage später ist die große Dienstagssitzung. Gunnar berichtet,
wie der Tag gestern beim Umzug mit den anderen vier gelaufen ist. Es war
alles okay. Beim nächsten Punkt „Arbeitsverteilung“ ist nichts mehr
okay. Wer hat für den Nachmittag eine Möbelauslieferung mit dem LKW
ausgemacht, obwohl doch klar ist, dass Detlef dienstags immer das
Fahrzeug inspiziert? Seit mehr als einem Jahr gibt es immer wieder eine
Behinderung seiner Arbeit dadurch, dass der LKW während der Wartungszeit
raus soll. Wenn aber nicht regelmäßig Öl, Luft und Bremsen kontrolliert
werden, die Achsen nicht abgeschmiert werden, nicht kleinere Reparaturen
durchgeführt werden, wird er bald hinüber sein. Und regelmäßig eine
Werkstatt dafür zu beauftragen, würde unsere Kasse sprengen. Detlef hat
diesmal endgültig die Faxen dicke. Er habe schon vor einem Jahr gesagt,
dass jetzt mal andere mit dieser Arbeit dran seien. Er brauche die Zeit
dringend für andere Aufgaben. Und ab sofort mache er die Wartung nicht
mehr. Er sei allenfalls bereit, jemand anders einzuarbeiten.
Aber wer macht es? Niemand meldet sich. Die Stimmung sinkt. Von den
Neuen traut sich keiner diese so wichtige Aufgabe zu. Und diejenigen,
die länger dabei sind, haben sich in bestimmte für die Gruppe wichtige
Bereiche eingearbeitet und wollen nicht wechseln. Reinhard hat
beispielsweise angefangen, in einem der Gebäude Doppelfenster zu
schreinern und einzubauen. Rainer schreibt an seiner Doktorarbeit zu
„Neuer Arbeit“. Gisela und Michael engagieren sich in der neuen
Stadtteilgenossenschaft „WiWAt“. Heinz betreut die Computer und macht
beim „Institut für Neue Arbeit“ mit.
Rainer erzählt, wie er den ersten LKW der SSM gewartet und vieles
repariert hat. Die Voraussetzungen dazu waren bescheiden, als Student
damals verfügte er über wenig handwerkliches Wissen. Aber er biss sich
rein, las Bücher dazu und konnte Bekannte finden, die weiterhalfen.
Damals versuchten wir noch, so gut wie alles selbst zu reparieren. Aber
heute findet er, dass der Mittelweg der beste und auch der ökonomisch
effektivste ist. Wichtig ist, den ersten Schritt zu tun. Alles andere
findet sich dann. Und die Gruppe zeigt ja viel Verständnis, wenn es mal
hakt. Auch wenn Sachen richtig schief gehen.
An diesem Tag findet sich keine Lösung. Aber das Problem rührt an unsere
Existenz. Ohne funktionierenden LKW können wir keine Aufträge fahren,
und es fehlt uns das Geld zum Leben. Eine Woche später ist das Thema
wieder auf der Tagesordnung. Und tatsächlich wollen zwei der Neuen die
Wartung zusammen anpacken. Peter ist nach Jahren der Arbeitslosigkeit
zur SSM gekommen. Er hat früher in einer Spedition einen Transporter
gefahren. Aber um den Wagen brauchte er sich nie zu kümmern. Obwohl er
sich die LKW-Wartung nicht richtig zutraut, hat er erkannt, dass es auf
ihn ankommt. Er ist bereit ins unbekannte Wasser zu springen. Sascha
geht mit seinen noch jungen Jahren unbefangener an Neues heran. Er hat
auch schon vor Wochen begonnen zu lernen, wie ein Computer bedient wird.
Lernen, sich entfalten, sich weiterbilden geschieht bei der SSM aus
vielerlei Motiven und auf vielerlei Wegen. Wenn jemand einen Garten
anlegt und pflegt oder einen Proberaum zum Musizieren einrichtet,
stecken dahinter Lust und Interesse. Zum anderen sind es die
Erfordernisse und die selbstgesetzten Ziele der Gruppe, die eine
Weiterentwicklung der Fähigkeiten mit sich bringen. Da gilt es einfach
anzufangen und die Hürden nach und nach zu nehmen. Wie dies bewältigt
wird, ist jedoch verschieden, und jeder bestimmt für sich selbst, ob er
Bücher wälzt, Freunde um Rat fragt oder sich Wissen in einem Kurs
aneignet. Einige haben auch eine Ausbildung gemacht oder studiert, bevor
sie zur Gruppe kamen, und bringen ihre Fähigkeiten mit ein. Aber es gibt
auch das herkömmliche Lernen. Asia schließt gerade ihr
Linguistik-Studium ab. Und Clemens machte bei der SSM seinen Praxisteil
für eine Ausbildung.
Die SSM zeigt in den vielen Jahren seit ihrer Gründung im Jahre 1979,
dass auch ein Arbeiten ohne Chef möglich ist und dass im
selbstbestimmten Miteinander für jeden Chancen zur Selbstentfaltung
entstehen. So muss niemand die ganze Woche dasselbe machen. Jeder kann
und soll zwischen verschiedenen Arbeitsfeldern wechseln. Jeder kann ein
Stück weit machen, was er wirklich will. Und das gilt für Menschen aller
gesellschaftlichen Schichten, jeden Alters, auch und gerade für
Menschen, die an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Andererseits
schließt diese Form des Arbeitens auch mit ein, eine ganze Menge
Reibungen auf sich zu nehmen, die zum Beispiel entstehen, wenn
Absprachen und Zusagen untereinander nicht eingehalten werden. So muss
etliches an Problemen in den täglichen Sitzungen besprochen werden.
Vieles kann dann wieder ins Lot gebracht werden. An dieser Stelle zeigt
sich auch, dass nicht nur die einzelnen dazulernen, sondern auch die
Gruppe als ganze, insbesondere bei der Bewältigung von Konflikten.
Selbstbestimmtes, selbstorganisiertes Arbeiten und Leben sind auch an
anderen Orten möglich. Dazu braucht es allerdings besondere
Voraussetzungen. Neben einem Anteil von Selbstversorgung sind es
erschwingliches Wohnen und preiswerte betriebliche Bedingungen, so dass
eine Gruppe auch mit weniger Umsatz über die Runden kommen kann. Bei der
SSM ist es so, dass die Stadt Köln ihr ein ehemaliges Fabrikgelände mit
vier Gebäuden sehr günstig vermietet hat, sowohl zum Wohnen als auch für
die gewerbliche Nutzung.. Andererseits hat die öffentliche Hand auch
viel davon, weil wir nicht wenige aus der Sozialhilfe und der
Arbeitslosigkeit rausgeholt haben. Wer hätte das gedacht?
Menschenwürdiges Arbeiten „rechnet“ sich für die Gesellschaft.
Die SSM ist ein offenes Projekt. Wir laden dazu ein, eine Woche bei uns
einzutauchen und mitzumachen.
aus "Durchblick" 2/2003
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