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[ox] Bordieu



Hallo!

Ich hab' leider die Diskussion, aufgrund derer Benni den Bourdieu
eingeworfen hat, nicht so verfolgt. Aber trotzdem für Interessierte zum
Einsteigen mal ein paar Gedanken zu Bourdieu und freier Software:

Bei Bourdieu gibt es drei Formen von Kapial:

1. ökonomisches Kapital. Dazu zählen Geld, Maschinen, Häuser, Computer
und dergleichen mehr. Für Bourdieu spielt es allerdings erstmal keine
Rolle, ob diese innerhalb von Verwertungsstrukturen oder außerhalb
dieser existieren.

2. kulturelles Kapital. Dazu zählt zunächst das, was Menschen an Wissen
und Bildung angesammelt haben (verinnerlichtes Kulturkapital), ein
entsprechender Fundus an "Objekten", also Bücher, CD's, Gemälde etc.
(objektiviertes Kulturkapital) sowie die entsprechenden Titel wie
Diplom, M.A., Dipl.-Ing. (institutionalisiertes Kulturkapital).

3. soziales Kapital. Darunter fällt die Gesamtheit an Beziehungen, die
ein Mensch mobilisieren kann.

Das gemeinsame aller dieser drei Kapitalsorten ist, das der Mensch Zeit
aufwenden muss, um sie zu erlangen. Das lässt sich m.E. ähnlich denken
wie bei Marx, nach dem eine gewisse Menge verausgabter abstrakter Arbeit
eine entsprechende Menge Wert schafft. So wie bei Marx wichtig ist, das
die Arbeit der durschnittlichen gesellschaftlichen Produktivkraft
entspricht, so zählt auch bei Marx erworbenes Bildungskapital nur
soviel, wie es in dem gesellschaftlichen Rahmen, in dem es eingesetzt
werden soll, anerkannt ist. Ein Soziologe mit brillianten
Marx-Kenntnissen kann so unter Umständen im Kapitalismus schlechte
Karten haben. ;-)

Den "gesellschaftlichen Rahmen", in dem Kapitale eingesetzt werden,
nennt Bourdieu "Felder". Es gibt dann beispielsweise ein Feld der
Software-Entwicklungsbranche, das von vielen Unterfeldern untergeben
ist. Dabei dürfte sowohl jedes einzelne Unternehmen ein eigenes
Unter-Feld bilden als auch unterschiedliche Betriebssystem-Varianten
(Linux vs. Microsoft). Die unterschiedlichen Akteure innerhalb dieser
Felder versuchen nun, das ihnen eigene Kapital so einzusetzen, das sie
möglichst weit nach oben kommen. Sie nehmen Einfluss auf die
Kapitalstruktur des Feldes: wenn durch ein Gesetz Vorteile von
ökonomisch starken Akteuren (Microsoft) eingeschränkt würde, wäre dies
eine Veränderung der Kapitalstruktur des Feldes. Das Gleiche würde
gelten wenn durch massive Öffentlichkeitsarbeit das Image von Microsoft
zugunsten des Linux-Image verschlechtert würde.

Ebenso würde Bourdieu den Kampf der Studierendenbewegung anno 1968 als
Versuch interpretieren, die Kapitalstrukturen im wissenschaftlichen und
politischen Feld zu verändern. Oder den Kampf der Frauenbewegung als
Versuch, ebensolche Kapitalstrukturen zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Der Versuch, freie Software zu stärken, könnte so auch als Versuch
angesehen werden, die Struktur des Feldes "Software-Entwicklung" so zu
verändern, das am Ende die Ökonuxis eine hierarchisch höhrere Position
einnehmen. Allerdings stellt sich hier ja nun die Frage wie das denn
wäre, wenn es das Ziel von Ökonux wäre, die Existenz hierarchischer
Felder überhaupt zu zerstören.

Und - um auf den Punkt von Bennni noch einzugehen - die drei
Kapitalsorten können natürlich auch ineinander transferiert werden. Ich
kann ökonomisches Kapital (Geld) aufwenden um mir ein Buch zu kaufen
oder einen Kurs als html-Programmierer zu machen. Und ich muss mich
entscheiden ob ich lieber lese (ergo kulturelles Kapital ansammele) oder
schuften gehe (und ökonomisches Kapital ansammele). Das hängt dann nicht
zu letzt wieder davon ab, welche Kapitalia in den Feldern anerkannt
sind, in denen ich mich bewege.

Für die Gender-Debatte dürfte dabei vor allem interessant sein,
inwieweit Männer als Männer soziales Kapital mobilisieren können und
deshalb Vorteile gegenüber Nicht-Männern haben können. Ebenfalls
interessant wird hier der Begriff des "Habitus", die vereinfacht gesagt
die Persönlichkeit eines Menschen beschreibt. Der Habitus entsteht aus
der jeweiligen Position des Menschen heraus: ein Arbeiter entwickelt
einen Arbeiterhabitus, eine Ärztin einen MedizinerInnen-Habitus. Hier
könnte diskutiert werden, inwieweit auch die Geschlechtszuordnung für
den Habitus (also die Art sich zu geben) wichtig ist.

Für die Freie-Software-Debatte im engeren Sinne (im weiteren gehört
Gender da ja sicherlich auch mit rein) stellt sich mir die Frage, welche
Kapitalsorten durch FS eigentlich in Frage gestellt werden und wie sich
das auf die Struktur der beteiligten Felder auswirkt. Übertragen auf die
Debatte um eine Freie Gesellschaft gilt ähnliches: wie kriegen wir
eigentlich die hierarchischen Felder weg, in denen Menschen sich
zueinander beziehen? Wollen wir die Überhaupt weghaben - oder geht es
nur darum sie so zu gestalten, das der Zugang für alle Menschen gleich
ist (ähnlich wie in der "freien Kooperation von C. Spehr)? Welche Rolle
spielt es wenn sich die Menschen innerhalb eines Feldes nicht direkt
aufeinander beziehen sondern vermittelt und damit indirekt durch
Fetischformen wie den Wert (und damit Geld) oder Geschlechtlichkeit?

Hm, ich hoffe das war jetzt nicht allzu sehr durcheinander und ihr
konntet da was mit anfangen. Ich muss übrgigens für die Uni demnäxt eine
Hausarbeit zu Bourdieu schreiben. Für Gedankenanregungen, in welche
Richtung zu denken hier schlau wäre, bin ich also immer dankbar. 

Bunte grüße, julian

Hallo!

Ich misch mich auch mal in die Diskussion ein. Es gibt glaub 
ich einen Knackpunkt in der ganzen Debatte (abgesehen vom 
unglücklichen Stil), auf den will ich mal hinweisen.

Als ich vor Jahren Thomas Berker das erste mal von [ox] 
erzählt hab, war seine erste Reaktion: "Alles soziales oder 
kulturelles Kapital wie bei Bordieu." 

Zunächst nur noch ein Disclaimer: Ich hab den Text von 
Bordieu wo es um soziales und kulturelles Kapital geht, nicht 
gelesen. Die Grundidee ist aber glaub ich ebenso einfach wie 
einleuchtend: Es gibt nicht nur Kapital in der "harten" Form 
von Wert, sondern auch in "weicheren" Erscheinungsformen, 
eben in Form von z.B. sozialen Beziehungen oder Bildung. Die 
These von Bordieu ist wohl, dass diese unterschiedlichen 
Formen von Kapital ineinander transferierbar sind und das 
deshalb eine Analyse der Herrschaftsstrukturen im 
Kapitalismus diese Formen auch betrachten muss. 
Bordieu-Kenner mögen mich korrigieren, wenn ich damit falsch liege.

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