Re: [ox] Reichtum in unseren kleinen Welten
- From: Jürgen Ernst <jrernst gmx.de>
- Date: Thu, 17 Jun 2004 16:41:16 +0200
Stefan Matteikat schrieb:
Das Thema paßt eben gut zu den verschiedenen Problemen, mit denen ich mich
derzeit herumschlage.
Den initialen Artikel von Watts/Strogatz fand ich hier:
tam.cornell.edu/SS_nature_smallworld.pdf
Danke für den Tipp. Mit den Referenzen darin finde ich noch weitere Texte.
Außerdem fand ich eine Studie über die Anwendung der Small-Worlds auf
P2P-Netzwerke (ich hatte nämlich folgendes Problem: eine P2P-Struktur als
random-network blockiert sofort das ganze Netzwerk; meine Überlegung
war also, sie als Gitter zu organisieren - aber dann wird sie schrecklich
unflexibel. Die Lösung liegt also irgendwo dazwischen:)
Ah, sehr schön. Endlich mal jemand, der das Prinzip vielleicht auch
anwendet. Hört sich interessant an. Wenn ich helfen kann?
Strogatz erwähnt, daß ihm die (ohnehin vereinfachten) Beispiele aus der
sozialen Gesellschaft in erster Linie zur Illustration seiner Theorie
dienen, für ihn sind die Zusammenhänge also in der Tat nicht so wichtig.
Aber wir diskutieren hier über die soziale Gesellschaft,
und da muß man schon die Frage nach dem Charakter des gesellschaftlichen
Reichtums und der gesellschaftlichen Produktion stellen. Die Anwendung
mathemathischer Modelle führt sonst nämlich genau zu einer - indirekten -
Idealisierung; und von der Idealisierung wolltest Du ja gerade abrücken.
Ich wollte nicht von der Idealisierung abrücken, sondern nur von der
näheren Bestimmung eines Begriffes, der für sich nicht wichtig ist.
Die Idealisierung ist notwendig, damit man ein MOdell machen kann, aber
es gibt keine andere "ideelle" Wirklichkeit da draussen.
Nur die Auswirkungen ("Reiche werden immer reicher") sind wichtig und
diese ergeben sich aus den Ergebnissen der Small-Worlds.
Anders gesagt könnte man dann Reichtum als Clusterbildung im Netzwerk
ansehen. Wieviele Worte soll man noch dafür finden? Es ist doch schon
alles da und liegt vor unserer Nase.
Reichtum in der kapitalistischen Gesellschaft - und da leben wir nun mal -
erscheint als unabhängig von der Art des Gutes durch die Art
und Weise, wie er entsteht. Das ist ja das Vertrackte an der ganzen Sache.
Wie ich schon mal sagte liegt das daran, dass es eine Eigenschaft des
Netzwerkes ist, die sich damit manifestiert.
Aber bei dieser Gesellschaft handelt es sich nicht um eine 2. Natur, in der
lauter "objektive (also quasi natürliche) ökonomische Gesetze" wirken,
Vorsicht, nur weil es natürliche Vorgänge gibt, die so arbeiten, muss es
nicht notwendig "objektiv" sein. Objektiv geht nicht, da wir alles immer
nur relativ bewerten können.
sondern der Reichtum im Kapitalismus ist eine _historisch spezifische Form_
gesellschaftlichen Reichtums, die an seine historisch spezifische
_Produktionsweise_ gebunden ist.
Mag sein, dass das "offiziell" so gesagt wird, aber für mich sind das
nur Worthülsen. Das sagt doch gar nichts genaues aus.
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Mir ist da eben beim Nachdenken was abstruses eingefallen.
Gebe ich jetzt einfach mal hier in die Liste rein:
Habe mich gefragt, ob man die Problematik auf eine physikalische Basis
stellen könnte.
Wenn ich "Produktion" höre, dann denke ich an Arbeit, Kraft, Weg, Länge,
Zeitaufwand, etc.
Physikalisch ist Arbeit äquivalent zu Energie:
Arbeit = Energie
Für Energie gibt es verschiedene Formeln, je nach Art, aber ich nehme
mal diese Formel hier:
Energie = Leistung * Zeit.
Analogie 1:
Könnte man da nicht sagen, dass der Wert eines Gutes gleich der Energie
ist, die man dafür aufwenden muss?
Also, wenn ich tief in einen Berg graben muss, um Diamanten zu finden,
dann muss ich dafür was *leisten* und es dauert auch *lange* => ich muss
viel *Energie* aufwenden => mehr *wert*.
Genauso, wenn ich ein Auto baue, dann dauert es seine Zeit und es müssen
zig Sachen geleistet werden, damit es fährt.
Ich setze somit nun Energie mit "Wert" gleich.
Analogie 2:
In der Physik werden Wechselwirkungen durch Botenteilchen vermittelt.
Beispielsweise ist das Botenteilchen der elektromagnetischen
Wechselwirkung das Photon.
Was wäre das Botenteilchen von Werten?
Ich sage hier vorab mal, es ist das "Geld".
Warum dies so ist, folgt anschließend.
Analogie 3:
a) Jedes Photon besitzt eine bestimmte Menge an Energie.
Wenn man viele Photon zusammenbringt, entsteht aus dem Nichts heraus ein
Teilchen. Die Photonen sind weg und dafür ist das Teilchen da.
Umgemünzt auf "Geld" und "Wert":
b) Jede Geldmenge besitzt einen bestimmten Wert.
Wenn man viel Geld auf einen Fleck zusammenbringt, dann kann damit ein
neuer Wert geschaffen werden. Dies nennen ich einen Kauf. Das Geld ist
weg und man erhält im Gegenzug ein Gut bzw. eine Ware.
Dieser Vorgang kann auch in umgekehrter Richtung ablaufen.
a') Teilchen verschwindet in einem Lichtblick (Photonen).
b') Verkauf einer Ware => Geld
Analogie 4:
Photonen gibt es den sog. Welle-Teilchen-Dualismus, d.h. Licht kann sich
als Welle oder als Teilchen manifestieren bzw. diese Eigenschaften
aufweisen.
Umgemünzt auf "Geld" und "Wert":
Geld hat die Eigenschaft einerseits Tauschmittel (Welle) zu sein, aber
andererseits auch "Wert" (Teilchen) sein.
Analogie 5:
E = m * c^2
Energie ist proportional zu Masse (über den Faktor c^2).
Wo viel Masse ist, wird noch mehr Masse hingezogen (Stichwort: Gravitation).
Umgemünzt auf "Geld" und "Wert":
Wert ist proportional zu seiner Fähigkeit anderen Wert zu binden.
Dies ist das Prinzip "Reiche werden immer reicher".
Wer viel Geld hat, bekommt auch noch immer mehr dazu.
Analogie 6:
Wer reich ist, hat in unserer Gesellschaft größeres Gewicht oder Macht.
Oder soll ich sagen mehr "Masse" ?
Reichtum ist Gradmesser für Macht. Mit "Macht"="Masse" ergibt sich über
die Äquivalenz von "Masse" und "Energie", dass "Macht" äquivalent zu
"Wert" sein muss. Ich denke das stimmt auch. Wer reich ist, wird als
mehr "wert" empfunden bzw. es wird demjenigen mehr "gebauchpinselt".
Hieran sieht man auch die Schwierigkeit "Reichtum" zu definieren.
Es gibt schon genug Begriffe dafür.
Reichtum ist nur eine Tautologie für Macht oder Wert oder Geld oder ...
Analogie 7:
In der Physik kann Energie immer nur umgewandelt werden. Es gibt aber
verschiedene Formen von Energie und mit einem Faktor kann man es
umrechnen. Der Umrechnungsfaktor bleibt aber immer gleich.
Nochmal zur Erinnerung: Wert gleich Energie.
Was in unserer Gesellschaft nicht stimmt sind die Umrechnungsfaktoren
von Werten!!! Gleiche Arbeit kann mal so oder so bezahlt werden. Wenn
jemand 3 Stunden auf dem Tennisplatz rumrennt, kann er mehr verdienen,
als ein Fabrikarbeiter in einem Jahr.
Wir handeln in unserer Gesellschaft den Umrechnungsfaktor ständig neu
aus, während die Natur den Energieerhaltungssatz strikt befolgt.
In der Simulation vielleicht. In der Realität nie. Die "Reduktion komplexer
sozialer Vorgänge und Gegensätze auf mathematische Kürzel" und das bißchen
Interpretieren können auch ziemlich bösartige Folgen haben.
Dazu sage ich: Die Mathematik ist das erfolgreichste Konzept, das der
Mensch hat, um die Natur zu beschreiben. Leider wurde es im Bereich
sozialer Vorgänge stark vernachlässigt (wohl aus Unwissenheit) solche
Beschreibungen zu finden bzw. zu erarbeiten. Und jetzt sitzen wir hier
und quälen uns mit den Dingen rum, die andere früher versäumt haben.
Man darf eben die Natur nicht einfach gleichsetzen mit der "zweiten Natur",
also der Gesellschaft, die aus _der_ Form gesellschaftlicher Herrschaft
resultiert, um deren Aufhebung es mir hier geht. _Die_ ist hierarchisch
und jeder Ansatz, nur bestimmte Parameter zu ändern, aber die gesamte
_Produktionsweise_ beibehalten zu wollen, führt zwangsläufig wieder zur
Bildung von Hierarchien.
Also da muss ich leider einhaken. Es gibt nur eine Natur und keine
zweite, die die Gesellschaft darstellen soll. Wir sind alle Teil davon.
Das ist der größte Fehler, den die Menschen in der Philosophie gemacht
haben. Damals begannen die Griechen damit, dass sie eine vom Menschen
unabhängige absolute Wirklichkeit definierten. Platon mit seinen idealen
Formen und Körpern und so weiter.
Das ist jetzt so als würde ein Mathematiker sagen, dass ein Kreis oder
eine Gerade wirklich existieren. Dem ist aber nicht so.
Kreis und Gerade sind nur Idealvorstellungen. Es gibt sie nicht.
Was es gibt, sind Dinge der realen Welt, die man damit beschreiben kann,
mehr oder weniger gut.
Somit entsteht auch Gesellschaft "in" und "aus" der Natur.
Und nicht "neben" der Natur!
Es war der größte Fehler, dass sich der Mensch als ausserhalb der Natur
stehend begriffen hat und noch begreift. Bis er dann, und nun immer
häufiger, merkt, dass es so nicht geht. Es gibt kein unbegrenztes
Wachstum in einem abgeschlossenen System, wie es die Erde nun mal ist.
Man kann nicht ständig Raubbau betreiben ohne die Zeche einmal zahlen zu
müssen.
Also, um noch mal drauf zurückzukommen: Es gelten Modelle zur
Beschreibung der Natur AUCH für gesellschaftliche Vorgänge.
Das zeigt die Simulation ja wunderbar. Aber daraus abzuleiten, daß "der
Mensch", der unter genau diesen Bedingungen sozialisiert wird,
"eben hierarchisch denkt", ist diese indirekte Art der Idealisierung,
die ich oben andeutete. Und genau darüber wollen wir ja hinaus.
Du willst also hoch hinaus zu den idealen "Kreisen und Geraden" ?
Vielleicht ist es ja auch so, dass dies gar nicht machbar ist und wir
mit den gegebenen Möglichkeiten auskommen müssen.
Ich die Ableitung sehr stimmig:
Die Gesellschaft baut sich der Mensch, weil er so denkt wie er denkt und
umgekehrt kann er nicht anders denken, weil er nichts anderes kennt als
die Gesellschaft in der er lebt.
Es bedingt sich alles gegenseitig.
Anders gesagt: Alles ist relativ.
Wäre es anders, gäbe es diese oben genannten "absoluten" (idealen) Dinge.
Die Simulation zeigt nämlich _nicht_, was passiert, wenn wir die
Produktionsweise ändern und sich damit die gesellschaftliche Perspektive
auf den Reichtum verschiebt.
Wenn es jene Simulation nicht zeigt, die Du Dir im Moment vorstellst,
dann musst Du Dir eben eine andere Simulation vorstellen. Jedenfalls ist
eine Simulation besser geeignet die komplexen Beziehungen einzuschätzen,
als eine Diskussion, die immer wieder daran scheitert, weil es nicht
gelingt die gleichen Bilder in den Köpfen aller Beteiligten
hervorzurufen. Somit bleibt das Problem ständig unverstanden und wir
kreisen endlos drum herum.
--
Ciao
Jürgen
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