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Re: [ox] Freiwirtschaft



Hi Michael!

Zunächst mal generell zu dem, was ich wohl freiwirtschaftliche
Theoriebildung zu nennen gezwungen bin. Für jemensch, der sich mal in
die Marx'schen Kategorien eingearbeitet hat - und damit die
theoretische Aufarbeitung dessen, wie Kapitalismus *funktioniert* -
der kann bei solcher "Theoriebildung" nur den Kopf schütteln. Das gilt
auch teilweise für die bürgerlichen ÖkonomInnen, aber die
FreiwirtschaftlerInnen sind da schon seit gut einem Jahrhundert
reichlich beschränkt. Ich versuch's mal an einem Beispiel klar zu
machen, dass deinem Hauptarbeitsgebiet näher liegt.

Nehmen wir an du stellst fest, dass dein Programm nicht funktioniert.
Als Analysewerkzeug hast du jetzt ein Tool, das dir den Zustand aller
Bits auf dem zentralen 8-Bit-Bus anzeigt. Du stellst fest, dass das
Problem besonders groß ist, wenn das oberste Bit oft gesetzt ist.
Folgerichtig schlägst du vor, dass das oberste Bit fest auf 0 gelegt
werden sollte.

Das ist ungefähr die Ebene der Analyse der FreiwirtschaftlerInnen. Es
werden einige, mehr oder weniger plakative empirische Ergebnisse
rausgegriffen und dann wird daraus geschlußfolgert. Als Programmierer
wirst du aber zugeben, dass dies aus vielerlei Gründen wohl kaum ein
geeigneter Weg ist, das Problem auch nur entfernt anzugehen, du aber
gute Chancen hast, das Gesamtsystem zu zerstören. Als Programmierer
weißt du, dass du völlig anderes Analysewerkzeug haben musst, um z.B.
Datenstrukturen und Programme erkennen zu können. Solches
Analysewerkzeug ist - rückübertragen - z.B. mit dem Marx'schen
Begriffsapparat gegeben. Mit anderen Worten: Der befindet sich auf
einem völlig anderen Abstraktionsniveau als bloße empirische
Beobachtung von ein paar Oberflächenparametern.

Das ist m.E. der einzige Weg, die Dinge adäquat zu verstehen. Nein,
das ist nicht jeder unmittelbar und mittels zwei, drei Postings
zugänglich. Sind Datenstrukturen in einem Programm auch nicht. Es ist
nicht alles simpel - auch wenn die Marketingabteilung (nicht nur) der
Freiwirtschaftler das gerne behauptet (ich weiß wovon ich rede, ich
war einmal bei einer solchen Veranstaltung, die ich nur als sehr gute
gemachte Indoktrination begreifen konnte).

Und das übliche Reaktionsmuster auf Argumentationen jeder Art, die
eben über das bloß Empirische hinaus gehen, kommt dann gerne die
verfolgten Unschuld. Hallo? Es geht doch überhaupt nicht um lautere
Absichten, sondern darum, dass es nicht genügt, sich die Zustände auf
einem Bus anzusehen, sondern (mindestens) die Datenstrukturen in den
Blick gehören.

Deswegen würde ich gerne ThomasK's Vorschlag aufgreifen:

Last week (8 days ago) Thomas Kalka wrote:
b) versuchen zu verstehen, was die andere Seite meint. Eine
Zusammenfassung der Position der anderen Seite schreiben, die das
Einverständnis der anderen Seite hat.

Ja, Michael und andere FreiwirtschaftlerInnen, schreibt doch mal eine
Zusammenfassung der Marx'schen Theoriebildung zum Thema politische
Ökonomie (aka Kapitalismus, trifft aber auf jede vom Tausch dominierte
Gesellschaft zu), die die Marx'sch Inspirierten hier teilen können.

Davon abgesehen wäre es mir immer noch lieb, wenn der Bezug zum
Listenthema gelegentlich heraus gearbeitet werden könnte.

Noch ein paar verstreute Bemerkungen.

Last week (11 days ago) Michael Hoennig wrote:
Was nützt es, wenn die Antwort ja wäre, aber die GPL-Gesellschaft nicht
durchsetzbar wäre?

Eine nachhaltige Gesellschaftsform kann nicht durchgesetzt werden,
sondern sie hat das Potential sich wesentlich "selbst" durchzusetzen.
Eine GPL-Gesellschaft, die durchgesetzt werden müsste, kann ich nicht
mal denken.

Auch hier beziehe ich mich übrigens auf eine Theoriebildung zu der
Frage, wie sich Geschichte vollzieht. Ich finde die Theorie, dass
zumindest die großen Veränderungen an einer fundamentalen Änderung des
produktiven Unterbaus (aka Produktivkraftentwicklung) liegen, sehr
schlüssig. Weil wir genau da heute wieder sind, glaube ich, dass die
GPL-Gesellschaft kommen wird - ohne dass sie im wesentlichen
durchgesetzt werden müsste.

0. (da am wichtigsten): Geld-Reichtum führt zu Macht!

Was nur in einer Geldgesellschaft überhaupt stimmen kann. Geld ist nur
abgeleitete Macht und keine unmittelbare (wie z.B. eine Pistole).
Schaffst du die Notwendigkeit von Geld ab, dann schaffst du
gleichzeitig sein Machtpotential ab. Freie Software führt das heute
praktisch vor - u.a., dass die Freien EntwicklerInnen eben nicht
strukturell gezwungen werden können.

Man muss dafür aber selbst arbeiten. Das ist der Unterschied!

Vielleicht hast du ja schon auf das Mehrwertargument geantwortet, aber
da du es hier auch bemühst: Was ist mit dem Mehrwert, den
ArbeitgeberInnen erwirtschaften können? Wenn sie auch für ihren Lohn
arbeiten müssen - d.h. also auch nur das bekommen, was sie zum
Lebensunterhalt benötigen -, dann bleibt Mehrwert übrig, der sich dann
in der Firmenkasse ansammelt? Was soll mit dem geschehen? Die
RealsozialistInnen haben das dann staatlich abgeschöpft. Nun, das
Experiment sollte vielleicht nicht wiederholt werden...

Richtig, genau so denkt die Freiwirtschaft. Nicht über verbieten, sondern
über systembedingt unmöglich machen.

???

Zins wird verboten - oder?

Last week (10 days ago) Michael Hoennig wrote:
Aus meinem bisherigen
Mitlesen auf dieser Liste ging ich davon aus, dass von einer Welt
geträumt wird, die im Prinnzip so ist wie heute, mit Computern und Autos
und Fernsehern, nur eben ohne (geistiges) Eigentum.

Mit dem Träumen hast du's ja nun mal. Wie ich oben versucht habe
anzudeuten, wird bei Oekonux eher nicht geträumt, sondern
argumentiert, warum eine Welt ohne die zentralen
Entfremdungszusammenhänge von heute (Geld, Arbeit, Tausch) nicht nur
möglich sondern sogar attraktiv ist. Mit Träumen hat das eher nichts
zu tun.

Die begriffslose "Analyse" der FreiwirtschaftlerInnen zusammen mit der
sich anschließenden Handlungsforderung ist dagegen die echte
Träumerei. Wie gesagt: Es bringt nichts, das oberste Bit auf Null zu
setzen.

Last week (9 days ago) Michael Hoennig wrote:
Hallo Kurt,
Auch die antisemitischen Untertöne bei Gesell werden
von seinen Anhängern geflissentlich übergangen, weil
das nicht ins Konzept passt. Wer ist denn das "Urbild"
des Wucherers und "leistungslosen" Couponschneiders?
Natürlich "der Jude", wer sonst!

Wo gab es denn antisemitische Untertöne?

Nun, auch hier fällt dir deine eigene Begriffslosigkeit auf die Füße.

Jede sinnvolle Definition von Antisemitismus hat aber auch gar nichts
mit der Religion zu tun, sondern betrachtet vor allem die ökonomische
Kategorie "der Jude" - wie Kurt-Werner es sehr richtig in Anführung
gesetzt hat. Die ökonomische Kategorie "der Jude" ist aber in der Tat
die der ZinsnehmerIn (weil es im Mittelalter den ChristInnen verboten
war Zins zu nehmen).

Außer in aus dem Kontext
gezogenen Zitaten, wobei mir da eigentlich nur eines einfällt. Dass Gesell
Antosemit war ist eine leider immer wiederkehrende Behauptung, aber eine
falsche.

Ich denke selbst Gesell hätte sich zwanglos als solchen bezeichnet.
Das war damals auch ziemlich in Mode.

SELBST WENN er Antisemit gewesen wäre, hat das keinen Einfluss
auf den Wert seiner anderen Ideen. Genausowenig wie Richard Wagners
Antisemitismus den musikalischen Wert seine Opern schmälert.

Der Unterschied ist eben, dass Wagner keine ökonomischen Thesen in die
Welt gesetzt hat, während der Antisemitismus sich in der ökonomischen
Theorie Gesells eben ziemlich lupenrein wieder findet.

Aber ich finde diesen strukturellen Antisemitismus der
FreiwirtschaftlerInnen nicht mal das zentrale Problem. Die
Begriffslosigkeit und die daraus folgende Verblödung des Publikums
finde ich viel schlimmer. Aber am Ende einer großen Ära treten die
GesundbeterInnen wie z.B. die FreiwirtschaftlerInnen halt nicht nur in
Massen auf, sondern haben auch noch Zulauf :-( . Lasst uns dagegen
halten :-) .

Last week (8 days ago) Michael Hoennig wrote:
Profit gibt es in der Freiwirtschaft genausowenig
wie Zins.

Du meinst es also ernst. D.h. du würdest jegliche Mehrwerterzeugung
generell ausschließen. Uff!! Damit würdest du nicht nur jeden Grund
für den produktiven Einsatz von Geld überhaupt ausschalten, sondern
auch Investitionen verhindern, die ja aus dem Mehrwert (aka Profit)
erst entstehen. Starker Tobak!! Na ja, so ganz ohne begrifflichen
Boden...

6 days ago Michael Hoennig wrote:
Naja, es ist durchaus belegbar. Tauschringe usw. heben Verknappung
und Wertverwertung nicht auf,

Das tun sie doch, sie schaffen Angebote, die es sonst gar nicht gäbe und
verschaffen denen, die sich die Güter und Dienstleistungen auf dem
normalen (künstlich verknappenden) Markt nicht leisten können, die
Möglichkeit, sie sich doch zu leisten. Zudem greift Freiwirtschaft als
Gesamtkonpept gesehen ja gerade die künstliche Verknappung auf.

Jeder Markt - und du hast die Freiwirtschaft selbst als
Marktwirtschaft bezeichnet - kann nur mit künstlicher Verknappung
bestehen. Die künstliche Verknappung ist genau dann aufgehoben, wenn
alle sich nehmen könnten, wonach ihnen ihr Bedürfnis gerade steht und
weiter bestehende Begrenzungen politisch aushandeln, nicht aber über
das Eigentum der jeweiligen ProduzentIn aushandeln. Dann gibt es auch
keinen Grund mehr für einen Markt, auf dem sich die TeilnehmerInnen
überhaupt nur begegnen, weil sie die Waren künstlich verknappen -
notfalls per Gewaltandrohung.

Freie Software und die Commons allgemein zeigen auch hier sehr schön,
wie einfach das Leben *ohne* künstliche Verknappung sein kann. Das ist
der Weg Verknappung abzuschaffen. Und nicht durch ein wenig
Herumlaborieren am Tauschsystem.


						Mit Freien, aber
						keineswegs
						freiwirtschaftlichen
						Grüßen

						Stefan

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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