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[ox] Re: Fwd: Re: [Wertkritik] Ableitungsontologie



Hi Listen!

Sorry, ist leider schon lange her, aber ich möchte auf ein paar Dinge
von Tammo noch eingehen, die ich in den Threads im Archiv der
Wertkritik-Liste gefunden habe.

Ich `Cc:'e es mal an [ox].

From: tammo.jansen at osnanet.de (Tammo Jansen)
Date: Mon Oct  4 20:04:28 2004
"Produktivkraftmodell" muß wohl heißen "Produktionsverhältnisse", von
denen es, grob unterteilt, bisher urgesellschaftliche,
sklavenhaltlerische, feudale und kapitalistische gab.
Damit dürfte offenbar werden, was es mit der "emanzipatorischen
Perspektive" auf sich hat: Wenn die kapitalistischen
Produktionsverhältnisse nicht mehr zum Stand der
Produktivkraftentwicklung paßt, sind nachkapitalistische
Produktionsverhältnisse angesagt [...]

das ist aber genau das, was ich kritisiere.

emanzipation bedeutet für mich nicht, nur auf den richtigen
geschichtlichen moment zu warten, und dann zuzuschlagen.

Nun weiß ich nicht genau, was Emanzipation für dich denn bedeutet,
aber wie für alles im Leben müssen die Voraussetzungen dafür gegeben
sein. Und ich bin nicht der Meinung, dass für irgend eine Emanzipation
- eigentlich: den Übergang von einem Gesellschaftsmodell zu einem
anderen - die Voraussetzungen jederzeit gleich gut sind. Das ist
natürlich individuell blöd für die Leute, die zu Zeiten von
Emanzipation träumen, zu denen einfach ihre Voraussetzungen noch nicht
da sind, aber das ändert nichts an den Gegebenheiten.

v.a. kann
ich keinen plan, wie diese übergänge zu vollziehen sind aus der
bisherigen geschichte ableiten.

Das denke ich auch nicht und einen Plan postuliere ich sicher nicht
und auch sonst sehe ich bei Oekonux da keine besonderen Anstrengungen.

Was ich aber machen kann, ist mir die Welt genau anzusehen und
Entwicklungspotenzen aufzuspüren. Ist hier eine Grundlage geschaffen,
kann ich auch strategisch und taktisch hinschauen. Z.B. würde ich aus
der Oekonux-Perspektive große Teile der linken Bewegung für nicht
sonderlich förderlich für den Übergang in eine GPL-Gesellschaft
halten - dafür ist die Linke i.d.R. viel zu sehr dem Alten verhaftet.
Die wahre Auseinandersetzung zwischen Altem und Neuem findet m.E.
heute vielmehr in den vielfältigen Konflikten um das "geistige
Eigentum" statt - mittlerweile sogar auf der Straße
(Anti-Software-Patente-Demos).

Um gleich Missverständnissen vorzubeugen: Zum Dämme bauen eignet sich
die Linke immer noch ganz gut - wo sie denn nicht an chronischer
Schwäche leidet - aber mit geht's halt mehr um's Schiffe bauen.

das meint eben ableitungsontologisch: es wird ein prinzip (in diesem
falle eine überhistorische entwicklungsdynamik der menschheit)
positiv gesetzt, von dem aus dann -je nach belieben und
theoretischer vorliebe- entweder erkenntnisse über die moderne oder
aber auch handlungsanweisungen für eine gelingende emanzipation
abgeleitet werden.

Ich sehe nicht, wo ich positiv was setze.

Worauf ich mich beziehe ist: Es gibt Geschichte und also eine
irgendwie geartete geschichtliche Entwicklung und es macht Sinn - mit
Marx - aus einer bestimmten Perspektive hier unterschiedliche Epochen
zu betrachten. Das reicht für mich schon, was ich als theoretische
Begründung brauche. Da ist keine Wertung drin - die ich im übrigen
auch schädlich fände.

Im nächsten Schritt schaue ich mir *meine* konkrete historische
Situation an. Von dieser und dem Wertesystem, das sie mir aufgeprägt
hat, ausgehend komme ich zu dem Schluss, dass eine - sehr spezifische
- Emanzipation *für mich* das Richtige wäre. Ich muss hier keinen
Weltgeist oder irgend einen anderen geschichtlichen Telos bemühen,
sondern kann ganz bei mir bleiben. Dabei finde ich es auch entlastend,
dass ich mir keine Gedanken um den Rest der Menschheit machen muss,
die vielleicht mit einem ganz anderen Wertesystem geprägt ist, sondern
mich auf mich verlassen kann.

So, nun zähle ich Eins und Eins zusammen und schaue, was an
Geschichtsdynamik für meine Interessen drin ist. Und da komme ich halt
zu dem, was wir in Oekonux diskutieren ;-) .

außerdem: kannst du mir erklären, warum es für mich gut sein soll,
mich dem stand der produktivkraftentwicklung anzupassen?

Klar: Es erweitert deine Freiheit. So wie die Abschaffung der
Leibeigenschaft eine Erweiterung der individuellen Freiheit bedeutet
hat (die wir mit unserem heutigen Wertesystem halt gut finden).

Aber in der Tat: Gerade in den Übergangsphasen gibt es da sicher auch
oft Brüche, die individuell durchaus schmerzhaft sein können. Hier
können wir vermutlich nur versuchen, das so schmerzlos wie möglich zu
machen. Z.B. wäre es ja unproblematisch, die Börsen-Heinis mit
Spielgeld weiter machen zu lassen - den Unterschied würden sie ja
ohnehin kaum bemerken ;-) .

Bei Marx und Engels heißt es im "Kommunistischen Manifest" zu den
Produktionsverhältnissen der Zukunft: "An die Stelle der alten
bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt
eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung
für die freie Entwicklung aller ist."
Der Begriff "Selbstentfaltung" ist da, wenn auch verkürzt, m.E. durchaus
zutreffend.

"selbsentfaltung" als produktivkraft in der postfordistischen phase
(weniger bestimmbare klassenzuschreibungen, "flexiidentitäten",
verwilderung des patriarchats usw.) des kapitalismus hört sich für
mich viel mehr nach "Ich-AG", "eigenverantwortlichkeit" usw an.

Für mich ist das eher ein Ausdruck der Grundströmung. Selbstentfaltung
im Produktionsverhältnis Kapitalismus ist aber eben nicht unbedingt
emanzipatorisch, sondern auf Grund der unpassenden Verhältnisse
schlimm.

Davon abgesehen gibt es begrenzte Selbstentfaltung tatsächlich
zunehmend auch im Kapitalismus. Dass Leute Spaß an der Arbeit haben
können, dass sie freiwillig unbezahlte Überstunden machen - im
Software-Bereich gang und gäbe -, war den Linken noch in den 1980er
Jahren ein völlig unerklärliches Phänomen. Tatsächlich ist diese
Möglichkeit aber m.E. in allen kreativen Berufen - also z.B. bei allen
IngenieurInnen - gegeben und wird nur durch die Entfremdung im
Kapitalismus an der Entfaltung gehindert. Der Grund im Übrigen, warum
bei Freier Entfaltung wie bei Freier Software die Ergebnisse besser
sind.

2 months (76 days) ago Tammo Jansen wrote:
jetzt ein paar kurze anmerkungen:

Stefan Merten: "Dass aus emanzipatorischer Perspektive das >>Produktivkraftmodell zum
Stand der Produktivkraftentwicklung passen sollte, würde ich
jedenfalls mal als gegeben annehmen."
Tammo Jansen: zuerst fragt mensch sich so ganz allgemein, warum da was >>passen soll.

Stefan Merten:
Zunächst mal Hochachtung für dieses Rausgreifen. In der Tat war ich an
der Stelle im Zweifel, ob ich das in diesem Text so stehen lassen
soll. Der Gedanke ist auch m.E. noch nicht wirklich ausgegoren. Nun,
ich denke, dass es für Theorieentwicklung unabdingbar ist, auch und
gerade Halbfertiges, Unausgegorenes zur Diskussion zu stellen.
"Release early, release often" ist nicht nur für den kreativen Prozess
der Software-Entwicklung eine sinnvolle Sache.

ich finde es begrüßenswert, dass du jetzt wenigstens "einsiehst",
dass es wohl aus emanzipatorischer perspektive keine unbedingt
einzunehmende position sein muss, wie deine damalige formulierung
eindeutig erahnen ließ.

Ich sehe mich nicht in der Lage, solche Aussagen mit irgend einer
Verbindlichkeit zu treffen. Alles was ich tun kann ist laut Nachdenken
und wenn das jemensch nutzt freut's mich.

ich finde es auch gut, wenn "halbausgegorenes" etc. veröffentlicht
wird und diskutiert werden kann. dazu ist schließlich auch eine
solche liste da.

Na, ich habe viele Listen kennen gelernt, wo es wichtiger war die
"Parteimeinung" zu vertreten als nachzudenken...

allerdings kann mensch auch das nicht zu einem "man sollte immer..."
machen.

Auch wenn ich nicht immer so genau formuliere, oben hatte ich "würde
ich jedenfalls mal als gegeben annehmen" geschrieben. M.E. nicht ganz
dasselbe wie "man sollte immer...". Und wenn mensch überhaupt etwas
sollte, dann weil es dafür gute Gründe gibt, die anzugeben und
selbstredend diskutierbar sind.

dafür ist in dem selben text auch ein indiz zu finden:
Stefan Merten:
"Wo das Produktivkraftmodell nicht mehr zum Stand der
Produktivkraftentwicklung passt, sind Katastrophen nahe"
Tammo jansen:
und danach habe ich lange nachgedacht, und dann nichts, aber auch gar
nichts emanzipatorisches an dieser annahme finden können.
Stefan Merten:
Das konkrete Beispiel, das mir vor Augen war, war eigentlich sogar das
Ende der Feudalgesellschaften. Nach dem, was ich darüber mitbekommen
habe, hat sich zu deren Ende der gesamte Überbau doch ziemlich stark
von der einstmals - für diese Zeit - sinnvollen Ideologie entfernt.

schon wieder: warum ist ideologie überhaupt sinnvoll? oder meintest
du eher sinnvoll im sinne von funktional?

Ich bin hier auch noch nicht richtig sicher. Letztlich sind dies alles
Ausflüsse der bei Oekonux seit langem laufenden OHA-Debatte (OHA =
OrganisationHerrschaftAnarchismus), die ich jetzt hier weder
ausbreiten kann noch will. In OHA-Systemen kommt Ideologie m.E. immer
vor.

Ich kann mir auch immer weniger ein ideologiefreies System überhaupt
vorstellen. Die Schwierigkeit scheint mir in Folgendem zu bestehen:
Die menschliche Freiheit ermöglicht einfach unendlich viele
Freiheitsgrade - unbegrenzte Freiheit quasi. Eine irgendwie geartete
Vergesellschaftung ist immer mit einem OHA-System verbunden, das
organisiert und regelt und damit die Vermittlung zwischen den
AkteurInnen herstellt. Regeln sind aber nichts anderes als das Setzen
von Grenzen - und sie schränken damit grenzenlose Freiheit ein.
(Grenzelose Freiheit wird von Linken gerne als einzig mögliche Lesart
des Begriffs Freiheit verwendet, was aber wahrscheinlich nur die
bürgerliche Vorstellung der gesellschaftlich entbetteten Monade
reproduziert.)

OHA-Systeme sind für mich aber vor allem auch Ermöglichungssysteme.
Innerhalb der von ihnen gesetzten Grenzen ermöglichen sie Entfaltung.
Die Grenzen wirken dabei als Fundament und Stabilisierung eigener
Entwicklung.

Ideologien sehe ich in diesem Zusammenhang als eine Ballung und
gleichzeitige Reduktion der in einem OHA-System gültigen Regulation.
Früher habe ich an dieser Stelle im Übrigen wahrscheinlich von einer
bestimmten Kultur gesprochen.

Insofern sind Ideologien in der Praxis sinnvoll, weil sie das Leben in
einem OHA-System erleichtern. Als Beispiel nur mal die Ideologie der
Mülltrennung: Ein komplexer gesellschaftlicher Zusammenhang wird auf
die simple Regel runter gebrochen "Trenn' deinen Müll.". Ich muss
jetzt nicht mehr in jedem Einzelfall überlegen, ob und warum das wohl
sinnvoll ist. Solche Beispiele gibt es viele: Rechtsverkehr auf der
Straße ist z.B. ein Weiteres.

Als Abstraktion unterliegen Ideologien aber natürlich immer der Gefahr
der Entfremdung. Um beim Beispiel zu bleiben kann es eben auch eine
Situation geben, in der Mülltrennung aus irgend einem Grund keinen
Sinn macht und dann hat sich die Ideologie von dem dahinter liegenden
gesellschaftlichen Prozess entfremdet. Damit steht sie zur Revision
an.

aber auch dann bleibt der bittere beigeschmack einer angenommen
progressiven fortschrittslogik in der geschichte:
Stefan Merten:
Ich denke an die ausufernden Fürstenhöfe und Sätze wie "Sie haben kein
Brot? Dann sollen sie eben Kuchen essen." Das sind m.E.
Krisenerscheinungen, die ich nicht als emanzipatorischen Fortschritt
sehen kann. Mein Eindruck ist auch, dass sich hier auch im Verlaufe
der feudalen Geschichte einiges verändert hat.

hieraus zu folgern, dass dann ein neues "produktivkraftmodell"
(stefan merten) her muss, damit fürsten nicht mehr ausufernd feiern
können, und welches dann v.a. auf einer höheren stufe der
emanzipationsskala steht, ist m.E. sehr sehr kurzschlüssig und dem
bürgerlich-modernen fortschritrtsglauben und der aufklärerischen
geschichtsmetaphysik verfallen.

Oh Missverständnis! Ich missgönne den FürstInnen ja nicht, dass sie
ausufernd feiern - im Gegenteil: Das wäre ja zu verallgemeinern!

Nein, das Problem ist ganz anders gelagert. FürstInnen hatten im
Feudalismus für das OHA-System ebenso eine Funktion wie sie
KapitalistInnen im Kapitalismus haben. So weit ich das momentan
überblicke war diese Funktion im Sinne des OHA-Systems über bestimmte
Zeiträume auch funktional und damit in das OHA-System eingebettet.

Nun haben sich aber die Produktivkräfte aber historisch immer weiter
entwickelt und die FürstInnen sich gleichzeitig immer mehr von dem
durch sie repräsentierten(!, nicht identischen!) OHA-System
entfremdet. *Deswegen* haben sie Höfe unterhalten, die zu der
Ausbeutung der Untertanen im krassen Gegensatz standen. Während in
früheren Zeiten Adel und Kirche noch relativ eingebettet funktioniert
haben, entbettete sich das immer mehr.

Das hätte wohl auch noch Jahrhunderte so gehen können, hätte mit dem
beginnenden Kapitalismus nicht eine Keimform bereit gestanden, die das
Zeug hatte bei der Produktivkraftentwicklung entscheidend etwas zu
verändern. Das hat auch erstmal gar nichts mit Emanzipation in irgend
einem geschichtlich absoluten Sinn zu tun. Für mich gibt es diesen
absoluten Begriff der Emanzipation nicht und Emanzipation selbst ist
vermutlich auch schon eine ziemlich bürgerliche Erfindung.

Aber so what? Wir sind nun mal alle Kinder der bürgerlichen
Gesellschaft und nichts hindert uns daran, aus ihr heraus etwas
anderes zu wollen.

außerdem glaube ich nicht, dass mensch überhaupt davon sprechen
kann, dass es in aller bisherigen geschichte so etwas wie ein
einheitliches, stringentes "produktivkraftmodell" bzw.
"produktionsverhältnis" gegeben hat. dies halt ich wiederum für eine
moderne rückprojektion.

Verstehe ich den Einwand so, dass die Produktivkraftentwicklung
vielleicht nicht bis in alle Ewigkeit geschichtsmächtig ist, so würde
ich dem nichts entgegen halten können. Mir geht es aber gar nicht
darum irgendwelche Gesetze über menschliche Geschichte aufzustellen,
sondern in meiner aktuellen und sehr konkreten historischen Situation
mich um die Erfüllung meiner Bedürfnisse zu kümmern. Dafür finde ich
diesen Gedanken hilfreich - nicht mehr und nicht weniger.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan



________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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