Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?
- From: Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Wed, 23 Feb 2005 12:11:44 +0100
Hallo Stephan,
du scheinst die Form des großen Opus zu bevorzugen, allerdings gebe ich
zu bedenken, dass es den Aufwand vielleicht nicht lohnt, wenn bereits
die grundlegende Herangehensweise Kritik findet. Über Konklusionen aus
einer falschen Prämisse oder einem für unzureichend gehaltenen Ansatz zu
räsonnieren macht keinen Spaß. Du findest das phänomenologisch vielfach
auf OpenTheory: Eine intensive Debatte um die ersten 5 Absätze und das
wars an Aufmerksamkeit.
Die Debatte verebbt auch deshalb schnell, weil sie vom Autor des
Aufsatzes nicht ernst genommen wird. Meist sind es letzte Fragen, die
keiner Antworten mehr für würdig befunden werden. Und mit Texten
zugeschüttet zu werden ohne Reaktion auf substanzielle Argumente erhöht
auch nicht gerade die Lust auf Argumentation. So liegen meine
Bemerkungen zu deiner "Hacker-Ethik" vom 23.9. auch noch auf dieser "Halde".
Du hörst sicher einigen Frust aus diesen Bemerkungen heraus, der auch
darin wurzelt, dass du genau das machst, was Janich (und Klemm) vehement
kritisieren: einem dinglichen Informationsbegriff nachjagen. Dass du
dabei massenhaft Autoritäten zitierst macht die Sache nicht plausibler,
sondern ist Ausdruck genau der von SMz detaillierter beschriebenen
Kontroverse.
Informationen
sind immer Eigenleistungen einer unterscheidenden Einheit, d.h. niemals von
außen gegeben; draußen oder in der Umwelt des Systems gibt es für das System
zunächst ein unspezifisches Rauschen, das nur potentiell informativ ist.
bestreite ich entschieden. Strukturierende Wahrnahme derart von der
Realität abzukoppeln halte ich für extrem unproduktiv und genau das wird
auch in der Lebenskunstdebatte zentral kritisiert.
Was du dann über Information schreibst entspricht weitgehend dem (eben
von Janich kritisierten) Versuch der Informatiker, die Verbindung
zwischen Level 5 und 6 (Syntax und Semantik) im OSI-Modell zu verstehen.
Wie weit die gesellschaftliche Praxis der Informatik selbst inzwischen
über diese Konzepte hinausgegangen ist, siehst du an der Killerwirkung
von XML, der die (mE triviale) Idee der Auszeichnung semantischer
Einheiten durch Markup zu Grunde liegt. Und nachdem hier
_Beschreibbarkeit_ möglich ist, wird nun fleißig beschrieben und so die
konzeptionelle Seite auf konkrete Inhalte angewendet, also konkrete
Beschreibungen in dieses universelle Format überführt. Das Zusammenspiel
zwischen abstraktem Standard und konkreten Inhalten ist dabei ein sehr
subtiles, wie du an der Geschichte der XML-Standardisierung ablesen
kannst. Dass Semantik um Größenordnungen vielfältiger strukturiert ist
als du mit deinem Symbolansatz auffangen kannst, wird dabei wie
selbstverständlich vorausgesetzt. Und dass die "Symbolisierung" selbst
ein kollektiv lebensweltlicher Prozess des Ringens ist.
Inzwischen redet man von "semantic web" und Ontologien, mit dem das
Generieren von Begriffswelten ein Stück weit denkerisch durchdrungen
werden soll. Die Sachen (RDF etwa) gehen zwar derzeit nicht viel über
den ER-Ansatz hinaus, aber spannend ist dabei, dass Begriffe und Daten
auf einheitliche Weise referenziert werden sollen.
Aber vielleicht sollten die Informatiker auch mal die Linguisten fragen,
was die zum Thema zu sagen haben, da dort Pragmatik und Hermeneutik
seit langem zum täglichen Brot gehören. Ein Abglanz davon wird in der
Computerlinguistik sichtbar, wenn es um die Analyse von Textkorpora geht
oder um automatisches Übersetzen.
Davon sind _alle_ lebensweltlichen Zusammenhänge betroffen; die von dir
perpetuierte Hypertrophierung des Symbolanalytikerdaseins entbehrt nach
meinem Verständnis schlicht der faktischen Grundlage, wenn man von einem
adäquaten Wissensbegriff ausgeht. Trotzdem bist du damit in guter
Gesellschaft auch auf der Seite der Linken, wo im PDS-"Braintrust" sogar
die Vision einer "Klasse der Informationsarbeiter" diskutabel ist
(Dietmar Wittich) und Eingang bis ins aktuelle Parteiprogramm gefunden
hat. Der Ansatz geht aber davon aus, dass eine Spezialisierung wie
heute in "Kopfarbeiter" und "Handarbeiter" Bestand haben, Denken also
eine elitäre Tätigkeit sein bzw. bleiben wird, während ich viele gute
Gründe aufgeführt habe, dass diese Wissensgesellschaft unter anderer
Perspektive als Kompetenzgesellschaft charakterisierbar ist, weil in
einer solchen Wissensgesellschaft (in der also die Sozialisation des
Wissens die Leitsozialisation sein wird) Kompetenz ein zentrales
lebensweltliches Agens sein wird.
Dass das ganz tief mit Herrschaftsthemen verwoben ist, sei hier nur in
Parenthese bemerkt (ist im Mawi-Paper ein Stück weit asugeführt). Über
die Gründe, warum "das geschwächte und der Realität immer hörigere
Bewusstsein mittlerweile die Fähigkeit verliert, jene Anspannung der
Reflexion zu leisten, die ein Begriff von Wahrheit fordert, der nicht
dinghaft und abstrakt der bloßen Subjektivität gegenübersteht, sondern
sich entfaltet durch Kritik, kraft der wechselseitigen Vermittlung von
Subjekt und Objekt" (Adorno, Gesammelte Schriften 10.II, S. 583), wäre
also gesondert zu sprechen (was in Chemnitz geschehen soll); den Fakt,
dass es so ist, wirst du sicher nicht in Abrede stellen. Diese
wechselseitige (!!!) Vermittlung von Subjekt und Objekt muss in einer
Theorie der Information aber als Mindestes sichtbar werden.
So viel für heute. Viele Grüße, Hans-Gert
--
Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53
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