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Re: [ox] neue IKT & gesellschaftl. Entwicklung



Hi Stephan und Liste!

Danke für deine erhellende Darstellung. Ich will mich ein bisschen
einklinken.

3 months (118 days) ago Stephan Eissler wrote:
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#  Beispiel Schrift #
#####################
Durch die Erfindung der Schrift war erstmals die Übertragung von Informationen
über größere räumliche und zeitliche Distanzen hinweg möglich. Der Einfluss
dieser Erfindung auf die weitere gesellschaftliche Entwicklung ist kaum zu
überschätzen. [Fußnote 1] (wer sich dafür interessiert: Eine kurze Einführung
in das Thema liefern Goody/ Watt/ Gough 1986).

Ganz allgemein kann man zunächst sagen, dass die "Schrift-Technologie" zwei
"Potentiale" in sich birgt, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen:
(1) Schrift als Herrschaftsinstrument: durch die Schrift lässt sich die
Leistungsfähigkeit bei der Organisation größerer sozialer Einheiten
(bürokratische Verwaltungen gab es schon im frühen Ägypten; legendär wurde
auch die chinesischen Beamtenkaste - die Mandarine) deutlich verbessern,
weshalb man die Schrift als ein wichtiges Werkzeug zur Ausdehnung der
Herrschaft von Menschen über Menschen bezeichnen kann. [vgl. Fußnote 2]
(2) Das emanzipatorische Potential von Schrift: Durch die Schrift lassen sich
Sender und Empfänger von Kommunikation sowohl zeitlich als auch räumlich
voneinander trennen. Dadurch wird die Kontrolle über die Entstehung und
Verbreitung von herrschaftskritische Ideen erschwert (vgl. Fußn. 1).

Ja, das gilt für Schrift. Aber ich denke, dass bei der IKT-Technologie
Internet um noch viel mehr geht, als die Verbreitung
herrschaftskritischer Inhalte. Tatsächlich nutzen zwar die (neueren)
politischen Entitäten - Globalisierunsgegner z.B. - das Internet zur
Organisation, aber - zumindest im Oekonux-Kontext - scheint mir das
Potential *dieser* Nutzung des Internets doch eher marginal. M.a.W.:
Die Herrschaftskritik der Globalisierunsgegner wird nicht dadurch
wesentlich gefährlicher, dass sie jetzt über das Internet
kommunizieren. Das mag bei der Schrift / Druckverfahren anders gewesen
sein, aber das emanzipatorische Potential des Internet in dieser
Hinsicht ist nicht so überwältigend.

BTW: Habe ich einige Zeit vor Oekonux in just einem solchen Projekt
mitgearbeitet, wo "unterdrückte Information" zirkuliert wurde. Das
emanzipatorische Potential dieses Projekts hielt sich durchaus im
Rahmen...

In diesen beiden konkreten Ausprägungen der "Schrift-Technologie" kam das
Potential, das dieser Technologie ganz grundsätzlich inhärent ist (das
Potential als Herrschaftsinstrument sowie das emanzipatorische Potential) also
in geradezu gegensätzlicher Weise zur Geltung.  Als Folge davon stellten sich
den herrschenden Eliten des europäischen und der chinesischen Kulturraums ganz
 unterschiedliche Probleme und Herausforderungen, wenn es darum ging, ihre
Herrschaft zu sichern:
* Dort, wo das Erlernen der Kompetenz des Lesens und Schreibens (also
"Literalität") eine enorm hohe Investition darstellte, wie dies bei
Zeichenschriften der Fall ist, stellte bereits die Schrifttechnik an sich eine
ausreichend hohe Zugangsbarriere dar, die es der herrschenden Elite erheblich
erleichterte (a) ihr Herrschaftswissen gegenüber den Beherrschten zu schützen,
sowie (b) zu kontrollieren, welches Wissen von wem in Schriftform festgehalten
wurde und wer Zugang zu dem Niedergeschriebenen hatte (denn zu allen Zeiten
waren Häresien bzw. konkurrierende Ideologien gefährlich für herrschende
Eliten ?). Schrift wurde im Falle der Zeichenschrift also zum relativ
unproblematischen MITTEL ZUR KONSERVIERUNG VON HERRSCHAFTSSTRUKTUREN.
** Demgegenüber erfordert das Erlesen der Lese- und Schreibkompetenz bei
phonetischen Schrifttechniken einen vergleichsweise geringen Lernaufwand,
weshalb in diesem Fall alleine die Schrifttechnik noch keine ausreichende
Barriere darstellt, durch die sich Herrschaftswissen (das sich der Schrift
bedient) schützen lässt. Im Gegenteil: Je größer der prozentuale Anteil der
Personen in einer Gesellschaft, die Lese- und Schreibkompetenz besitzen, desto
eher stellt die Schrifttechnik ein EMANZIPATORISCHES POTENIAL dar (vgl. dazu
Fußnote 1), da es dann umso schwieriger zu kontrollieren war, wer was
schriftlich festhielt, und wer Zugang zu schriftlich festgehaltenen
Gedankengut hatte.
In Europa, wo die Schrift als solche noch keine ausreichenden  Zugangsbarriere
zu niedergeschriebenen Informationen darstellte, versuchten die herrschenden
Eliten (vor allem der römischen Kirche) lange Zeit den Zugang zu erschweren
und zu regulieren, indem Schriftkultur konsequent auf eine "tote" Sprache (das
Latein) beschränkt blieb, die strikt von den GESPROCHENEN Sprachen getrennt
war. Um zu verhindern, dass sich das emanzipatorische Potential der
phonetischen Schrift entfalten konnte, wurde also die zusätzliche Barriere
einer fremden (weil von niemandem im Alltag gesprochenen) Sprache einbebaut?

Das finde ich einen wichtigen Hinweis. Und Computer als zunehmend
ubiquitäre Einrichtung bilden zumindest mal die Voraussetzung dafür,
dass (irgend welche) emanzipatorischen Potentiale via Massennutzung
doch gehoben werden könnte. Und seit den graphischen Oberflächen kann
ja jedeR DeppIn mit einem Computer umgehen - die Zeit des Lateins ist
also vorbei...

Die Folgen dieser soziopolitischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen
muten gerade Heute wieder sehr aktuell an:
Die schwindende Kontrolle darüber, WAS für Informationen vervielfältigt wurden
und WER Zugang zu welchen Informationen bekam, führte zu einer zunehmenden
Machterosion der "alten Ordnung" mit der zentralen Stellung der römischen
Kirche - eine Entwicklung, die angesichts der Möglichkeiten, die die neue IKT
zur Rationalisierung und Modernisierung der kirchlichen Organisations- bzw.
Verwaltungsstrukturen bot, anfangs unterschätzt wurde. Dadurch so Giesecke
(1998:188ff) "blieb [es] den Benutzern, den Lesern, überlassen, sich
diejenigen Informationen auszusuchen, die sie für nützlich hielten. [...] Nur
weil sich dieses Prinzip faktisch 1485 schon unübersehbar etabliert hatte,
wurde der Ruf nach einer Präventivzensur laut. [...] Der Datenschutz begann
erst, nachdem das Kind schon längst in den Brunnen gefallen war. Obwohl es die
"Obrigkeit" durchaus nicht an Versuchen fehlen ließ, die
Informationsproduktion zu kontrollieren und eine Präventivzensur einzuführen,
blieb ihr Erfolg [...] gering. Faktisch hatte sich über Jahrzehnte hinweg ein
neues Prinzip für den Umgang mit Informationen durchgesetzt: [...] Das
Zurückhalten von Informationen, sei es durch Bücherzensur oder durch andere
Mechanismen, vertrug sich nicht mit dem "gemein nutz". Jeder Eingriff in die
Freiheit, Meinungen oder Informationen im Druck ausgehen zu lassen, bedurfte
schon im 15. Jahrhundert einer politischen Legitimation. Im Mittelalter war
die Sachlage gerade umgekehrt. Legitimationsbedürftig war jede breitere
Sozialisierung privater Gedanken. Die Beweislast hatte sich von den
Befürwortern der Veröffentlichung hin zu den Befürwortern der Zensur
verschoben. Auch dieser Prozess lässt sich nicht als eine Extrapolation, als
ein Mehr-vom-selben, sondern nur als eine Wende der Entwicklung verstehen."

Wenn du hier eine Analogie zu P2P meinst, dann finde ich da aber
fundamentale Unterschiede. Im historischen Fall wurde eine per se
politische Tätigkeit unterdrückt - die freie Meinungsäußerung. Bei
P2P-Netzen handelt es sich aber um alles andere als das. Schließlich
werden ja nicht die neuesten Flugblätter irgendwelcher libertären
Gruppen in den P2P-Netzen zirkuliert - was auch absolut überflüssig
wäre.

Jetzt könnte es sein, dass ich hier unhistorisch drauf gucke. Wenn ja,
würde ich um Erläuterung bitten.

#########
# Fazit #
#########
Ein Blick in die Geschichte zeigt also, dass unsere heutige RELATIV freie,
demokratische und auch sonst fortschrittliche Gesellschaft nur möglich wurde,
weil die Geschichte der Entwicklung von Informations- und
Kommunikationstechnologien durch folgende Aspekte geprägt wurde:  Durch eine
zunehmende Demokratisierung der Nutzung, sowie der Kontrolle und der
Weiterentwicklung von IKT.

Die Geschichte der IKT zeigt, dass die Einführung einer neuen IKT in eine
Gesellschaft IMMER auch ein subversives Potential mit sich brachte; dieses
subversive Potential war aus der Perspektive der herrschenden Eliten, die mit
einer neuen IKT konfrontiert wurden, zwangsläufig  IMMER illegitim und
gefährlich.

Hier würde mich halt interessieren, ob es immer nur die
herrschaftskritischen Inhalte waren, oder ob es noch anderes gegeben
hat. Auch hinsichtlich des Rests deines Fazits, dass ich hier mal dran
hängen lasse:

Ob eine neue IKT hinsichtlich der Herrschaftsstrukturen konservierend oder
subversiv (und damit emanzipierend) auf die weitere gesellschaftliche
Entwicklung wirkte, hing letztlich davon ab, ob es der jeweils herrschenden
Elite gelang, die neue IKT zu "domestizieren" (und damit die vermeintlich
illegitimen Auswüchse in der Verwendung der neuen IKT zu eliminieren) oder ob
es einer kritischen Masse an Mitgliedern der jeweiligen Gesellschaft gelang,
sich bei der Nutzung der neuen IKT der Kontrolle und dem
ReglementierungsINTERESSE der herrschenden Elite zu entziehen (von welchen
Faktoren dies abhängt habe ich oben am Beispiel der Schrift und des Buchdrucks
kurz angedeutet...).
Dies bedeutet aber, dass gesellschaftlicher Fortschritt langfristig nicht
unwesentlich davon abhängt, ob eine vermeintlich illegale Nutzung neuer IKT
durch die Obrigkeit geahndet werden kann, oder ob sich die illegale Nutzung
neuer IKT (etwa aufgrund der konkreten praktischen Umsetzung der Technologie -
s.o.) der Ahndung entziehen kann. Zweiteres führt zu einer Anpassung des
Rechtssystems an die neuen soziotechnischen Rahmenbedingungen und setzt die
herrschende Elite unter erheblichen Anpassungsdruck (und führt langfristig
meist zu ihrer Ablösung).
Diese Folgerung deckt sich auch weitgehend mit derzeitigen Entwicklungen im
Bereich digitaler IKT und den daraus resultierenden gesellschaftlichen
Konfliktpunkten:
Das subversive Potential digitaler IKT ist hier ja hinlänglich bekannt und
braucht daher hier nicht extra beschrieben werden. Die Möglichkeiten, die
digitale IKT bieten, kollidieren u.a. mit den Interessen des ökonomischen
Establishments und führen vor allem dort zu einer "illegalen" Nutzung, wo
geistige Eigentumsrechte verletzt werden. Daher besteht heute - ähnlich wie
bei früheren informationstechnischen Revolutionen - der Konflikt zwischen den
etablierten Interessen einer (global gesehen) kleinen Elite, die ein großes
Interesse daran haben, die neuen IKT zu "domestizieren" (d.h. die Möglichkeit
ihrer Nutzung in verschiedener Weise grundlegend einzuschränken und zu
kontrollieren) und dem Interesse einer breiten Allgemeinheit, die das
emanzipatorische Potential der neuen IKT möglichst Weitgehend ausschöpfen möchte...


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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