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Re: [ox] Re: Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hallo Hans-Gert, hallo Liste,

Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de> schrieb:

Hallo Stephan,

Stephan Eissler wrote:
DASS wir überhaupt in der Lage sind, diese heiligen Kriege zu führen, hängt
damit zusammen, dass wir uns - durch unsere Sozialisation - in Bezug auf
sinnlich (akustisch, visuell) wahrnehmbare Formen bereits in ausreichendem
Maße ähnliches Wissen angeignet haben. Dies versetzt und in die Lage,
miteinander zu kommunizieren und über Begriffe zu streiten.

Nein, und dafür ist gerade die hier geführte Diskussion wieder ein sehr 
praktisches Beispiel: Die Schärfung der Begriffe, die Bewertung von 
Erfahrung und damit die Konstituierung als (in SMn's Terminologie) 
individuelles Wissen geschieht *in* der Kommunikation. Allerdings muss 
man dabei vom "Schnappschuss-Denken" runter und die Prozesshaftigkeit, 
die gemeinsame Dynamik von individuellem Wissen, Begriffen, 
Kommunikation und Sozialisation zusammendenken. Agens dieser Dynamik 
sind "Akte gelingender Kommunikation", womit wir schon wieder bei 
Janichs Prämisse angekommen sind.

Hmm, dem würde ich doch grundsätzlich gar nicht widersprechen wollen.
Vielleicht war der Begriff Sozialisation unklar. Sozialisation ist für mich
vor allem Resultat 'sozialer Interaktion' - also von sozialem Handeln und
Kommunikation - und beinhaltet damit doch das, was du beschreibst. 


Was versprechen wir uns von dieser Diskussion zum Informationsbegriff? 
=> Als Minimalziel sicherlich, dass wir verstehen was andere auf der Liste
jeweils meinen, wenn sie "INFORMATION" schreiben oder sagen - auch wenn wir
ihr Verständnis nicht unbedingt teilen. 
=> Als Maximalziel , dass wir am Ende der Diskussion alle auf der Liste
weitgehend dieselben Denkinhalte mit dem Wort "INFORMATION" verbinden. 

Ja.

In beiden Fällen (in einem Fall mehr, im anderen weniger) hätte der Diskurs
(also die Kommunikation) dann dazu geführt, dass sich das Wissen der
Listenteilnehmer in bestimmten Bereichen einander angleicht.    

Nein, aus der Tatsache, dass "alle auf der Liste weitgehend dieselben 
Denkinhalte mit dem Wort 'INFORMATION' verbinden", folgt einzig, dass 
der Kontext der weiteren Diskussion geschärft wurde. Wie weit eine 
Annäherung oder gar Angleichung von individuellem Wissen erfolgt, steht 
auf einem ganz anderen Blatt.

Hier kommen wir des Pudels Kern vielleicht ein wenig näher. Könntest du mir
etwas genauer erklären, warum das für dich auf einem ganz anderen Blatt steht?
Aus meiner Perspektive stellt sich das jedenfalls so dar: 

Mal etwas flapsig gesagt ist für mich das "denken von DenkINHALTEN" im Grunde
schon Wissen. Und wenn die Listenteilnehmer zu einem früheren Zeitpunkt
UNTERSCHIEDLICHE Denkinhalte bei dem Wort 'INFORMATION' gedacht haben, nun
aber weitgehend die GLEICHEN Denkinhalte bei diesem Wort denken, dann bedeutet
dies für mich, dass sich das individuelle Wissen der Listenteilnehmer in einem
bestimmten Bereich jetzt einander ähnlicher ist, als es dies früher war. 

Und selbsverständlich würde für mich gerade DADURCH der Kontext der weiteren
Diskussion geschärft (in Bezug auf die Frage "Wissen- und/oder
Informationsgesellschaft"), dass wir nun alle auf der Liste weitgehend die
selben Denkinhalte denken, wenn wir das Wort 'INFORMATION' sehen oder hören
(WEIL wir eben über ein ausreichend ähnliches Wissen in Bezug auf den Begriff
'INFORMATION' haben). 


Für mich hängt die Frage, (1) ob etwas eine Information ist, und (2) was für
eine Information etwas ist, schlicht vom Bezugssystem ab:
Es macht bereits einen großen Unterschied, wenn man zwei verschiedene Menschen
(bzw. ihre kognitiven Systeme) als Bezugssysteme annimmt. Dabei handelt es
sich einerseits zwar um den gleichen Typus eines Bezugssystems, weshalb die
Reize/Signale auf die selbe Art und Weise prozessiert bzw. "verarbeitet"
werden, andererseits wurden jedoch beide kognitive Systeme im Laufe der Zeit
aufgrund unterschiedlicher externer Reize/Signale jeweils unterschiedlich
konfiguriert. 

Genau das ist der Input, den die Kommunikationspartner mitbringen und es 
grenzt doch schon an ein Wunder, dass die beiden bei so viel 
Unterschiedlichkeit doch "miteinander können". Hat ja 
entwicklungsgeschichtlich auch sehr lange gebraucht, bis es so weit war.

Stimmt, es grenzt schon an ein Wunder. Luhmann spricht in diesem Zusammenhang
von der Unwahrscheinlichkeit des Gelingens von Kommunikation, um dieses Wunder
zum Ausdruck zu bringen. 
Und dieses Wunder ist nur möglich, wenn wir bei aller Unterschiedlichkeit eine
kritische Menge an Gemeinsamkeiten (im Sinne von gleichem/ähnlichem Wissen)
mitbringen. Wir müssen beispielsweise nicht mit den gleichen Menschen geredet
haben oder die gleichen Bücher gelesen haben, damit wir in der Lage sind, uns
hier auf der Liste über die Bedeutung von Begriffen zu streiten. Aber es ist
unverzichtbar, dass wir beide durch die soziale Interaktion mit Menschen
sozialisiert worden sind, die die selbe Sprache gesprochen haben (bist du
unter Menschen aufgewachsen, die chinesisch sprechen, während ich unter
Menschen aufgewachsen bin, die deutsch sprechen, dann bedarf es eines sehr,
sehr großen Wunders...) und die uns die dieselbe Schrift beigebracht haben,
damit wir uns hier auf der Liste über Begriffe streiten können. 

Und um nochmal an das oben geschriebene anzuknüpfen: Auf der Grundlage eines
unverzichtbaren Mindestmaßes an gemeinsamem Wissen versuchen wir hier
diskursiv - und damit also selbstverständlich vermittels Kommunikation - die
Unterschiedlichkeit unseres Wissens systematisch zu verringern, um so
GEMEINSAM der Frage "Wissens- und/oder Informationsgesellschaft" näher zu kommen. 
 

Für Janichs Ansatz ist die Frage zentral, wie sich hier Kohärenz 
herstellt, ein intersubjektiver Kontext entsteht und in welchen 
Bewegungsformen er sich manifestiert und entwickelt. Das spielt sich 
aber auf einer anderen Abstraktionsebene ab, so wie ich bei einer 
Linux-Installation übers Netz auch nicht darüber nachdenke, dass da ein 
Netzprotokoll etc. drunter liegt und wie das funktioniert.

Damit wird deutlich, dass ich mich entweder fragen kann, 
(1)was alle diese Dinge gemeinsam haben, die für irgendein Bezugssystem eine
Information darstellen, oder 
(2) auf welche Weise etwas für einen bestimmten Typus eines Bezugssytems zur
Information werden kann; bzw. welcher Art die Beziehung zwischen einem
bestimmten Typus von Bezugssystem zu jenen Entitäten ist, die für dieses
Bezugssystem eine Information darstellt. 

Das ist ein statisches Bild. Janichs Ansatz insistiert darauf, hier 
statt des Begriffspaars Information - Bezugssystem eher Kommunikation - 
Kontext mit starker wechselseitig rückgekoppelter Dynamik zu verwenden: 
Kontext ermöglicht Kommunikation, (gelingende) Kommunikation modifiziert 
Kontext. Koevolution langwelliger (Kontext) und kurzwelliger 
(Kommunikation) Phänomene. Deswegen auch bei Fuchs-Kittowski der Fokus 
"... in kreativ-lernenden Organisationen". Das "Bezugssystem" ist selbst 
in einem dort präzisierten Sinne "lernend".

Ja, das ist ein statisches Bild. Ein solches halte ich bei der Klärung mancher
Fragen für sehr hilfreich bzw. heuristisch wertvoll. 
Aber ist stimme völlig mit dir darin überein, dass 
(1)der Begriff des "Kontextes" eine wichtige Rolle spielt und wir es 
(2) wenn wir von Kommunikation sprechen, mit Prozessen mit starker
wechselseitiger rückgekoppelter Dynamik zu tun haben. 

Gänzlich unbescheiden möchte ich aber mal behaupten, dass ich die von dir
eingeforderten Begrifflichkeiten einschließlich des Aspekts der
Prozesshaftigkeit ("Kontext ermöglicht Kommunikation, (gelingende)
Kommunikation modifiziert Kontext"...) wesentlich systematischer ausarbeite
und dabei ein wesentlich leistungsfähigeres (weil für die verschiedenen
Anwendungsbereiche der Sozialwissenschaften besser skalierbares) Konzept
entwerfe, als ich dies bei Janich sehe. 
[Wen es interessiert: ein erstes Konzept (Arbeitsversion 0.5) meiner
begrifflichen Ausarbeitung von "Wissen" und "Information" gibt es online unter
http://www.wissen-schaft.org/public/Entwuerfe/Wissen_Version0.5.pdf relevant
in unserem Zusammenhang ist dabei erst mal nur KAPITEL 3]


Daher bin ich (im Übrigen mit dem Großteil der Techniksoziologie) der Meinung,
dass man von den Möglichkeiten, die eine neue Technologie bietet, noch lange
nicht auf deren letztendlichen gesellschaftlichen Auswirkungen (und damit auf
eine daraus resultierende Gesellschaftsform) schließen kann.  
Mir drängt sich hier der Vergleich mit dem Begriff der Industriegesellschaft
bzw. des Industriezeitalters auf, der ja durchaus seine Berechtigung hat, und
im Grunde vor allem auf die Technologie und ihre ALLGEMEINEN sozioökonomische
Konsequenzen rekurriert. Dabei lässt der Begriff der Industriegesellschaft
aber weitgehend offen, wie sich Gesellschaft letztlich zur technischer
Entwicklung verhält: Neben der kapitalistischen Gesellschaftsform schien ja
eine kommunistische durchaus denkbar; ...


[...]
 Das von Käther 

http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/162/162kaether.pdf

beschriebene Phänomen

<cite>Unsere Zeit bietet wie keine andere eine gewaltige Sammlung von 
Wissen in Textform dar.  Die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit 
wird auf CD-Roms, auf Internetseiten, in Antiquariaten und im Buchhandel 
dargeboten, alles ist gut vernetzt und so leicht zugänglich, daß es eine 
Schande wäre, dieses Material nicht wach und offenen Sinnes zu 
gebrauchen.</cite>

Aber so lange dieses Material nur in Textform auf der CD oder in den
Antiquariaten existiert ist es nach meinem Verständnis kein Wissen, auch kein
"Wissen in Textform" sondern nichts weiter als Text. 
Und genau deshalb wäre es ja auch eine Schande, dieses Material nicht zu
gebrauchen, denn durch Gebrauch der Texte lässt sich Wissen '(re-)produzieren
(das es als solches für mich nur in den Köpfen der Individuen gibt). 
Um zu veranschaulichen, auf was ich hinaus will: Man stelle sich einfach mal
den extremen Fall vor, dass plötzlich ALLE Menschen auf der Welt das Lesen
komplett einstellen würden - alle von nun an einfach NICHTS mehr lesen
würden... Es wäre nur eine Frage der Zeit (vermutlich höchstens 3
Generationen), bis sich das verfügbare Wissen auf einen Bruchteil des heute
verfügbaren Wissens verringert hätte. Und zwar auch dann, wenn es all die
tollen Bibliotheken, Antiquariate, CDs usw. mit all ihren wunderbaren
Ansammlungen von Texten noch immer gäbe. Einfach deshalb, weil sie nichts
anderes sind als Text.

hat in den letzten 5 Jahren eine exponentielle Dynamik angenommen.

Gerade weil dies so ist, lege ich auf den gerade gebrachten Hinweis ja so
großen Wert. Denn diese exponentielle Dynamik schafft doch auch enorme
Probleme: Gerade aufgrund der exponentiell wachsenden Menge an Texten, auf die
Mensch heute grundsätzlich zugreifen kann, verringert sich doch 
auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein Text von einer kritschen Masse von
Lesern überhaupt wahrgenommen wird, und der Text damit eine soziale Relevanz
entfalten kann. Denn mit dem Text alleine ist es überhaupt nicht getan - ein
Text, den außer dem Verfasser niemals jemand lesen wird, ist so gut wie nicht
existent! Daher kommt hier noch ein weiterer Begriff ins Spiel: Der Begriff
der Aufmerksamkeit, der bei meiner Ausarbeitung der begrifflichen Konzepte
"Information" und "Wissen" ebenfalls eine tragende Rolle spielt. Vermutlich
bezeichne ich mit dem Begriff der Aufmerksamkeit das, was du meinst, wenn du
davon schreibst, Texte "wach und offenen Sinnes zu gebrauchen"...


Daher halte ich es für sehr sinnvoll in Analogie zur 'Industriegesellschaft
bzw. dem Industriezeitalter' von der 'Informationsgesellschaft bzw. dem
Informationszeitalter' zu sprechen. 
Eine mögliche Ausprägung einer Informationsgesellschaft wäre für mich dann die
Wissensgesellschaft (oder in einer extremen Ausprägung der Wissensgesellschaft
eben auch die GPL-Gesellschaft). Als Gegenpol zur Wissensgesellschaft wäre für
mich eine andere mögliche Ausprägung von Informationsgesellschaft das, was ich
in einem früheren Vortrag (wen's interessiert:
http://www.wissen-schaft.org/public/Vortraege/Eissler(2001).pdf) mal
"digitalen Kapitalismus" bzw. "digitalen Merkantilismus" genannt habe. 

Insofern würde ich stark dahin tendieren von "Wissens- UND
Informationsgesellschaft" zu reden, anstatt von "Wissens- ODER
Informationsgesellschaft".

und Kompetenz- und Vorsorge- und Kommunikations- und nachhaltige und 
ökologische und freie Gesellschaft. Jedes dieser xy beschreibt eine 
Dimension der Änderungen, die heute anstehen. Einige dieser Dimensionen 
habe ich auf der 1. Oekonux-Konferenz angesprochen, siehe 
http://www.opentheory.org/mtb-d-thesen

Von einer solchen inflationären Kreation von "Bindestrichgesellschaften" 
halte ich recht wenig. Meine Meinung dazu habe ich ja in einer meiner 
ersten längeren Mails zum Thema "Wissens- und/oder Informationsgesellschaft"
grob umrissen. 

[...]
Kurz, es geht um Wissensgesellschaft, wenn der 
Wissensbegriff entsprechend gefasst ist. Wissenssozialisation wird zur 
Leitsozialisation und die Gesellschaft strukturiert sich entsprechend 
um. Die alte, um die Geldform aufgestellte Leitsozialisierung setzt dem 
natürlich Widerstand entgegen.

"Wissenssozialisation" halte ich für eine sehr problematische Wortschöpfung,
da die beiden Begriffe "Wissen" und "Sozialisation" von ihrer Bedeutung her
notwendigerweise eh schon aufeinander verweisen - klingt daher zumindest
pleonastisch... 
Allerdings glaube ich zu verstehen, was du mit "Wissenssozialisation als
Leitsozialisatin" meinst. Ich vermute, dass das gar nicht sooo weit weg von
dem ist, was ich mit "strukturdominanter Ressource" sagen möchte.  

schönen Gruß
Stephan



-- 
Stephan Eissler
Institut für Politikwissenschaft
Lehrstuhl für politische Wirtschaftslehre
Melanchtonstraße 36
72074 Tübingen
Telefon 07071-309124
http://www.wissen-schaft.org
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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