Re: [ox] Re: Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?
- From: Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Tue, 02 Aug 2005 11:58:55 +0200
Hallo allerseits,
mit der Webseite
http://de.wiki.oekonux.org/Oekonux/Debatten/WissenInformation steht nun
ein weiteres Diskurselement zur Verfügung, von dem ich auch durch
Querverweise Gebrauch mache. Insbesondere (ein_Kuerzel) ist ein
Literaturverweis, der dort aufgelöst werden kann. So jedenfalls verstehe
ich den Sinn des Wiki.
NB: Das mit der Mailbenachrichtigung funktioniert auch. Fein. Habe gerade
> [OekonuxWiki] Update of "Oekonux/Debatten/WissenInformation" by
StephanEissler
erhalten. Dazu aber später.
Stephan Eissler wrote:
SE: In beiden Fällen (in einem Fall mehr, im anderen weniger) hätte der Diskurs
(also die Kommunikation) dann dazu geführt, dass sich das Wissen der
Listenteilnehmer in bestimmten Bereichen einander angleicht.
HGG: Nein, aus der Tatsache, dass "alle auf der Liste weitgehend dieselben
Denkinhalte mit dem Wort 'INFORMATION' verbinden", folgt einzig, dass
der Kontext der weiteren Diskussion geschärft wurde. Wie weit eine
Annäherung oder gar Angleichung von individuellem Wissen erfolgt, steht
auf einem ganz anderen Blatt.
Hier kommen wir des Pudels Kern vielleicht ein wenig näher. Könntest du mir
etwas genauer erklären, warum das für dich auf einem ganz anderen Blatt steht?
Aus meiner Perspektive stellt sich das jedenfalls so dar:
Mal etwas flapsig gesagt ist für mich das "denken von DenkINHALTEN" im Grunde
schon Wissen. Und wenn die Listenteilnehmer zu einem früheren Zeitpunkt
UNTERSCHIEDLICHE Denkinhalte bei dem Wort 'INFORMATION' gedacht haben, nun
aber weitgehend die GLEICHEN Denkinhalte bei diesem Wort denken, dann bedeutet
dies für mich, dass sich das individuelle Wissen der Listenteilnehmer in einem
bestimmten Bereich jetzt einander ähnlicher ist, als es dies früher war.
Die scheinbare Kohärenz auch der Inhalte hier hat schlicht den Grund,
dass wir uns überhaupt erst einmal des "state of the art" versichern.
Das ginge natürlich auch einfacher, wenn meinem Rat gefolgt und ein-zwei
einschlägige Paper (gelesen und) als Grundlage der Diskussion anerkannt
worden wären. Aus irgendwelchen psychologischen Gründen (das ans Licht
der "Bewusstheit" zu zerren hätte auch mit dem Informationsthema zu tun)
wurde dieser naheliegende Weg aber auf der Liste abgewählt. Dass auch
der mühsamere Weg beim wohlfeilen selben Skelett der semantischen
Untersetzung von Begrifflichkeit (also letztendlich bei (Klemm))
rauskommt wie der erste wundert dich hoffentlich nicht wirklich (du
würdest sonst nicht nur den heutigen Philosophen ein Armutszeugnis
ausstellen). Insofern ein wenig aussagekräftiges, also schlechtes
Beispiel. Offensichtlich gibt es "lernende" und "explorative" Diskurse.
Oder in Bildern des "Zauberlehrlings": Es gibt Diskurse der Meister
untereinander, Meister-Lehrlings-Diskurse und auch die der
Zauberlehrlinge untereinander. Deren jeweilige Spezifik (welcher
"Unterschied hier einen Unterschied macht") wäre zu ergründen. Ich
schreibe dies unbeschadet der Lanze, die ich anderenorts fürs
Dilettieren gebrochen habe.
Gänzlich unbescheiden möchte ich aber mal behaupten, dass ich die von dir
eingeforderten Begrifflichkeiten einschließlich des Aspekts der
Prozesshaftigkeit ("Kontext ermöglicht Kommunikation, (gelingende)
Kommunikation modifiziert Kontext"...) wesentlich systematischer ausarbeite
und dabei ein wesentlich leistungsfähigeres (weil für die verschiedenen
Anwendungsbereiche der Sozialwissenschaften besser skalierbares) Konzept
entwerfe, als ich dies bei Janich sehe.
Hast du Janich im Original gelesen? Ich gebe freimütig zu - ich nicht.
Geht das, was du da "gänzlich unbescheiden" anmerkst, über
Standardaufrisse wie (Capurro-95) oder (Fuchs-Kittowski) hinaus oder
setzt sich mit deren Argumentation wenigstens auseinander? Alte Fragen
meinerseits an dich.
<cite>Unsere Zeit bietet wie keine andere eine gewaltige Sammlung von
Wissen in Textform dar. Die gesamte Geistesgeschichte der Menschheit
wird auf CD-Roms, auf Internetseiten, in Antiquariaten und im Buchhandel
dargeboten, alles ist gut vernetzt und so leicht zugänglich, daß es eine
Schande wäre, dieses Material nicht wach und offenen Sinnes zu
gebrauchen.</cite>
Aber so lange dieses Material nur in Textform auf der CD oder in den
Antiquariaten existiert ist es nach meinem Verständnis kein Wissen, auch kein
"Wissen in Textform" sondern nichts weiter als Text.
Stefan Merten hat einen solchen Begriff inzwischen wenigstens zu
"individuellem Wissen" relativiert und ich ihm geantwortet, dass für mich
Wissen = Erfahrungsschatz der Menschheit
ist. Insbesondere auch derjenigen Menschen, die längst tot sind, füge
ich hier sicherheitshalber ergänzend hinzu.
Auch wenn du das nicht als Wissen bezeichnen möchtest, so brauchen wir
für diese Semantik doch einen Begriff. Eine Maschine würde leicht einen
generieren, vielleicht "B485etROvyFho", und dann alles, was wir dieser
ID zuornden, fein säuberlich unter dieser abspeichern können. Aber
vielleicht sollten wir uns doch eher auf "humane" Formen einigen, in
denen der Bezeichner selbst auch immer was vom Bezeichneten enthält
(siehe z.B. Java Coding Standards). Das bedeutet aber Streit, denn dann
müssen wir uns einigen, ob wir den Bezeichner "Wissen" in meinem oder im
Sinne von SMn und SE gebrauchen wollen. Du wirst verstehen, dass einer
"demokratischen" Entscheidung dieser Frage nicht nur mein Ego im Wege
steht.
Es wäre nur eine Frage der Zeit (vermutlich höchstens 3
Generationen), bis sich das verfügbare Wissen auf einen Bruchteil des
heute verfügbaren Wissens verringert hätte. Und zwar auch dann, wenn
es all die tollen Bibliotheken, Antiquariate, CDs usw. mit all ihren
wunderbaren Ansammlungen von Texten noch immer gäbe. Einfach deshalb,
weil sie nichts anderes sind als Text.
Ja, deshalb heißt diese Form des Wissens bei mit "totes W." im Gegensatz
zum "lebendigen W." (bei dir: "verfügbares W."). Aber trotzdem sind
*beides* Wissensformen. Es ist ja nicht der Verlust des Wissens
eingetreten, sondern der des _Kontexts_. Und der lässt sich - mit
einiger Mühe durchaus auch nach 30 Generationen rekonstruieren.
Gerade weil dies so ist, lege ich auf den gerade gebrachten Hinweis ja so
großen Wert. Denn diese exponentielle Dynamik schafft doch auch enorme
Probleme: Gerade aufgrund der exponentiell wachsenden Menge an Texten, auf die
Mensch heute grundsätzlich zugreifen kann, verringert sich doch
auch die Wahrscheinlichkeit, dass ein Text von einer kritschen Masse von
Lesern überhaupt wahrgenommen wird ...
Nein, das heißt nur, dass nicht jeder alles "wissen" kann (und will).
Aber das ist nicht neu, sondern die Quelle von Arbeitsteilung und
Spezialisierung. Neu ist allein die Geschwindigkeit, in der "the broom
of the sorcerer's apprentice keeps sweeping, and the water continues to
rise" (Moglen).
SMn: Insofern würde ich stark dahin tendieren von "Wissens- UND
Informationsgesellschaft" zu reden, anstatt von "Wissens- ODER
Informationsgesellschaft".
HGG: und Kompetenz- und Vorsorge- und Kommunikations- und nachhaltige und
ökologische und freie Gesellschaft. Jedes dieser xy beschreibt eine
Dimension der Änderungen, die heute anstehen. Einige dieser Dimensionen
habe ich auf der 1. Oekonux-Konferenz angesprochen, siehe
http://www.opentheory.org/mtb-d-thesen
Von einer solchen inflationären Kreation von "Bindestrichgesellschaften"
halte ich recht wenig. Meine Meinung dazu habe ich ja in einer meiner
ersten längeren Mails zum Thema "Wissens- und/oder Informationsgesellschaft"
grob umrissen.
Insofern SMn mit dem UND der eigentlichen Fragestellung ausgewichen ist
stimme ich dir vollkommen zu. Dass mein Favorit "Wissensgesellschaft"
lautet hatte ich begründet:
Kurz, es geht um Wissensgesellschaft, wenn der Wissensbegriff
entsprechend gefasst ist. Wissenssozialisation wird zur
Leitsozialisation und die Gesellschaft strukturiert sich
entsprechend um. Die alte, um die Geldform aufgestellte
Leitsozialisierung setzt dem natürlich Widerstand entgegen.
"Wissenssozialisation" halte ich für eine sehr problematische Wortschöpfung,
Dein Problem verschwindet hoffentlich beim Wissensbegriff in meiner
Semantik.
Allerdings glaube ich zu verstehen, was du mit "Wissenssozialisation als
Leitsozialisatin" meinst. Ich vermute, dass das gar nicht sooo weit weg von
dem ist, was ich mit "strukturdominanter Ressource" sagen möchte.
was nur davon zeugt, dass die Begriffsbildungskette im
"Ontogenese-Modus" den Weg Pragmatik -> Semantik -> Syntax (also
Phänomen -> Bedeutung -> Bezeichnung) läuft, während es im
"Phylogenese-Modus" (aka "Lernen") meist andersherum ist.
Viele Grüße, Hans-Gert
--
Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53
tel. : [PHONE NUMBER REMOVED]
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