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Re: [ox] Autonomiebegriff (was: Weltliche Religion)



Hallo Stefan,

Am Dienstag, 23. Mai 2006 23:39 schrieb Stefan Seefeld:
Mich w"urde interessieren, wie Du das Verh"altnis zwischen Individuen
und Gesellschaft charakterisierst. Ich habe den Eindruck, Deine
Individuen sind a priori autonom und werden erst zwangs-vergesellschaftet
durch mehr oder weniger autorit"are Eingriffe in ihre Autonomie.

Jeder Mensch kommt a priori autonom - in diesem Falle als autonom lebens-
fähig! - zur Welt. Diese Autonomie der eigenen Existenz, getrennt von der 
Mutter und allen anderen Menschen, beinhaltet bestimmte Bedürfnisse nach
Kontakt, Nähe, Ansprache, eine rudimentäre Sexualität und die Fähigkeit,
sich empathisch in andere einzufühlen sowie eine ganze Reihe eigener Ge-
fühle. Die Autonomie der eigenen Existenz ist im Säuglingsalter geprägt von 
unmittelbarer Gegenwart, in der erst Jahre später Morgen oder nächste
Woche eine Bedeutung erhalten. Gefühle und Bedürfnisse stellen sich da-
her unmittelbar und können nicht auf später vertagt werden.

In autoritären Gesellschaften trifft der Säugling auf von der Notwendigkeit
einer Pädagogik überzeugte Eltern. Diese sind häufig überzeugt, ihr Kind nicht
zu sehr verwöhnen zu dürfen, indem sie jedes mal, wenn ihr Kind schreit,
seinem Schreien nachgeben. Das Gerücht, Säuglinge würden vielfach sogar
grundlos schreien, findet sich sogar in mancher moderner Erziehungsfibel.

Oft beruhigen sie sich damit, ihren Säugling gerade vor 10 Minuten frisch
gewickelt zu haben, seinem augenblicklichen Wimmern und Schreien könne
also kein wirkliches Bedürfnis zugrunde liegen. Indem sich Eltern in dieser
Weise beruhigen, stellen sie ihre Wahrnehmung der Bedürfnisse des Säug-
lings über die Wahrnehmung seiner Bedürfnisse durch den Säugling selbst. 
Dieser lernt, daß seine Bedürfnisse nur dann Befriedigung erlangen, wenn 
sie in die von seinen Eltern aufgestellte Ordnung passen, sich äußern, wenn
diese gewillt sind, sich dem Säugling zuzuwenden. Äußern sich diese zu 
einem anderen unpassenden Zeitpunkt, wenn die dem Säugling fremde Ord-
nung keine Zuwendung seiner Eltern vorsieht, wird er mit seinen drängenden,
nicht zu vertagenden Bedürfnissen sich selbst überlassen. So lernt er früh,
wie wenig diese dem Säugling fremde Ordnung seiner Eltern - oder anderen
Erziehungsberechtigten - durch eigene Anstrengung (Wimmern, Schreien)
zu beeinflußen ist.

Der Säugling lernt, Angst vor der eigenen Lebendigkeit zu entwickeln, eben
weil seine eigenen Bedürfnisse ihn in eine tiefe Krise schicken, immer dann,
wenn sie aufgrund der Ordnung seiner Eltern keine Befriedigung erfahren,
er jedoch andererseits noch nicht hoffen kann, sie morgen oder in drei
Wochen befriedigt zu bekommen. Allein die Unterwerfung und Identifikation
mit dieser ihm fremden Ordnung seiner Eltern verspricht Lösung seiner
Krise, weil nur dort einige Bedürfnisse Befriedigung erfahren. Ferner lernt
er, daß es über sich selbst nichts zu lernen gibt, sondern das Lernen sich
darin erschöpft, auf äußere Reize die erwarteten oder vermutlich erwarteten
Reaktionen zu liefern. Später lernt er, sich selbst "durch die Augen" seiner
Eltern zu betrachten.

Freiheit ist nicht länger handeln in Aufrichtigkeit zur eigenen Lebendigkeit,
sondern Ungehorsam gegen die Ordnung der Eltern, mit der man sich
identifiziert, Ungehorsam gegen äußere Regeln - unabhängig davon, ob
sie von der Gesellschaft auferlegt oder mit anderen selbst gesetzt sind.

Für die militärische Struktur der Gesellschaft (vergl. die Ableitung der 
Firmenstruktur aus dem Militär) ist die Beseitigung des empathischen
Einfühlens in andere Menschen durch die Angstbesetzung der eigenen
Lebendigkeit wesentlich, um andere Menschen ohne Mitleid töten zu kön-
nen. Für den Kapitalismus ist einmal die Identifikation mit einer äußeren
Ordnung als auch die Gewöhnung an einen unbedingten Gehorsam den
äußeren Autoritäten gegenüber wesentlich. Je mehr die eigene Lebendigkeit
Furcht auslöst, um so stärker kann nur der äußere Warenmarkt, der Er-
werb von Dingen und schließlich der Wechsel der Dinge oder Ereignisse
selbst Quelle des Gefühles, am Leben zu sein, werden.  

Jeder Säugling braucht Kontakt, um durch diesen Kontakt seine Gehirn-
strukturen zu entwickeln, benötigt andere Menschen und Gesellschaft.
In dem Maße, wie die Gesellschaft uns alle schon als Säuglinge und Klein-
kinder folterte, indem sie uns diesen Kontakt mehr oder weniger vorent-
halten hat, uns im Kinderbettchen, im Laufstall und Kinderwagen isolierte,
brachte sie uns um die Erfahrung wirklicher Gesellschaft. Wir lernten,
uns lästig zu machen, uns anderen aufzudrängen, sie durch unsere
Macht, sie zu manipulieren, dazu zu zwingen, uns ihre Aufmerksamkeit
zu schenken. Hinter der Fassade der autoritären Gesellschaft tobt der
Kampf aller gegen alle, in welchem wir in Wirklichkeit allein stehen, an-
dere nur als Konkurrenz wahrnehmen und die Gesellschaft - all ihrer
Fetische entkleidet - in gegeneinander streitende Einzelkämpfer zerfällt.

Frundschaftliche Grüsse,
Jacob

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