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Re: [ox] Weltliche Religion



Am Sonntag, 25. Juni 2006 04:25 schrieb Stefan Seefeld:
bei Dir scheint das Universum selbst erst mit der Geburt eines Kindes
anzufangen. Das Kind ist a priori gesund, und wird dann durch "ausseren
Einfluss gest"ort, um damit eine kranke Gesellschaft am Leben zu erhalten.

Dieses Bild finde ich sehr unbefriedigend. Weder lieferst Du Erkl"arungen
daf"ur, warum das alles so l"auft, noch, was sich (beziehungsweise genauer:
was *wir*) "andern k"onnte(n), und wie.

Stefan,

du willst von mir hören, daß die Gesellschaft dem Menschen voraus 
geht, nicht der Mensch der Gesellschaft. Diese Antwort kann ich Dir
nicht geben, da sie aufgrund meiner gesamten Erfahrung mit sehr
großer Wahrscheinlichkeit falsch ist.

Das Universum beginnt nicht mit der Geburt eines Kindes. Vielmehr
hat sich vor tausenden von Jahren eine nachhaltige Störung in die
Beziehung zwischen Menschen und ihren Kleinkindern in autoritären
Gesellschaften wie der unseren eingeschlichen. Seit mindestens zwei
Jahrtausenden wird diese Kommunikationsströrung tradiert von 
einer Generation zur nächsten Generation weitergegeben. Dies 
stellte schon S. Freud in seinen soziologischen Texten fest. Ob es für
diese Störung einen Anlaß oder Überlebensvorteil gab, entzieht sich
unserer Kenntnis, da schon die frühen europäischen Kulturformen
offenbar von dieser Störung beeinflußt waren.

Durch die Reproduktion dieser Störung entsteht der Eindruck, als
entstände sie jedes Mal aufs neue in der Erziehungssituation in autori-
tären Gesellschaften. Doch dieser Eindruck ist falsch, da ja die Er-
zieher selbst schon ehemalige Erzogene sind, die zurück in der histori-
schen  Generationenfolge von der jeweils vorhergehenden Generation
einer ähnlichen Erziehungssituation ausgesetzt wurden. Schon in den
Texten des 18. Jahrhunderts und früher taucht der Begriff des tyran-
nischen Kindes auf, deren Willen zu brechen ist, um eine Identifikation
mit einer äußeren Ordnung durchzusetzen. Welche Werte je nach
Zeitalter vermittelt werden, ist zweitrangig, solange sich am Brechen
des kindlichen Willens, an einer eigenen Sicht seiner Gefühle und Be-
dürfnisse festzuhalten und sich nicht mit der Sicht anderer seiner
eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu identifizieren, immer die gleiche
bleibt.

Die Störung führt zur Entwicklung von Persönlichkeiten, die ein Be-
dürfnis nach Führung durch äußere Werte, Ordnungsvorstellungen
und Ideologien entwickeln, die ihnen die Last der Freiheit, selbst zu
denken und zu entscheiden, abnehmen. Persönlichkeiten, die einem
äußeren Führer nachlaufen, sofern dieser ihnen eine ähnliche Ver-
achtung entgegenbringt wie ihre frühkindlichen Erzieher ihnen als
Säuglinge gegenüber, angeblich besser über ihre Bedürfnisse Be-
scheid zu wissen als die Betroffenen selbst. Wieder und wieder
gründeten die in dieser Weise geprägten Persönlichkeiten in den
letzten hundert Generationen Institutionen aller Art in der Produktion
wie im gesellschaftlichen Leben, die dieses Bedürfnis nach Führung
und Anleitung befriedigten - seien dies Königreiche, Milizen oder
Militärverbande, Staaten oder Verwaltungshierarchien in der Pro-
duktion oder der Verwaltung.

Die Störung bringt des weiteren Persönlichkeiten hervor, die aus
Furcht vor ihrer frühkindlichen Lebendigkeit ein mehr oder weniger
ausgeprägtes Bedürfnis nach Macht, eigener Wichtigkeit und Be-
deutung als Gegenteil ihrer angstbesetzten frühkindlichen Ohn-
macht und Hilflosigkeit entwickeln. Nur Macht über andere ver-
spricht, die gefürchtete eigene Hilflosigkeit abzuwehren. Bietet sich
die Gelegenheit, Macht über andere oder größere Bedeutung in den
Augen anderer zu erlangen, so ist jedes Mittel - von eigener Leistung
bis hin zum plumpen Betrug - recht, dieses Ziel zu erreichen. Das
Angebot an Hierarchien und Aufstiegschancen in der Arbeitswelt,
in den TV-Shows, im Sport und in den anderen Medien bietet dafür 
reichlich Gelegenheit.

Forts. folgt

Gruss,
Jacob
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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