Message 11979 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT11876 Message: 15/32 L5 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Re: "Kapitalismus als pubertäre Form"



Hallo Jobst, hallo alle,

Zitat von Jobst Quis <wuwei nadir.org>:
Als Unsinn  erscheint dir die These, dass "Sklaverei eine pubertäre Form
der
Freiheit" ist, nur deshalb, weil du dabei an Freiheit für die Sklaven
denkst.

Meta-Beobachtung: ganz egal, wie absurd eine These, auf [ox] wird sich immer
jemand finden, der sie verteidigt :-)

Denk doch mal an die Freiheit der Sklavenhalter, und die These  wird in
sich
konsequent und stimmig. Die heutigen Sklavenhalter haben mindestens
denselben
Nutzen durch die Sklaven wie früher, dabei aber viel mehr Freiheit. Sie
sind
frei von diesen schrecklichen Begriffen, keiner nennt sie mehr
Sklavenhalter
und die wenigsten Sklaven erkennen sich als solche. Sie sind frei vom
schlechten Gewissen, sie müssen nicht mehr den Umgang mit der Peitsche
und
andere direkte Herrschaftstechniken lernen, sie müssen ihre Sklaven nicht
mehr sehen, sie brauchen sie nicht einmal zu kennen.

Die Sklaverei hat sich beim Erwachsenwerden entpersönlicht, ist zum
allgegenwärtigen, aber undurchschaubaren System geworden und nennt sich
jetzt
Wirtschaft. Die Sklaven haben gelernt, sich selbst zu beherrschen
(gegenseitig und jeder für sich) und entlasten dadurch die Nutznießer der
Herrschaft von der undankbaren Aufgabe des Herrschens. Diese
Selbstbeherrschung  (das zivilisatorische Moment) ist genau der
Unterschied
zwischen Pubertierenden und Erwachsenen, deshalb find ich die These
garnicht
so unsinnig.

Mir scheint, du vertritts die These, dass offene Sklaverei eine pubertäre
Form der sehr viel subtileren Ausbeutung ist, die heute praktiziert wird
(und die ihrerseits möglicherweise einen Freiheitszuwachs für die
Ausbeutenden bedeutet). Kapitalismus nur als Ausbeutungssystem zu
begreifen, greift aber viel zu kurz, zumal diejenigen, die heute am meisten
unter dem Kapitalismus leiden, ja nicht die Ausgebeuteten, sondern vielmehr
die Nicht-(mehr-)Ausgebeutenden sind, die nicht "gebraucht" werden und
keine Erwerbsarbeit mehr finden können. Innerhalb des Kapitalismus ist es
normalerweise (von besonders schlimmen Arbeitsverhältnissen abgesehen)
tatsächlich angenehmer, als Erwerbsarbeiter/in "ausgebeutet" zu werden (d.h.
für andere Mehrwert zu generieren) als nicht "gebraucht" zu werden und
deshalb (mangels Kaufkraft) auf die Befriedigung vieler materieller
Bedürfnisse verzichten zu müssen.

Die These, dass der Kapitalismus tatsächlich zu einem Freiheitszuwachs für
die "ausbeutenden" Kapitalist/innen führt, ist im Übrigen auch
fragwürdig, weil ja ironischerweise die kapitalistische Arbeitsideologie
mittlerweile die gesamte Gesellschaft erfasst hat. Die frühere "leisure
class", die sich auf Kosten der für sie schaffenden Lohnarbeiter/innen ein
schönes Leben frei von Arbeit und Mühsal macht, gibt es heute ja praktisch
nicht mehr, da der Arbeitswahn auch die Kapitalist/innen selbst in Atem
hält.

Wenn du von freier Gesellschaft redest, meinst du damit vermutlich eine
Gesellschaft, in der alle Menschen frei sind. Du solltest dir aber
darüber im
Klaren sein, daß nicht jeder, der auch diesen Begriff benutzt, dasselbe
damit
meint. Ich hab mich lange gewundert, warum sich ausgerechnet die
reaktionärsten Bundesländer Freistaat nennen. Bis mir in direkter
Auseinandersetzung mit einem dieser Freistaaten die Erkenntnis kam, daß
Freistaat ja nur heißt, daß der Staat frei ist, daß er sich jede Menge
Freiheiten gegenüber den Menschen in seinem Gebiet herausnimmt.

Klar, gerade die Begriffe "frei" und "Freiheit" sind natürlich heiß umkämpft
und werden z.B. von FDP und Wirtschaftsliberalen im Sinne von "die Freiheit
der Wirtschaft/Unternehmen, auf Belange und Wünsche der Menschen keine
Rücksicht nehmen zu müssen" genutzt (d.h. Freiheit für einzelne, die
Freiheit anderer ignorieren und negieren zu können). Ich werfe HGG ja auch
nicht vor, dass er "Freie Gesellschaft" als Euphemismus für den modernen
Kapitalismus ("Postfordismus") vorwendet, ich weise nur darauf hin, dass er
es tut, da er ja nicht offen zu dieser seltsamen (IMHO) Verwendung steht,
sondern sie durch seinen unverständlichen Jargon verschleiert.

IMHO bringt es aber nichts, umkämpfte Begriffe wie "Freiheit" und "Rechte"
aufzugeben, nur weil sie oft auf fragwürdige oder irreführende Weise
gebraucht werden. Langfristig riskierst du damit, alle positiv besetzten
Begriffe aus der Hand zu geben, und deine Ersatzbegriffe sind ja keineswegs
davor gefeit, auf ähnliche Weise instrumentalisiert zu werden.

Ein Grund für mich, die "Freiheit von der Gesellschaft" gegenüber der
"Freien Gesellschaft" zu bevorzugen.

Ohne die Gesellschaft anderer Menschen zu leben, ist aber nicht möglich oder
macht zumindest keinen Spaß. Da es ohne Gesellschaft nicht geht, sollte sie
auch frei sein.

Ciao
Christian

-- 
Freie Gesellschaft: http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Hauptseite
--
Resist much. Obey little.
        -- Walt Whitman

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT11876 Message: 15/32 L5 [In index]
Message 11979 [Homepage] [Navigation]