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[ox-de] Re: "Kapitalismus als pubertäre Form"



Hi Christian,

so, jetzt auch mal der Versuch einer inhaltlichen Antwort.

(Christian 10.7.)
Aber ok, wie wird denn die "provokante These" begründet?

Und ein zweites zivilisatorisches Moment bringt dieser Markt mit
sich: Er *zwingt* [kursiv] die am Markt agierenden Produzenten,
sich - unter Androhung des Entzugs der eigenen Existenzgrundlage -
für die Bedürfnisse anderer Produzenten zu interessieren, und legt
so den Keim für ein neues WIR, das erst in einer wirklich Freien
Gesellschaft zur vollen Entfaltung kommen wird. ....

Ah, der wiederholte positive Bezug auf "zwingen" ist schon mal 
interessant. Zwang ist also deiner Ansicht nach die Grundlage der
Freiheit? Komisch, dass ich dabei an Orwell denken muss...

Zwang nicht als strukturelle Gewalt wie bei Orwell, sondern "Zwang der
Verhältnisse". Wobei ich da wohl ein deutlich anderes Verständnis habe
als du. Dass nämlich gesellschaftliche Verhältnisse nur in sehr
bescheidenem Umfang "konstruiert" sind und sich (normalerweise) als
Attraktor eines dynamischen Prozesses "von selbst" einstellen. Insofern
ist/war Marktwirtschaft ein Modus der gesellschaftlichen Organisation,
der auf gewisse (näher zu spezifizierende) gesellschaftliche
Entwicklungserfordernisse reagiert. Und als solche zivilisatorische
Momente in sich trägt, die nicht unberücksichtigt bleiben dürfen. Im
"Kommunistischen Manifest" haben Marx und Engels sechs ganze Seiten auf
die Darstellung dieser positiven zivilisatorischen Momente verwendet,
ehe sie zur Kritik ihrer heutigen (bzw. damaligen) Ausprägung
kommen.

Hier also die (u.a. an Marx anknüpfende) Aussage, dass mit *Beginn* des
Kapitalismus autonom agierende Produzenten (eben Unternehmer, weitgehend
zunächst im Handelsbereich) als Markteinheiten erstmals in *umfassender*
Weise gesellschaftlich in Erscheinung treten und "die gesellschaftlichen
Verhältnisse" Druck aufbauen, genau so zu agieren. Dies ist eine
ANALYTISCHE Aussage, mit der ich mich - im Rahmen des mir (zeitlich und
intellektuell) möglichen Dilettantentums - der empirischen Grundlage
meiner weiteren Aussagen versichern möchte. Dass solcher Druck tief in
die Privatsphäre eingreift und den Entzug der Existenzgrundlagen androht
oder exekutiert - also "barbarisch" ist - ist m.E. kein Charakteristikum
des aufstebenden Kapitalismus, sondern zu der Zeit eher allgegenwärtig
(Belege: Umgang mit Sklaven, etwa im Film "Roots" dargestellt, Recht der
"ersten Nacht" usw.)

Neu ist allerdinggs, dass diese Produzenten dabei erstmals in
*umfassender* Weise nicht für Subsistenz und Eigenbedarf "produzieren",
sondern für andere. Grund: Zunahme von Produktivität und Arbeitsteilung
durch weiteren Fortschritt der Beherrschung verschiedener Naturkräfte,
kurz - durch den Fortschritt der Wissenschaft.

Und dann ignoriert deine Argumentation vollkommen den Unterschied 
zwischen Mittel und Zweck -- die Bedürfnisbefriedigung der anderen 
ist im Kapitalismus ja immer nur Mittel für den Zweck der 
Wertverwertung, für die möglichst effiziente Verwertung von Kapital 
und anderen Ressourcen. Das ist ja unter anderem gerade, was wir
kritisieren ...

Ist es nicht auch umgekehrt, dass sich die Bedürfnisbefriedigung im
Kapitalismus durch die Wertverwertung prozessiert? Dass auf "wundersame
Weise" Dinge auf dem Markt zusammenfinden, die zusammengehören (und
*dingliche* Bedürfnisse so eine Befriedigung erfahren), obwohl *nur* das
abstrakte Wertmaß regiert? Wolfs "Tasse Kaffee" ist da ein sehr gutes
Beispiel. Und dass alle Versuche, hinter diese zivilisatorische
Errungenschaft zurückzufallen (etwa im Realsozialismus) kläglich
gescheitert sind?

Dass dies heute immer schlechter geschieht, bestreite ich auf keine
Weise, aber bei der Suche nach Antworten versuche ich, dieses
zivilisatorische Potenzial zunächst zu verstehen und es in (m)einer
Vision einer "Freien Gesellschaft" zu berücksichtigen.

... weswegen im Kapitalismus Millionen von Kindern verhungern müssen,
obwohl genug Essen für alle produziert wird.

Wenn also das die pubertäre Form deiner "Freien Gesellschaft" ist,
dann möchte ich lieber nicht wissen, wie sie im erwachsenen Stadium
aussehen wird!

Wenn jemand in der Pubertät pfenniggroße Eiter-Pusteln hat, dann heißt
das noch nicht, dass sie nach der Pubertät Eurogröße haben werden.

Sorry, ist kein wirkliches Argument gegen deinen Einwand, aber du
verstehst vielleicht selbst, dass du hier ein Totschlag-Argument gegen
JEDEN Gedanken in meiner Richtung bringst. Weil du damit jedes Argument
meinerseits abschneiden kannst.  So wie Stefans Argument von der
"Blutspur des weißen Mannes". Dieses Problem findest du bei Adorno in
seinen Überlegungen zum "Leben nach Auschwitz" genauestens thematisiert.

In meinem glob-paper habe ich trotzdem versucht, auch in dieser Richtung
zu argumentieren.

... dass, was den Kapitalismus (heute noch) von der "Freien
Gesellschaft" trennt, die Tatsache ist, dass heute noch nicht _alle_
gezwungen sind, die Bedürfnisbefriedigung der anderen zum Mittel für
den Zweck der eigenen Existenzerhaltung zu machen...

*Bedürfnisbefriedigung*, davon habe ich an keiner Stelle geschrieben,
sondern nur "für die Bedürfnisse anderer interessieren".  Ich behaupte -
und polemisiere anderenthreads gegen Stefan Meretz und seine (m.E.)
andere Auffassung - dass Selbstentfaltung ohne ein AKTIVES "sich für die
Bedürfnisse anderer interessieren" eine Farce bleibt und letztlich
implizit oder explizit zur Ausbeutung dieser anderen für die eigenen
Zwecke führt, selbt wenn es der hehre Zweck der eigenen Selbstentfaltung
ist. Jac hat das sehr schön auf den Punkt gebracht.

Und mir ist unklar, wie du Selbstentfaltung im Plural denkst, denn diese
erfolgt ja con-current, nebenläufig, nebeneinander, mit überlappenden
Gestaltungsansprüchen und damit inhärent konfliktär.  Das wird, wenn du
autonome interagierende "Produzenten" (das Wort wäre ggf. zu schärfen,
da es auch um ein neues Verständnis des Begriffs "Arbeit" geht) als
gesetzt betrachtest (ich tu's jedenfalls und begründe das gern auf
Anfrage), auch in einer Freie Gesellschaft nicht anders sein.

Jedenfalls verstehe ich jetzt auch, warum dir jede Erwähnung der 
Tatsache, dass man sich gesellschaftliche Entwicklungen nicht 
blindlings unterwerfen muss, sondern sie auch gezielt in eine andere 
Richtung steuern könnte (wie sie etwa dem Freie-Gesellschaft-Wiki 
zugrunde liegt), ein Graus ist, da sie dein Ideal einer
spätkapitalistischen "Freien Gesellschaft" als "bester aller Welten"
in Frage stellt...

Von der Idee einer auch nur in weiteren Grenzen möglichen
"Steuerbarkeit" gesellschaftlicher Prozesse in dem hier von dir
gebrauchten Sinn habe ich mich in der Tat verabschiedet. Der letzte Teil
des Satzes ist eine Unterstellung.

Viele Grüße, Hans-Gert

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
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