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[ox-de] Re: [ox] Re: Der eigentliche Dissenz



Hallo Carmen und Jacob,

(Carmen 20.7.)
... dass sie im Endresultat sich als Informationen in unsere Gene
geschrieben haben.

Du relativierst das sofort, aber trotzdem: "als Informationen in unsere
Gene geschrieben" halte ich für ein sehr schlechtes Bild, weil hier
wieder der dingliche Informationsbegriff durchkommt. In Wirklichkeit
(Verweis noch einmal auf [Fuchs-Kittoswki]) ist Information nur sinnvoll
als VERHÄLTNIS zu verstehen. Hier: das "in die Gene geschriebene" ist
nur unter extrem speziellen chemischen Verhältnissen (die ganze
Zellstruktur) "auszulesen", wobei diese Zellprozesse die Einbettung der
Zelle selbst in ganz spezielle Bedingungen voraussetzen etc. Der
Informationsbegriff ist hier von den Menschen reininterpertiert, denn
aus Sicht der Natur ist es nur ein schlichtes "sich einnern" - so gings
gut und immer besser, also wiederholen wir es (schreib den Satz noch
reflexiv um, dann hast du in etwa, was ich meine).

Diese Art des "sich erinnern, was früher schon häufig erfolgreich war"
kannst du dann sofort 1-1 auf all die Fragen "Erziehung", "Lernen" usw.
übertragen, denn das ist ja genau die Art, wie Erinnung in der
Menschheit als Gattung aufbewahrt und prozessiert wird.

Und dass dieser "Lernprozess" stattfindet beruht ja, sehr weit her 
geholt, irgendwo auch auf Austausch von Informationen Umwelt - 
Zelle/Individuum und umgekehrt. Informationen und die damit
verbundenen Aktionen/Reaktionen leiten diesen "Lernprozess" ein. Und
hier denke ich liegt auch die Vergesellschaftung mit begründet, da
diese Informationen/Aktionen/Reaktionen nicht nur allein für sich
stehen sondern das gesammelte "Wissensgut" der Prozesse und damit
auch gesellschaftlichen Prozesse in sich trägt.

Eben, wobei der Begriff "Wissensgut" auch schon wieder dinglich ist,
weil es m.E. darauf ankommt, ihn als Generationen-VERHÄLTNIS zu begreifen.

Und kann in diesem Zusammenhang dann tatsächlich von "Zwang" 
gesprochen werden? Vielleicht sollte hier noch mal die Bedeutung des
Wortes Zwang analysiert werden. Ich sehe es eher als Gesamtprozess
unter bestimmten Bedingungen.

"Zwang der Verhältnisse". Da die genannten "Erinnerungen" nur unter
denselben oder ähnlichen Verhältnissen ihre Kraft zu entfalten vermögen
(und wir auch diese Relativität von Erinnerung "gelernt" haben), sind
alle Beteiligten stark daran interessiert, Verhältnisse zu
reproduzieren, unter denen ihre Erinnerungen taugen. Das ist nach meinem
Verständnis die Quelle der konservativen Kraft der "Verhältnisse". Kurz,
Dawkins "egoistisches Gen".

(Jac 21.7.)
Kannst Du Dich erinnern, daß ich von der autoritären und der 
weniger autoritären Gesellschaft gesprochen habe?

In autoritären Gesellschaften wird die Autonomie und der Eigenwille
des Kindes durch das Herrschaftsinstrument Erziehung zu brechen
versucht. In weniger oder nicht autoritären Gesellschaften passiert
dies kaum bzw. nicht. In diesen Gesellschaften wird die Autonomie
des Säuglings zum Ausgangspunkt der Persönlichkeitsentwicklung
und steht damit nicht im Widerspruch zur Gesellschaft oder seiner
Vergesellschaftung. Erziehung ist in diesen Gesellschaften - wenn
es überhaupt einen entsprechenden Begriff gibt - kein Instrument
der Herrschaft.

Sind das, in dem hier von dir ausgebreiteten Sinn, nicht zwei Endpunkte
einer ganzen Skala? Und, muss nicht zwischen "der Erziehung" (Singular -
eine gesellschaftliche Normvorstellung) Und "den (konkreten)
Erziehungen" unterschieden werden? Gerade auch in einer Umbruchzeit wie
der heutigen, wo diese beiden Kategorien ja tendenziell mehr
auseinanderfallen als sonst auch schon? In dem Sinne, dass es ANALYTISCH
darauf ankommt, diese DIFFERENZ zu verstehen und nicht das Abstraktum
für die Konkreta zu nehmen?

Das Problem ist also nicht der Prozess der Vergesellschaftung, sondern
wie dieser Prozess eingeleitet wird, d.h., ob die Erziehenden ihr Kind
oder das Kind ebenso respektieren wie jeden anderen Menschen
auch - daß, was Neill mit den gleichen Rechten von Eltern und Kindern
meint - oder unbedingten Gehorsam ihren Anweisungen und Befehlen
gegenüber verlangen und es behandeln, als sei es für Menschenrechte
'noch zu klein'.

Sorry, das halte ich - mit der Erfahrung eines Familienvaters mit zwei
inzwischen erwachsenen Kindern - schlicht für blauäugig. Kinder
ERWARTEN, dass man ihnen auch mal sagt, wo's langgeht. Und gerade in
jungen Jahren lernen sie extrem viel durch NACHAHMEN. Das ist einfach
die Art, wie - wahrscheinlich biopsychologisch bedingt, denn das Gehirn
vernetzt sich (erst) in den ersten drei Lebensjahren ganz auffällig
stark - Kinder soziale "Erinnerungen" aufnehmen. Nach meinem Verständnis
übrigens auch generell beim Nachwuchs höherer Lebewesen.

Sie da auf die Weise allein zu lassen, wie du es hier vorschlägst,
richtet m.E. großen Schaden an. Einschließlich der Möglichkeit, die
Eltern in der Widersprüchlichkeit ihrer Autorität zu ERLEBEN (und sich
dabei fürchterlich aufzuregen, zu "bocken" und doch nicht durchzukommen
usw.) Diese auch negativen Erfahrungen im Kontext einer großen
emotionalen Bindung zu machen ist für die Herausbildung dessen, was du
vielleicht als "soziale Lebendigkeit" bezeichnen würdest, nach meinem
Verständnis essentiell.

Und damit kann ich dann fast gar nichts mehr anfangen:

(Jac 22.7.)
Es sind Eigenschaften des menschlichen Körpers des Säuglings, der in
der Zellteilung vom befruchteten Ei zum Embryo entstanden ist. Seine 
Fähigkeiten sind evolutionär vermittelt, nicht durch seine jeweilige 
gesellschaftliche Umwelt.

Wenn du einen Informationsbegriff wie den obigen zu Grunde legst, dann
ist das schlicht dasselbe. Das "evolutionär Vermittelte" entfaltet sich
schlicht im Wechselspiel mit der (hier sicher gesellschaftlichen)
Umwelt. Und auch nur mit einer dem früheren vergleichbaren Umwelt, denn
sonst fehlen die Entfaltungsbedingungen und die Erinnerung ist nix wert
und entfaltet sich deshalb auch nicht - die Mechanismen sind einfach so!

Gene formulieren eine Frage an die Umwelt, die von der Umwelt
beantwortet wird. ...

Klar, und die Frage lautet: "Umwelt, bist du noch so, wie ich dich in
der Erinnerung habe?" Wenn die Antwort JA lautet, dann entfaltet sich
die Erinnerung, und wenn sie NEIN lautet, dann entfaltet sie sich nicht
(wegen der fehlenden Entfaltungsbedingungen)

Zum Beispiel, wenn man solche hirnverbrannten Experimente mit Säuglingen
macht ...

Diesem Prinzip folgt die allgemeine Evolution. Dies bedeutet: es
finden eine ganze Reihe zufälliger Mutationen statt, d.h. Unfälle bei
der Übertragung der 'Information' der Gene von einer Generation an
die Nächste, - dies sind die Fragen an die Umwelt - und die Umwelt
ermöglicht es der Mutation, zur Variation innerhalb einer Spezie oder
zur neuen Art zu werden, wenn die zu- fälligen neue 'Information' der
Gene eine Lösung für Probleme in der Umwelt darstellen.

Mutation als Abweichung von der "richtigen" Übertragung von Information?
In meiner Begriffs-Welt ist das deutlich einfacher, weil es als Antwort
auf obige Frage nie ein klares JA oder NEIN gibt. Und dem Spektrum
insbesondere der JA-Nuancen entspricht einfach ein Spektrum von
Entfaltungsmöglichkeiten, das durch dauerndes "Rauschen" (Mutation)
generiert und durch die dann konkret vorgefundenen Umweltbedingungen
(Resonanzen) verstärkt oder absorbiert wird (Selektion). Funktioniert so
übrigens nicht nur bei Genen.

Im Prinzip wäre jedem Normalsterblichen diese außerordentliche
Fähigkeit ganz genauso möglich, wenn seine Umwelt diese Fähigkeit
bevorteilen würde. Darin wird deutlich, daß Fähigkeiten keinen Zwang
in sich tragen, diese auch zu entwickeln.

Außer dem "Zwang der Umstände", siehe oben. Ich verstehe nicht, wie du
auf der einen Seite so sehr auf "Lebendigkeit" setzt (was ja -
hoffentlich - das AKTIVE Einlassen auf diese Umstände einschließt) und
auf der anderen Seite einem solch extremen Konstruktivismus anhängst.
Hier noch einmal ganz extrem:

(Jac 20.7.)
diese Autonomie erwächst der selbständigen, körperlichen Existenz als 
von der Mutter nach der Geburt getrenntes Einzelwesen, welches aus sich
selbst bzw. der eigenen Innerlichkeit heraus Kontakt zur Umwelt aufnehmen
und Eindrücke dieser Umwelt verarbeiten kann. Es ist grundfalsch, dem
Säugling die eigene Innerlichkeit und die Fähigkeit z.B., selbständig zu
atmen, nach Dingen zu greifen und diese mit dem Mund zu erfahren, zu
riechen, zu schauen, daß Verhalten seiner Umwelt zu reflektieren und damit 
wirklich 'aus sich selbst heraus zu leben', abzusprechen. 

"... welches aus sich selbst bzw. der eigenen Innerlichkeit heraus
Kontakt zur Umwelt aufnehmen und Eindrücke dieser Umwelt verarbeiten
kann." Das ist doch aber ein VERHÄLTNIS, oder? Diesem "Eindrücke dieser
Umwelt verarbeiten" liegt wieder der dingliche Informationsbegriff
zugrunde, der meint, da könne man was Ontologisches abheben. Aber der
Eindruck ist doch nur eine Erinnerung und nur als VERHÄLTNIS von
Gestrigem und Heutigem wirklich praktisch relevant, oder?

Viele Grüße, Hans-Gert

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
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  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
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