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[ox-de] Re: Keimform - Was meint "Form" und ist Freie Software eine Keimform ?



Hallo Annette,

so, jetzt bist du aber wirklich mal dran mit einer ausführlichen Antwort
auf verschiedene deiner Bemerkungen auf h-06. Ich schicke das auch mal
auf ox-de, auch wenn der Thread dort nur unvollständig nachzuvollziehen
ist. Aber vielleicht interessiert es ja trotzdem, und wenn Zeit ist und
du nichts dagegen hast, dann werde ich diese Debatte auch noch im
ox-Wiki dokumentieren.

Am 11.8. 16:35 schreibst du:
... macht die Unterscheidung nach Ruben keinen produktiven Sinn, 
sondern würgt einfach nur den Inhalt der Frage ab.

In der Problematik Selbstentfaltung ist für mich eine zentrale Frage,
wie die Einbettung des Menschen als Subjekt in seine Umgebung
funktioniert. Die Unterscheidung, die ich in (ruben-98) lese - und dort
zum ersten Mal in hoher Deutlichkeit und gedanklicher Konsistenz, was
nicht unbedingt auf seinem Mist gewachsen sein muss - ist (1)
"Einbettung als Individuum in die Gemeinschaft" und (2) "Einbettung als
Person in die Gesellschaft". Ich lese Ruben so, dass (1) die hier und
heute vorgefundene raum-zeitlich determinierte und lokalisierte
Einbettung - sozusagen die natürliche Einbettung, die auch jedes
tierische Gemeinschaftswesen eingeht - in den Vordergrund stellt,
während (2) die vertratgsgesteuerte kausale Einbettung von Subjekten
(eben "Personen" im bei Ruben deutlich umrissenen Sinn) in eine sich aus
solchen Personen konstituierende Gesellschaft in den Vordergrund rückt.
Eine Gesellschaft, deren "Kleber" aus Kategorien wie Verantwortung und
Verantwortlichkeit produziert wird. Also so was wie Natur vs. Kultur. In
dem Sinne ist Gemeinschaft nichts typisch Menschliches, sondern
existiert auch im Tierreich, Gesellschaft dagegen eine Bewegungs- und
Organisationsform, die immanent menschlich ist, weil sie durch die
Menschheit als Gattung hervorgebracht wurde und nur *innerhalb* der
Menschheit als Gattung Sinn entfaltet. In diesem Sinne sind übrigens
Maschinen, so "intelligent" sie auch sein mögen, nicht verantwortungs-
und damit auch nicht subjektfähig.

Ich sehe die Unterscheidung nicht in (a) "Dynamik" und "Konstituanten", 
sondern in (b) "Wesen" und "Erscheinung".

Mit "Wesen" und "Erscheinung" in einer solch absoluten Setzung kann ich
immer weniger anfangen. Ich habe inzwischen gelernt, dass es oft als
große Beleidigung aufgefasst wird, jemandem zu unterstellen, dass er
oder sie nicht zum "Wesen" vorgedurngen sei.  Aber ist dieses
Begriffspaar nicht schlicht die Unterscheidung zwischen oberflächlicher
und tiefer Analyse? Und ist es nicht so, dass sich unter der gerade
entdeckten "Wesens"-Ebene in der Regel bei noch tieferer Analyse eine
weitere Ebene des "verborgenen Wesens" findet und das ad infinitum, wie
ich es bei Erich Fromm ("Kunst des Liebens", Kapitel über Gottesliebe)
sehr stringent gelesen habe? Ähnlich auch Ernst Cassirer in einer
Fußnote eines Texts von Stephan Eissler (Fußnote 2 in
http://www.oekonux.de/liste/archive/msg08982.html). Und ist es nicht so,
dass das Vordringen zum Wesen, also in die Tiefe, immer zugleich ein
Vordringen *in eine bestimmte Richtung* ist, also Erscheinungen in
wesentliche und unwesentliche einteilt und man damit Gefahr läuft, Dinge
nicht zu sehen - auch Dinge nicht zu sehen, die man nicht sehen *will*?

Die Unterscheidung von Wesen und Erscheinung kann ich also nur in Bezug
auf einen *vorausgesetzten* Denkansatz verstehen. Das wäre natürlich in
der Keimformdebatte extrem problematisch. Hatte ich auch in einer mail
in Antwort auf Stefan genauer ausgeführt.

... wir wollen uns doch über einen kokreten gesellschaftlichen
Umruch verständigen, oder? Da lässt sich doch die Form nicht
sinnvoll vom Inhalt trennen.

Nicht trennen, aber unterscheiden...

... und in ihrer *Wechselwirkung* verstehen, füge ich hinzu. Das ist
aber eine real-konkrete Frage - welche Inhalte die Form transportiert
und wie und warum gerade *diese* Form. Dafür wird mir in Stefans Ansatz
der Keimformdebatte Inhaltliches viel zu sehr ausgeblendet.  Etwa wenn
nicht einmal ernsthaft die Frage nach dem *Inhalt* der beiden Dominanzen
steht, zwischen denen sich der Wechsel vollzieht.

Bei Demokrit wird die Form von der inneren Struktur eines Objekts 
bestimmt - bei Platon dagegen ist sie ein von außen wirkendes separates, 
bewegendes und aktiv formendes Prinzip.

Genau in diesem Spannungsfeld sehe ich die Begriffe "Gemeinschaft" und
Gesellschaft" in Bezug auf die Menschen, welche sie je konstituieren.
Wobei (mir) natürlich völlig klar ist, dass *beide* Ansätze
Abstraktionen und *Denkformen* sind, und Analyse von Realität immer
beide Seiten als "Differenz in der Einheit" berücksichtigen muss. Aber
mir scheint schon, dass "Pubertät der Menschheit" (wie im Übrigen auch
Pubertät als einzelmenschliche Entwicklungsphase) viel mit dem Übergang
von der Dominanz der Außen- zur Dominanz der Innensteuerung der
Handlungsleitung zu tun hat.

Ich denke, das ist ein ganz guter Ausgangspunkt für unsere Überlegungen 
zur Keimform:

Es geht um die innere Struktur der neuen Gesellschaft, die ihr immanente 
Wechselwirkung der Bestimmungen, wodurch sie sich (in Wechselwirkungen) 
auszeichnet.

Ich würde also das Wort "Keimform" nur in der Einzahl verwenden, wenn es 
uns um genau einen bestimmten Übergang von einer Gesellschaftsform zu 
einer anderen geht. 

Damit thematisierst du natürlich etwas vollkommen Anderes als es eine
Keimformdebatte machen würde, die längs der Route strukturiert wäre, die
Stefan Meretz in seinen letzten mails markiert hat.  *Keimform* wäre in
diesem Sinne die Form des "Zusammenfließens der Bäche zu einem Strom".

Es könnte nämlich z.B. sein, dass die "Dominanz von Wissensmomenten in 
der Produktion" nicht schon selbst keimformhaft ist, sondern "nur" zu 
den in 1. thematisieren Voraussetzungen des möglichen Neuen gehört.

Mir ist unklar, wie du das abgrenzen willst.

Ich sehe nun keinen Bezug von "Pubertät" und "2000 Jahre 
Menschheitsentwicklung". So was wie "Pupertät" würde ich INNERHALB
jeder Stufe einordnen, das Wesen dessen, was "pupertär" wird, ändert
sich nicht, es entfaltet sich nur auf einer höheren "erwachsenen"
Stufe. Man könnte also (sehr) vereinfachtend von 
"Kindheit-Jugend-Pubertät-Erwachsensein-Absterben" JEDER der 
Gesellschaftsformen sprechen.

So was zu denken ist mit einer konkret-allgemeinen Begrifflichkeit ja
durchaus bezweckt (siehe meine Bemerkungen dazu im Wiki unter
http://de.wiki.oekonux.org/Huetten06/Protokolle/KapitalismusAlsPubertaereForm/Talk).
 Wobei zu schärfen wäre, was "Pubertät" in diesem Sinne bedeutet. Nach
meinem Verständnis hat es was mit obigem "von Platon zu Demokrit" zu tun.

Und dass ich es auf Gesellschaftsformen in sehr unterschiedlichen
Zeitspektren anwende: 300 Jahre Kapitalismus, 2000 Jahre "von
Aristoteles bis heute". Leider hat der letztere Begriff bei uns noch
keine stringente Benennung, aber es ist genau die von verschiedenen
insbesondere anthropologisch inspirierten Autoren (Wernadski, Teilhard
de Jardin, Gumiljow, Klix/Lanius) untersuchte Noosphärenproblematik.

Du stellst das so dar, als wäre das ein absoluter Autoritätsbeweis.
M.E. hat Ruben einen völlig unangemessenen Wert-Begriff und wenn Du 
diesen teilst, werden wir immer nur aneinander vorbei reden.

Ich gehe davon aus, dass mit dem Arbeits- auch der Wertbegriff
aufzubohren ist.  Und dazu ist erst einmal genauer zu verstehen, was da
bei Marx, insbesondere auch in der quantitativen Dimension des
Wertbegriffs, wirklich drinsteckt. Dazu gibt es eine durchaus
erkleckliche Literatur, die sich auch weitgehend kritisch zu gewissen -
immerhin vor 150 Jahren geschriebenen - Kurzschlüssen des Denkgebäudes
verhält, in die Ruben - so weit ich das verstehe - immer involviert war
und (ruben-98) ein, vielleicht subjektiv gefärbter, aber guter
Zusammenschnitt wichtiger Aspekte dieser Debatte ist. Ich halte es für
problematisch, darüber in der Weise hinwegzugehen wie du es hier tust.

Auf deine genauere Rubenkritik (11.8. 15:56) komme ich noch zurück. Muss
jetzt erst mal einen Cut machen.

Viele Grüße, hgg

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

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