Message 12450 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT11910 Message: 99/137 L17 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Erkenntnisinteresse (was Re: [ox-de] Re: Nochmal: gesellschaftliche Natur)



Hallo El Casi,

danke für die Ventilation der mögliche Bedeutungshöfe rund um eine 
schlichte Aussage wie der der "krankmachenden Gesellschaft" sowie 
der "kollektiven Psychotherapie". An dieser Stelle befrage ich mich und 
dich nach meinem und deinem Erkenntnisinteresse. Mir entgleitet es bei 
solchen Maildiskussionen sehr schnell. Urspünglich wollte ich mit 
meiner (vielleicht naiven) Mail vom 6.7.06 (Referenz: 
http://www.oekonux.de/liste/archive/msg11910.html )
auf solche "Fragen, die gestellt werden müssen" hinaus.

Damals haben nicht sehr viele Menschen geantwortet, eine Zusammenfassung 
meinerseits steht noch aus. Wenn ich nun deine ausführliche und 
sorgfältige Er- und Abwägung einer an sich schlichten Aussage lese, 
dann frag ich mich - also eigentlich dich, weil ich es nicht 
beantworten kann - "Warum macht sich der El Casi diese bewundernswerte 
Mühe?"

Nun nochmal inhaltlich, ansetzend an der Psychotherapiefrage. Mein 
Interesse ist hierbei, einen Diskurs zu befördern, in dem _keine_ der 
üblichen Dichotomien, die auf einer Entgegensetzung von Mensch und 
Gesellschaft basieren (mal schematisch: Mensch=>Gesellschaft, 
Gesellschaft=>Mensch, Mensch<=>Gesellschaft), die Grundlage ist.
Das scheint mir jedoch ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein.

Es reicht überhaupt nicht hin, etwa mit einer theoretischen 
begrifflichen Verdichtung wie der "gesellschaftlichen Natur des 
Menschen" zu operieren, die für mich ein optimales mentales Modell 
verkörpert, um den Zusammenhang von gesellschaftlichem Menschen und 
menschlicher Gesellschaft auch tatsächlich zusammen zu denken und nicht 
stets wieder auseinander zu reißen, die Anderen aber schlicht nichts 
oder was ganz anderes sagt. Wenn in Streits dann zwei unterschiedliche 
mentale Modelle aufeinander treffen, dann ist eine Verständigung über 
eine auf diesen mentalen Modellen basierende Sache von vorneherein sehr 
unwahrscheinlich. Es ginge eigentlich darum, die mentalen Modelle offen 
zu legen. Aber solche Ansätze führten wiederum nur auf nächsten höheren 
(oder tieferen, wie man will) Ebenen zum gleichen Clash. Und wenn es 
dann noch so platt und dumpf daherkommt, wie zeitweise in dieser Liste, 
dann wird es schwer erträglich.

So, jetzt aber Psychofrage, in situ:

Am Wednesday 20 September 2006 22:58 schrieb El Casi:
Natürlich kommt in Eurer Auseinandersetzung noch der Aufruf zur
``kollektiven Psychotherapie'' dazu, welcher meine oben
angedeutete Interpretationsweite möglicherweise aushebelt.  Aber
auch in diesem Ausdruck sehe ich vor allem den Versuch, die
*Beziehung* von Gesellschaft / Gemeinschaft / Individuum bei
Gedanken über gesellschaftliche Veränderungen in den Vordergrund
zu heben, also den Anspruch, nicht über gesellschaftliche
Entwicklung so nachzudenken, als könne man das ``automatische
Subjekt'' revolutionieren oder aufheben oder überwinden, ohne die
gegenwärtige Verfaßtheit ``seiner Subjekte'' (der Gemeinschaften
und Individuen) zu revolutionieren oder aufzuheben oder zu
überwinden, da diese ja wesentlich von jenem ``automatischen
Subjekt'' geprägt ist (bzw.  ``je sind'').

Es sind kleine Worte, die ganze Verhältnisse zu scheitern bringen 
können. Mein Wort hier ist das der "Prägung". Es kommt aus der Münzerei 
oder Verwandtem und ist für eine Beschreibung des Verhältnisses von 
Mensch und Gesellschaft unangebracht (weil im strengen Sinne falsch, 
aber wer benutzt es im Alltag nicht). "A prägt B", nein, so ist es 
nicht.

Auch in deiner didaktischen Frage wie man das "automatische Subjekt" 
verändern könne ohne das sich "seine Subjekte" (das ist hingegen eine 
nette Spitze!) revolutionieren würden - zumal die ja noch prägemäßig 
unterm Pantoffel vom "Big-Auto-Subjekt" stehen -, lese ich nur die 
Entgegensetzung, die Dichotomie, das sich Gegenüberstehen.

Natürlich wirst du nicht bestreiten, dass die Klein-Subjekte 
andererseits eben jene beschriebene Gesellschaft re/produzieren. Das 
nehme ich jetzt mal an. Wie bekommst du es nun aber logisch 
zusammengedacht, dass die Klein-Subjekte jenes Big-Subjekt produzieren, 
dessen Präge-Ergebnis sie sind? Das ist - nur auf der logischen Ebene - 
ein infiniter Regress, ein unendlicher Zyklus.

Wenn wir jetzt abstimmen würden, wer dafür ist, dass die Klein-Subjekte 
oder das Big-Subjekt "schuld" sind, dann ist das witzlos. So laufen 
aber etliche Diskussionen hier: Sie gehen total an der Sache vorbei und 
sind unendlich. Deswegen kann ich z.B. mit Jac (sorry, Jac) nicht 
diskutieren. Er macht es sich - wenn ich versuche, mich sein mentales 
Modell hineinzuversetzen, auch nachvollziehbar - einfach, indem er 
sagt: Big-Subjekt ist eigentlich nur Resultat von Klein-Subjekt 
(Verwertungslogik ist Verschleierung von Machtstreben).

Solche Dilemmata kannst du IMHO nicht durch ein "sowohl als auch" lösen. 
Das lese ich aus deinen Bemühungen heraus. Irgendwie stimme beides: 
Menschen werden geprägt und prägen das, was sie prägt. Das - wie 
geschrieben - bricht die Entgegensetzung von Mensch und Gesellschaft 
nicht auf. Und auch das Wort "Beziehung" verschärft nur das, was es 
kitten soll: Eine Beziehung kann nur etwas eingehen, was genuin keine 
hat und vice versa. Eine Beziehung kannst du nur zwischen Unbezogenem, 
zwischen Polarem herstellen.

Hegel behandelt das in der Wesenslogik. Das ist eine Erkenntnisform, die 
für bestimmte wissenschaftliche Gegenstände ausreichend ist, etwa für 
die Naturwissenschaften. Für andere aber nicht: Gesellschafts- und 
Individualwissenschaften. Die Denkform, die das Beziehungherstellen von 
Polarem überschreitet, nennt Hegel Begriffslogik. Eine Gesellschaft, 
die ihre Mitglieder wie Objekte (oder im Wortsinne "Subjekte" - 
Untergeordnete) behandelt, braucht so ein Denken nicht. Deswegen ist 
begriffslogisches Denken so selten, so schwer zu erklären und so schwer 
zu erringen. Ich breche mir ja auch jedesmal einen ab, es selbst zu 
verstehen. Aber wir brauchen es eigentlich. - Soviel abgeschweift in 
die Systematik der möglichen Denkformen (da kommt noch die Seinslogik 
drin vor - lass ich mal weg).

Andererseits suggeriert allein der Ausdruck Therapie eine gewisse
autoritätsmäßige Rollenverteilung: es gibt da den Therapeuten und
den Therapierten.  Ersterer ist Dienstleister des letzteren, aber
gleichzeitig ihm gegenüber Autorität, sowie es je die Ältesten,
die Traumdeuter, Handleserinnen, Beichtväter und sonstigen
Mentoren und Supervisoren waren (und sind). Schon aus der
Aufzählung wird aber deutlich, daß selbst solche
Autoritätsbeziehungen sehr verschiedenen Charakter haben können.
Und noch mehr verändert sich meine Vorstellung von dem
(möglicherweise) gemeinten, wenn man die ganze Sache als
Selbst-Therapie propagiert.

Ja, das ist tausendmal besser als das klassische Verhältnis von Forscher 
und Beforschtem, von Therapeut und Therapiertem. Die Kritische 
Psychologie geht da prinzipiell so ran. - Aber wir bewegen uns hierbei 
auf der Ebene der Individualtheorie. Es geht um je meine (Selbst-) 
Therapie, nicht um eine kollektive (Selbst-)Therapie. Das ist etwas 
völlig anderes. Was du auf der Individualebene machen kannst (wenn du 
willst), ist ein Unding auf der gesellschaftlichen Ebene, das geht 
schlicht gegenstandslogisch nicht (eine Gruppe, ein Kollektiv ist nun 
mal kein Individuum). 68ff hat gezeigt, was rauskommt, wenn man es doch 
tut: Psychoterror.

Daß bei dem Wort Therapie überhaupt immer die Unterstellung von
Krankheit mitschwingt, halte ich ehrlich gesagt für nicht so
schlimm, wenn auch blöd ;-) Denn ich kann es für mich sehr wohl
als eine Art Therapie einordnen, wenn ich versuche, die
überkommenen Denkformen zu entwickeln oder aufzuheben, indem ich
mich theoretischen Analysen und Diskussionen hingebe, die ja für
mich schon, optimistisch gesehen, den Zweck haben, mich zu
verändern, meinen Handlungsspielraum zu vergrößern usw.

Ok, wenn du das für dich willst - nichts dagegen. Deine Entscheidung. 
Etwas downgesized könnte ich sagen: Ein vertrauliches Gespräch unter 
Freunden über alles, was mich bewegt, ist immer hilfreich.

(Blöd daran finde ich, daß mit der Unterstellung von Krankheit
oder mit der Behauptung des Krank-Machens eine ``Abweichung von
der Norm'' suggeriert wird, ohne daß der Maßstab, die Norm näher
hinterfragt oder begriffen werden muß.  Denn ein Verhalten, eine
Eigenschaft, die in einem Kontext ``normal'' ist, ist es im
nächsten nicht -- gilt also nur im nächsten als krank... Wo also
sollte da eine Therapie ansetzen können, wenn nicht in einer
Grauzone, welche ja, wenn sie denn selbst einen realen Kontext
darstellt, selbst schon ``die Therapie'' wäre?  Das aktive Suchen
und Besuchen einer solchen Grauzone ist aber sicher ein ``ganz
normaler'' Bestandteil individuellen Handelns, welchen ich sowohl
Erweiterung des eigenen Handlungsrahmens als auch als
(Selbst-)Therapie beichnen könnte, ohne damit verschiedene Sachen
zu meinen...)

Ja, völlig richtig erkannt, das sind immanente Probleme traditioneller 
Therapie und ein möglicher Umgang damit.

* Meine Fragen zur Entwicklung der Gestalt der individuellen
  Beziehungen unter dem Paradigma ``der anderen Entfaltung ist
  Voraussetzung für je meine Entfaltung'' müssen noch reifen...
  Deshalb find ich es ja so spannend, Diskussionen zu diesem Thema
  zu folgen ;-)

:-)

  - daß eine schlechte Analogie nicht deswegen schlecht ist, weil
    es eine Analogie ist, sondern eben weil sie schlecht ist, also
    weil sie nicht durchdacht (z.B. zu undifferenziert bzw.
    inkonsequent oder oberflächlich) ist.

Was ist eine gute Analogie?

  - und daß mal jemand gesagt hat, Informatik sei eigentlich
    nichts anderes als ``angewandte Erkenntnistheorie'' :-)

Ich habe mal gesagt: Informatik ist eigentlich eine Sozialwissenschaft.

  - und daß mir scheint, daß das (explizite oder implizite)
    Vergleichen und Analogisieren einen sehr wichtigen Anteil am
    Denken und Begreifen hat, welchen man nur der Einsicht
    enthebt, wenn man ihn versucht zu verschweigen oder
    auszublenden...  Besser fänd ich Analogien zu entwickeln, bis
    ihre Trägfähigkeit oder Nicht-Tragfähigkeit klar wird: beides
    trägt zu Klärung und Schärfung von Begriffen bei, Vermeidung
    hingegen nicht.

Selbstverständlich spielen Analogien beim Denken eine wichtige Rolle. 
Wichtig ist jedoch, dass du dir über den Status einer Analogie 
Rechenschaft ablegst. Eine Analogie kann plausibilisieren, inspirieren, 
illustrieren etc. Aber sie kann nichts erklären. Analogien haben den 
Status von Beispielen. Wer (nur) auf der Ebene des Beispiels oder 
Analogie argumentiert, argumentiert nicht.

Nimm diese Liste (in der Vergangenheit zumindest): Wenn einem 
inhaltlichen Argument ein Beispiel oder eine Analogie zur Illustration 
folgt, wird immer das Beispiel oder die Analogie angegriffen. Und dann 
werden Geschichten gegen Geschichten gehalten - sinnlos.

Ciao,
Stefan


-- 
Start here: www.meretz.de
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT11910 Message: 99/137 L17 [In index]
Message 12450 [Homepage] [Navigation]