Re: [ox-de] Re: [ox-de] Ökonux und Politix
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Mon, 03 May 2010 08:39:51 +0200
Lieber Ludger,
vorab: alle im Weiteren genannten Aufsätze von mir findest du unter
http://www.hg-graebe.de/EigeneTexte
Am 05/02/10 15:56, schrieb Ludger.Eversmann
1) zu Fortschritt: da sehe ich mich ganz der Programmatik und
Wertbegründung der Aufklärung verbunden und verpflichtet, also ganz
einfach: Rechtsstaatlichkeit, Rechtssicherheit, innerer und äusserer
Friede, parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenwürde,
Sozialstaatlichkeit. Fortschritt heisst: das entweder zu erweitern,
oder wenigstens zu stabilisieren. Das ist nicht so neu. Das wäre dann
das Maß. Wer würde - normativ! - dagegen argumentieren wollen?
Da sind wir schon mitten in einer Wertedebatte - und realiter gibt es
neben dem Rechtsstaatlichkeitsansatz wenigstens zwei weitere weit
verbreitete Leitwerte: das der Verteilungsgerechtigkeit (zentral für
weite Kreise der Linken) und das der Nachhaltigkeit (zentraler
Diskurspunkt für grüne Ansätze). Auch wenn normativ vielleicht nicht
gegen deinen Wertekanon argumentiert würde, bei realen Zielkonflikten
fallen dann doch einige deiner hier aufgelisteten Werte hinten runter.
Allerdings siehst du das wohl auch so:
... dafür zu argumentieren, dass es ein allgemein anerkennbares,
normativ verstandenes Maß für "Fortschritt" (in diesem hier
angedeuteten, kulturhistorischen Sinn) nicht geben kann. -
Einen tragfähigen Fortschrittsbegriff wirst du also nur bekommen, wenn
du die *Privatheit* der Leitwerte (Freiheit fehlt interessanterweise in
deiner Aufzählung) als Ausgangspunkt nimmst und die daran anknüpfenden
Kohärenzprozesse mit im Auge behältst. Ich habe das in meinem Aufsatz
"Wie geht Fortschritt?" genauer ausgeführt. Im Übrigen - im Zuge einer
Kontroverse mit den Herausgebern einer linken Zeitschrift - erweitert um
Überlegungen zur 11. Feuerbachthese, nach der die verschiedenen
Interpretationen der Welt durch die Philosophen zweitrangig seien, denn
"es kömmt darauf an, sie zu verändern".
Mit deinem Wertekanon, der sich sehr stark an der Verrechtlichung von
Verhältnissen orientiert, wirst du hier auf der Liste übrigens wenige
Anhänger finden, wie die Auseinandersetzungen um ein paar meiner
Positionen im Jahr 2006 (du findest das im Archiv) zeigen, auch wenn
hier in einem der Diskursstränge formal oft von Hegel ausgegangen wird.
Diese Verrechtlichung ist nämlich eine inhärente kulturelle
Errungenschaft der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur, in
vorkapitalistischen Gesellschaften gab es die meisten der Institutionen
nicht, und selbst die existierenden konnten bei genügender Machtfülle
leicht außer Kraft gesetzt werden. Auch dies normativ (!) - dass in der
*Praxis* dieser Gesellschaft die Rechtsinstrumente oft ebenso
ausgehebelt werden, ist eine andere Frage.
Allerdings ist dein Wertekanon stark ordnungsrechtlich aufgeladen,
während in dieser Gesellschaft - gerade an deren Basis - vor allem
vertragsrechtliche Instrumente die zentrale Rolle spielen. Die
Wertkategorie ist - wenigstens heute - ein inhärentes Moment dieser
vertragsrechtlichen Instrumente, und Eigentum wird dabei benötigt, um
Schuldfähigkeit und damit Verantwortungsfähigkeit zu reproduzieren, wie
ein Blick auf die Systematik des BGB zeigt. Wenn dir Rechtsstaatlichkeit
wichtig ist, dann müsste man also erst mal schauen, wie die
Wertkategorie dort wirklich drin hängt - jenseits
traditionsmarxistischer Mantras. Habe ich versucht mit meinem Aufsatz
"Arbeitswerttheorie - ein dezentraler Ansatz".
... Wissen, Kultur, Vernunftgebrauch lassen sich verstehen als in
einer Sprachgemeinschaft herausgebildete Handlungs- und Denkweisen,
die an dieser regulativen Zielidee - Erhebung des Willens... -
orientiert sind.
"Willen" im Singular ist dann aber kontraproduktiv. Kant unterscheidet
ja den "öffentlichen Gebrauch der Vernunft im Raisonnieren" und den
"privaten Gebrauch der Vernunft im Handeln", wobei - neben externen
Naturphänomenen, von denen sich, im Sinne der von dir zitierten
Kantschen Formel, die Menschheit versucht zu befreien - allein zweiteres
die Quelle der Konflikte dieser Welt ist.
Ob ein solcher Konstruktivismus
Also: Schöpfung von Zuständen der Lebensbedingungen, die begründeten
bzw. begründbaren Rechtfertigungsansprüchen zugänglich sind - ich
sehe den Fortschrittsbegriff hier ganz gut aufgehoben, und fühle mich
damit ganz wohl.
angesichts der zunehmend deutlicher werdenden Probleme der
Industriegesellschaft überhaupt noch zeitgemäß ist, sei dahingestellt.
In meinem "Chemnitzer Thesen" wird das sehr problematisiert. Ich stehe
da weitgehend auf den Positionen des "Potsdamer Manifests".
So etwas zu benennen, zu formulieren und zu begründen, heisst nicht,
zu diktieren: ganz im Gegenteil. Es geht um das Argument, wir
befinden uns im Diskurs, wir argumentieren, aber diktieren nicht, und
verunglimpfen und beschimpfen auch nicht, nach Möglichkeit. Ich
unterstelle mal da sind sich hier alle einig.
Ich denke, bei Diskussionen, an denen sich Leute mit ihrem Herzblut
beteiligen, wird es gelegentlich auch emotionale Phasen geben. Das
kannst du im Archiv der Liste mühelos nachvollziehen.
Ich denke wir sind uns wenigstens in diesem Punkt einig, dass es
diese unternehmerische Führungspersönlichkeit nur noch sehr
ausnahmsweise gibt (ausser Herrn Grupp von der Trigema), dass sich
auch wohl nicht mehr eine neue Branche auftun wird, die wiederum eine
ganz neue Generation von solchen Unternehmerpersönlichkeiten
hervorbringt, und dass dann immerhin dieser Indikator für ein sich
andeutendes Ende des K. als solcher anerkennbar sein könnte.
Ich denke und sehe in meinem Umfeld, dass es diese "unternehmerische
Führungspersönlichkeit" im klein- und mittelständischen Bereich sehr
wohl noch gibt und unternehmerische Elemente auch im Bereich der
Lohnarbeit zunehmend Einzug halten. Hier wird man doch etwas genauer
hinschauen müssen.
3) Der K., die industrielle Revolution begann - sehr verkürzt gesagt,
vgl. etwa Max Weber etc. - mit der durch natur- und
ingenieurwissenschaftliche Erfolge und Entdeckungen gesteigerten
materiellen Produktion, ...
Da hast du allerdings ein sehr verkürztes Bild von Kapitalismus - du
reduzierst ihn auf eine einzige Kondratjewwelle, während er, auch schon
in Marxens Sicht, eher die Schlange ist, die sich immer wieder häutet,
um grundlegend neue technologischen Herausforderungen durch einen
grundlegenden Umbau aller Institutionen zu meistern. Nicht umsonst
heißt das Buch von Altvater "Ende des Kapitalismus, *wie wir ihn kennen*".
Kapitalismus in diesem Verständnis (insbesondere auch die Wirkung der
kap. Warenkategorie) lassen sich mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen,
in denen sich die Schlange, nach den einschlägigen Vorstellungen,
wenigstens fünfmal gehäutet hat. Warum soll es gerade heute anders sein?
Das braucht zumindest weitere Argumente. In der PÖ-Debatte weicht man
diesen meinen Nachfragen konsequent aus. Die Wertkategorie ist dort
nämlich, nach meinem Verständnis, mit Händen zu greifen, wenn man
beginnt, auch nur ein Moment von Verbindlichkeit hineinzudenken.
Viele Grüße,
Hans-Gert
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