Re: [ox-de] keimform.de: Vom Strike Bike zum Free Bike?
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Mon, 20 Dec 2010 17:55:38 +0100
Am 19.12.2010 10:58, schrieb Christian Siefkes:
URL: http://www.keimform.de/2010/vom-strike-bike-zum-free-bike/
Dieser Artikel knüpft an Stefans Überlegungen zum Ende des "Strike-Bike"
<http://www.keimform.de/2010/ende-des-strike-bike/> an ...
Hallo Christian,
die Geschichte um Strike-Bike zeigt für mich vor allem, dass ökonomische
Gesetzmäßigkeiten - zunächst dieser Gesellschaft - nicht hintergehbar
sind. Wie weit es nur Gesetzmäßigkeiten _dieser_ Gesellschaft sind, wie
du zu unterstellen scheinst, lässt sich wohl erst nach einer _Analyse_
ohne ideologische Scheuklappen, wo der Wunsch nicht Vater des Gedanken
ist, überhaupt sinnvoll thematisieren.
Also mal der Versuch einer Kurzanalyse meinerseits:
(1) Jede (nachhaltige - ich setzte voraus, dass es darum ging, denn
sonst können wir uns die Diskussion sparen) ökonomische Aktivität hat
(wenigstens) zwei reproduktive Dimensionen, eine operative des Ersatzes
des Produktionsverbrauchs und eine strategische (investive) der
Reproduktion der Produktionsbedingungen. Du debattierst, wie in linken
Zusammenhängen Usus, ausschließlich über die operative Dimension:
müssen die Nutzer/innen im Durchschnitt zumindest den Preis der
Rohstoffe und Vorprodukte zahlen, andernfalls wird das Projekt, das
diese Elemente ja auf dem Markt erwerben muss, zwangsläufig Pleite
gehen. ...
Die Rohstoffe und Vorprodukte sind aber natürlich nur der Anfang,
danach beginnt erst die eigentliche Arbeit, nämlich die Montage der
Fahrräder selbst -- was die Mitarbeiter/innen des
Strike-Bike-Projekts Tag für Tag gemacht haben.
Meretz noch etwas deutlicher:
Das Kernproblem alternativer Ansätze besteht darin, dass die
Verwaltungsform eines Betriebes nichts am Verwertungszwang ändert, an
dem sich die Produktion orientieren muss.
Dieser "Verwertungszwang" zwingt den Unternehmer aber _auch_ dazu, sich
über die infrastrukturelle Reproduktion seiner eigenen
"Verwertungsbedingungen" Gedanken zu machen und einen (großen) Teil des
operativen Profits (um zu verstehen, wo die Abschreibungen genau zu
platzieren sind, ist ein Blick in die Unterscheidungen der verschiedenen
Formen von "Gewinn" der BWL durchaus hilfreich) in diese Reproduktion zu
stecken. Die prospektive Rechnung dafür muss nicht jeden Tag (mit jedem
operativen Zyklus) aufgehen, im Mittel aber über das Jahr.
(2) Wenn diese Rechnung nicht mehr aufgeht, wird der Unternehmer
beginnen, diese ökonomische Aktivität abzuwickeln, weil er persönlich -
unter Androhung der Pleite mit allen Konsequenzen für sein
Unternehmerdasein - haftet. Das wird schleichend geschehen, denn er wird
zunächst weniger in die Reproduktion der Infrastruktur stecken, um die
frei werdenden Mittel in den Aufbau einer anderen ökonomischen Aktivität
zu stecken. Das hat zunächst kaum Auswirkungen auf das operative
Geschäft. Jedoch leidet das immer mehr und bei der nächsten größeren
nicht getätigten Ersatzinvestition - so wohl auch bei Strike Bike - wird
das Dilemma auch für die Beschäftigten sichtbar. Sie können also gern
die - im wahrsten Sinne, weil abgeschriebene - "wertlose" Infrastruktur
besetzen, in Besitz nehmen und auf dieser Infrastruktur - wie bei
Strike-Bike geschehen - das operative Geschäft auf eigene Kosten und
nach eigenen Vorstellungen weiter betreiben. Im Gegensatz zur
Ausplünderung einer Zahl - keineswegs "wertloser" - DDR-Staatsbetriebe
kurz nach der Wende wird der Unternehmer wenig zucken, sondern - wie nun
geschehen - die Exekution der eigenen Prognose über den strategischen
Gehalt des Geschäfts interessiert beobachten; es ist ja nicht mehr sein
(operatives) Geld, was dort in den Sand gesetzt wird, sondern das von -
aus seiner Sicht - "unverbesserlichen" Optimisten, von denen einige
dort sogar Momente einer Keimform sehen.
(3) Das Abwickeln ökonomischer Aktivitäten, die sich aus einer
gesellschaftlichen Ratio heraus überholt haben, ist eine
gesellschaftlich nicht nur sinnvolle, sondern notwendige Angelegenheit.
Vielleicht wäre ja Strike-Bike besser beraten gewesen, nicht weiter zu
produzieren wie bisher, sondern das Werk zu einem regionalen
Fahrrad-(Selbst)-Hilfezentrum mit angeschlossener Produktion
maßgeschneiderter Fahrräder umzugestalten (wie beim Leoliner
<http://de.wikipedia.org/wiki/Leoliner> oder Sportwagen Melkus
<http://www.melkus-sportwagen.de> - ich hatte die Beispiele mehrfach
erwähnt). Aber auf dem Segment (Fahrrad) tummeln sich auch schon einige
kleine, wie z.B. der Besitzer meines Fahrrad-Werkstatt-Ladens um die
Ecke, der längst solche Ideen hatte (maßgeschneiderte Fahrräder auf der
Basis einer industriellen Komponentenproduktion, wofür heute
offensichtlich nur noch geringe Montagekapazitäten erforderlich sind,
die man auch als Reparaturbetrieb vorhalten muss - eine Infrastruktur,
mehrere Zwecke; über den Verkauf wird das Reparieren offensichtlich
querfinanziert, was die Attraktivität im Viertel noch erhöht).
Ich denke, dass die Punkte (1) bis (3) auf der Ebene der
gesellschaftlichen Allokation von _Ressourcen_ (die sich in _dieser_
Gesellschaft über Geld als Kommunikationsmittel steuert) auch in einer
Peer-Ökonomie einer Regelung bedürfen. Insbesondere Punkt (3) -
Abwicklung einer ökonomischen Aktivität, die einzelnen sehr am Herzen
liegt, aber gesamtgesellschaftlich nicht mehr "sinnvoll" ist - fände ich
spannend, mal aus PÖ-Sicht am Strike-Bike durchzudeklinieren.
"Selbstbestimmte Praxen" im Free Software-Bereich - aka tote Projekte -
als vergleichende Objekte, um die praktischen Dynamiken des
schrittweisen Ressourcenentzugs genauer zu studieren, gibt es ja zuhauf.
Viele Grüße,
Hans-Gert
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