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[ox-de-raw] keimform.de: Open-Source-Jahrbuch über Wirtschaft: "Stigmergie" statt "unsichtbarer Hand"



http://www.keimform.de/2007/04/23/open-source-jahrbuch-ueber-wirtschaft-stigmergie-statt-unsichtbarer-hand/

Open-Source-Jahrbuch über Wirtschaft: "Stigmergie" statt "unsichtbarer Hand"
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Von Christian, 23. April 2007, 00:16 Uhr


Nach der Besprechung des ersten Kapitels
[http://www.keimform.de/2007/03/25/open-source-jahrbuch-das-erste-kapitel/]
des Open Source Jahrbuchs 2007
[http://www.opensourcejahrbuch.de/download/jb2007] will ich
mich heute mit dem zweiten Kapitel beschäftigen, das der
"Open-Source-Ökonomie" gewidmet ist.

Der erste der drei Artikel des Kapitel stammt von den renommierten Ökonomen
#Hal Varian und Carl Shapiro.# Nur leider ist "Die Ökonomie der
Softwaremärkte"
[http://www.opensourcejahrbuch.de/portal/article_show?article=osjb2007-02-02-varianshapiro.pdf]
(S. 125) eigentlich gar kein richtiger Artikel.

Die Autoren erläutern lediglich ein paar Basics, die eh schon jede/r kennt
-- der zweite  Abschnitt des Artikels heißt "Grundlagen ökonomischer
Konzepte im Softwarebereich", und dann ist auch schon Schluss (oder hat nur
jemand vergessen, den Rest des Artikels abzudrucken? ;-) )

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Interessanter ist da schon der Artikel von #Bruce Perens,# dem Hauptautor
der Debian Free Software Guidelines
[http://www.debian.org/social_contract.de.html#guidelines] (und somit der
Open-Source-Definition [http://www.opensource.org/docs/osd]). Perens
schreibt im Abstract zu "Open Source -- ein aufstrebendes ökonomisches
Modell"
[http://www.opensourcejahrbuch.de/portal/article_show?article=osjb2007-02-03-perens.pdf]
(S. 131):

-----
    Konventionelle Theorien der freien Marktwirtschaft lassen sich eins zu
    eins auch auf Open Source anwenden. Dabei stellt sich heraus, dass Open
    Source viel enger mit dem Phänomen des Kapitalismus verbunden ist, als
    man vielleicht erwartet hätte.
-----

Also das genaue Gegenteil der Keimform-These, und deshalb hier klar
relevant. Allerdings erweist sich der scheinbare Widerspruch bei genauerer
Betrachtung als Illusion. Er ergibt sich nämlich daraus, dass Perens sich
in dem Text praktisch nur damit beschäftigt, warum *Unternehmen* Freie
Software verwenden oder entwickeln -- aber dass marktwirtschaftliche
Entitäten aus marktwirtschaftlichen Gründen handeln, ist eigentlich trivial
und keiner besonderen Erwähnung wert. Er zeigt, dass und warum es für
Unternehmen marktwirtschaftlich Sinn macht, Freie Software zu verwenden
(was wohl niemand verwundert), und warum es für Unternehmen wie IBM Sinn
macht, Freie Software zu fördern (um ihre Hardware, Services etc. besser
verkaufen zu können; um Konkurrenten wie Microsoft zu schwächen; weil es
ihre Entwicklungskosten für Software, die sie brauchen, aber nicht
verkaufen wollen, reduziert etc.). Alles richtig, aber keineswegs
sensationell (sensationell wäre ja nur, wenn sich Unternehmen über ihre
marktwirtschaftlichen Interessen hinwegsetzen würden, aber das tun sie
natürlich nicht).

Allerdings weiß er durchaus, dass das nicht der einzige und nicht der
wichtigste Aspekt der Sache ist. So schreibt der selbst, dass "den größten
Teil zu der Entwicklung von Open Source [...] immer noch die freiwillig
Mitwirkenden bei[tragen]". Und dass die Motive dieser freiwilligen, von
Firmen unabhängigen Mitwirkenden in sehr vielen Fällen nicht der
marktwirtschaftlichen Logik entsprechen, gesteht er zumindest implizit ein
(er behauptet keineswegs, dass die meisten dieser Freiwilligen das nur zur
Verbesserung ihrer Jobchancen oder zur Selbstvermarktung machen würden --
er war selbst einer und weiß vermutlich sehr gut, dass das nicht stimmt).
Aber im Abstract (oben zitiert) und in der Zusammenfassung ("Open Source
finanziert sich selbst und funktioniert wirtschaftlich gesehen nach dem
kapitalistischen Prinzip") "vergisst" er dies geflissentlich. Schade
eigentlich.

-----

Der letzte Text des Kapitels hat den umständlichen Titel "Warum ist
Open-Access-Entwicklung so erfolgreich? Stigmergische Organisation und die
Ökonomie der Information"
[http://www.opensourcejahrbuch.de/portal/article_show?article=osjb2007-02-04-heylighen.pdf]
(S. 165). Der Autor #Francis Heylighen# analysiert darin die
(selbst-)organisatorischen Grundlagen der gesamten Open-Source- und
Open-Content-Produktion (also nicht nur den Open Access
[http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Open_Access]-Bereich, wie der Titel
impliziert).

Im Gegensatz zu Perens erkennt er, dass es hier nicht um einen *Markt*
geht, dass Open Source/Open Access also nicht als *marktwirtschaftliches*
Phänomen erklärt werden kann. Sondern dass es vielmehr zu dem dominierenden
ökonomischen Modell, mit dem die Marktwirtschaft begründet und für
notwendig erklärt wird, im Widerspruch steht ("Nach dem klassischen
Wirtschaftsmodell sind Menschen eigennützig und würden keinen Finger
rühren, um anderen zu helfen -- etwa Informationsgüter zur Verfügung
stellen -- ohne eine Gegenleistung zu erhalten").

Er sucht dann nach "Anreize für information sharing", die die Akteure
motivieren, und die nicht immer, aber in vielen Fällen von der Marktlogik
unabhängig sind (weil man teilen *kann;* weil man vielleicht indirekten
Nutzen zieht, etwa durch Verbesserungen durch andere; weil es ein gutes
Gefühl ist, etwas zu einer Gemeinschaft beizutragen; weil es Anerkennung
bringt -- letzteres kann, muss aber nicht zur Verbesserung des eigenen
Marktwerts gedacht sein).

Am interessantesten wird der Text da, wo Heylighen sich die
Organisationsweise der Freien Projekte anschaut und sich fragt, wer wo
warum mitmacht. Er verwendet dafür den Begriff "Stigmergie": eine von
jemand begonnene Arbeit hinterlässt ein Zeichen (griechisch *stigma*), das
andere Agenten dazu anregt, diese fortzusetzen. Ein wichtiger Teil der
Kommunikation in Freien Projekten besteht darin, anderen solche Zeichen zu
hinterlassen, etwa durch To-Do-Listen, Bug Reports, durch die "roten Links"
(Artikel existiert noch nicht) in der Wikipedia, und ganz generell durch
die Offenlegung des Quellcodes, die es jedem ermöglicht, den Zustand eines
Projekts zu begutachten und es dort zu erweitern, wo sie oder er möchte.

Dass jede/r denjenigen Zeichenspuren folgt, die sie oder ihn am meisten
interessieren, sorgt sowohl für eine automatische Priorisierung der offenen
Aufgaben (was mehr Leuten am Herzen liegt, wird im Allgemeinen schneller
erledigt) als auch dafür, dass die unterschiedlichen Kenntnisse und
Fähigkeiten der Beitragenden nahezu optimal eingesetzt werden (man arbeitet
zumeist am dem, was man sich am ehesten zutraut). Und da man sich aussucht,
ob und wo und wieviel man mitarbeitet, sind auch alle motivierter als
Leute, denen eine Aufgabe zugeteilt wird oder die nur wenige
Alternativangebote haben (wie es bei Angestellten in Firmen oder
Selbständigen auf dem "freien Markt" die Regel ist).

In seinem Fazit betont Heylighen dementsprechend auch, dass es sich hierbei
um eine neue Produktionsweise handelt, die sowohl die "Notwendigkeit einer
zentralisierten Planung [im Realsozialismus] als auch einer unsichtbaren
Hand des Marktes [im Kapitalismus]" überflüssig macht -- eine neue
Produktionsweise, die "unser sozio-ökonomisches System revolutionieren"
könnte.

Anders als Varian und Perens hat Heylighen in seinem Text wirklich auf die
beschriebenen Phänomene geachtet, statt sie nur in ein vorgegebenes Schema
pressen zu wollen. Ein schöner Text.

Soweit zum zweiten Kapital -- und keine Sorgen, über die restlichen fünf
Kapitel wird es von mir keine Artikel mehr geben ;-)


-- 
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We are the crisis, we ... who say No!, we who say Enough!, enough of your
stupid power games, enough of your stupid exploitation, enough of your
idiotic playing at soldiers and bosses; we who do not exploit and do not
want to exploit, we who do not have power and do not want to have power,
we who still want to live lives that we consider human, we who are without
face and without voice: we are the crisis of capitalism. The theory of
crisis is not just a theory of fear but also a theory of hope.
	-- John Holloway, Change the World Without Taking Power



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