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Message 00116 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT00116 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
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[chox] das Elend der linken Diskurse ...



...hat reiner Fischbach im "Freitag" sehr schön auf den Begriff gebracht.
Der Artikel verdient weite Verbreitung:
http://www.freitag.de/2003/19/03190301.php
weil er auch zeigt, wohin unser Diskurs gehen muß und welche Denkfallen
wir umgehen müssen.
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DIE LINKE UND IHRE TABUS

Wenn nach dem Misslingen des Sozialismus sich die Barbarei als dessen
Alternative abzeichnet, ist eine neue Freiheitsvision der einzig
realistische Weg

Die Zeichen der Zeit bedeuten nichts Gutes: Sie verkünden eine neue Ära
von Krisen und  Kriegen. Dabei hatte alles scheinbar doch so schön
ausgesehen nach dem Zusammenbruch des bürokratischen Sozialismus:
Schlagworte wie Friedensdividende, Zivilgesellschaft, New Economy standen
für die Hoffnung auf Prosperität und Freiheit überall und für alle.
Stattdessen erleben wir heute, wie weite Teile des Südens dieser Erde
weiter verarmen, wie auch in den Metropolen parallel zum Wachstum der
Ungleichheit die Repression zunimmt und der Imperialismus mit
militaristischem Gesicht eine neue, verschärfte Ausprägung erfährt. 

Nach dem Misslingen des Sozialismus zeichnet sich die Barbarei als dessen
Alternative ab. Dies umso mehr, als die Linke, deren Stunde die Krise sein
sollte, diese weder vorausgesehen hat noch dazu in der Lage ist, ihr eine
Analyse oder gar eine Antwort entgegen zu setzen. Seit Jahrzehnten gelingt
es ihr nicht, die Agenda der politischen Debatte nennenswert zu
beeinflussen. Ihr Diskurs bleibt eine Fußnote, und das ist kein Zufall.
Wer die politische Ökonomie weitgehend verdrängt, wer Realismus und Logik
gegen eine postmoderne Blendrhetorik tauscht, wer auf ein genaues
Verständnis der Technologien und Organisationsformen, die den Stand der
Produktivkräfte definieren, zugunsten oberflächlicher Schwärmereien oder
platter Schwarzmalerei verzichtet, wer die Menschheit als Zweck
politischen Handelns aus dem Blick verliert, um scheinbaren
zivilisatorischen und ökonomischen Zwängen oder Naturgesetzen zu folgen,
darf sich über schwindende Relevanz nicht wundern.

Wir stehen heute an der Schwelle einer Reihe von Kriegen, in denen es kaum
verhüllt um die Verfügungsmacht über materielle Ressourcen geht. Es ist
noch nicht lange her, dass Schlagworte wie »gewichtslose Ökonomie«,
»Entmaterialisierung der Produktion« und »Aufhebung des Raumes durch die
Telekommunikation« im Zentrum vieler Diskussionen standen. Wozu, so stellt
sich die Frage, braucht eine gewichtslose Ökonomie noch Rohstoffe, wozu
vor allem noch Erdöl, wenn wir uns demnächst ohnehin nur noch im
Cyberspace bewegen? Was kann denn noch so wichtig sein an einer Metropole
wie New York, wenn wir angeblich schon im Zeitalter der Dezentralisierung
und Deterritorialisierung leben? Oder ist es nicht eher so, dass eine
Linke, die sich in solchen Debatten erging, einfach kapituliert hatte vor
der Herausforderung, die Gegenwart zu verstehen; insbesondere zu
verstehen, dass die Fähigkeit zur zentralen Kontrolle eines verteilten
Produktionsprozesses sowie zur Aneignung von Mehrwert selbst in Raum und
Zeit herzustellen ist.

Auch das »Ende der Arbeitsgesellschaft« galt unlängst noch als ein
unmittelbar bevorstehendes Ereignis. Der Arbeitsgesellschaft, so die
verbreitete Ansicht, werde bald die Arbeit ausgehen. Das war vielleicht
etwas verfrüht, aber man kann der Debatte zugute halten, dass sie immerhin
eine Tendenz wahrgenommen hatte, die man zwar nicht verabsolutieren darf,
die aber unzweifelhaft eine reale ist. Was allerdings verwundert, ist die
Tatsache, dass sich praktisch widerspruchslos ein Knappheitsdiskurs
etablieren konnte, der nur noch das Phänomen - fehlende Arbeitsplätze -
reflektiert, aber sich kaum noch fragt, wie die gnadenlos fortschreitende
Produktivität emanzipatorisch, im Sinne von mehr Freiheit, gewendet werden
 könnte. 

Von vergleichbarer Logik sind die Arzneien, die widerspruchslos
hingenommen werden. Beispiel Rentensystem: Bei einer kopflastigen
Alterspyramide müssten die Bürger - so der Appell an die
Selbstverantwortung - in der manch weichgespülter Linker natürlich eine
förderungswürdige zivilgesellschaftliche Tugend sieht, halt selber
Vorsorge treffen. Ob diejenigen, die solche Vorschläge wiederholen, sich
der Infamie der darin eingeschlossenen Gegenüberstellung bewusst sind?
Denn unterschwellig wird behauptet, dass sozialstaatliche Umverteilung
ebenso unproduktiv wie moralisch minderwertig sei und
selbstverantwortliche Vorsorge produktiv und moralisch empfehlenswert.
Offenkundig ist doch die Kindlichkeit der Vorstellung, durch eine private
Altersvorsorge sei es möglich, tatsächlich etwas fürs Alter auf die Seite
zu legen, wo staatliche Umverteilung zwangsläufig versage. Doch
Volkswirtschaften können kein Geld auf die Seite legen. Alle Ansprüche
müssen aus dem verfügbaren Produkt befriedigt werden, ob sie nun aus
eingezahlten Rentenbeiträgen oder aus Kapitalmarkttiteln stammen. Das
angeblich der Rentenkrise zugrunde liegende Problem einer aus dem
Gleichgewicht geratenen Alterspyramide ist mit der Kapitaldeckung so wenig
adressiert wie mit der traditionellen Umlagefinanzierung.

Alterssicherung ist zwangsläufig immer Umverteilung. Der Unterschied
zwischen der kapitalgedeckten und der umlagefinanzierten Alterssicherung
besteht nur in der Art der Titel, auf deren Grundlage sie erfolgt. Dass
nun private Finanzmärkte das Geschäft der Umverteilung effizienter und
zuverlässiger erledigen als öffentliche Versicherungsträger, ist genau so
unplausibel wie die populäre Annahme, Einzahlungen für die kapitalgedeckte
Rente würden im Gegensatz zum herkömmlichen System der gesetzlichen Rente
zum Wachstum des Produktivvermögens beitragen. 

Was hier zum Vorschein kommt, ist das Unvermögen, zwischen Real- und
Finanzinvestitionen zu unterscheiden. Nicht jeder Erlös aus dem Verkauf
von Aktien fließt in Produktionsanlagen oder in Forschung und Entwicklung,
und schließlich ist selbst im letzteren Fall nicht gesichert, dass die
Investition sich auch profitabel verwerten lässt. Die Möglichkeit von
Verwertungskrisen liegt gerade in der Abwesenheit solcher Garantien
beschlossen und der New-Economy-Crash machte deutlich, dass man von den
Finanzmärkten bezogene Mittel auch schlicht verschwenden kann.

An dieser Stelle pflegt ein Syndrom aufzutreten, das die Fähigkeit zum
klaren Denken zunehmend beschränkt: Die Neigung, eine Äußerung nicht mehr
nach ihrem Inhalt zu beurteilen, sondern nur noch in ihrem assoziativen
Zusammenhang. Die Phobie gegen einen imaginären Antisemitismus ist eine
ihrer Erscheinungsformen. Wer vom Finanzkapital rede und es gar in
Gegensatz zum Industriekapital bringe, trete doch in die Fußstapfen der
Nationalsozialisten, die das raffende jüdische Finanzkapital dem
schaffenden arischen Industriekapital entgegen gesetzt hätten. Doch die
Erde bleibt rund, selbst wenn die Faschos das propagieren. Und ein
Unterschied bleibt ein Unterschied, selbst wenn Rassisten darauf ihre
paranoide Weltsicht projizieren. Weder verschwindet der Unterschied
zwischen Finanz- und Realinvestitionen, noch verkleinert sich die Rolle
des Finanzkapitals, wenn man das Reden darüber tabuisiert. Wer die
Gestaltveränderungen verstehen möchte, denen die kapitalistische
Produktionsweise während der vergangenen drei Jahrzehnte unterlag, wird
nicht umhin kommen, die wachsende Rolle des Finanzkapitals und seiner
Agenturen zu würdigen. 

All die akademischen Verweise darauf, dass letztlich dahinter doch das
eine Kapitalverhältnis stehe, sind so trivial wahr wie unhistorisch und
analytisch fruchtlos. Denn es bleibt eine Tatsache, dass die Mittel, die
in wachsendem Umfang in die Finanzsphäre strömen, nur begrenzt eine ebenso
reale wie profitable Anlage finden und immer wieder auf das Problem
industrieller Überkapazitäten stoßen. Dass Wirtschaftsbereiche wie die
Telekommunikation, kaum dass sie unter die Regie des Finanzkapitals
geraten waren, diesem Muster umso nachdrücklicher zu folgen begannen,
unterstützt diesen Befund. Von der Rüstung und den großen Kriegen einmal
abgesehen, war die Liberalisierung der Telekommunikation und ihre
Verquickung mit dem Finanzsektor für die größte Fehlallokation und
Vernichtung von Kapital in der menschlichen Geschichte verantwortlich.
Dass sich dabei auch die Alterssicherung einer großen Zahl von Bürgern in
den USA und anderswo, die voll in die Überlegenheit des
Kapitaldeckungsverfahrens vertraut hatten, in Luft auflöste, verbuchen
Finanzprofis als Kollateralschaden.

Nichts verdeutlicht die Unfähigkeit der auf Profit und Konkurrenz
orientierten Wirtschaftsform, Ressourcen angemessen zu verwenden und
gesellschaftliche Ziele zu erfüllen, besser als das Fiasko der
Telekom-Liberalisierung. Groteske Überinvestitionen in Felder, die
schnelle, hohe Profite versprachen, rückständige Infrastruktur in
benachteiligten Gebieten und die Unfähigkeit, Standards als Grundlage für
eine stabile Entwicklung der Technik zu setzen, illustrieren wie kaum ein
anderes Phänomen die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Planung. Nur
die Linke scheint entweder intellektuell schon so weit abgerüstet zu
haben, dass sie die Zeichen nicht zu deuten vermag, oder so demoralisiert
zu sein, dass sie nicht wagt, auf die Agenda zu setzen, was zwar
tabuisiert, aber doch an der Zeit ist.

Dass auch planwirtschaftliche Systeme in vielen, doch längst nicht in
allen Fällen Ressourcen verschwendeten, darf nicht daran hindern,
undogmatisch über das Grundproblem jeder Wirtschaftsordnung nachzudenken:
Mit welchen Mechanismen und nach welchen Kriterien werden Ressourcen
konkurrierenden Zielen zugeordnet? Das schlichte Bekenntnis zum Markt
kapituliert vor dieser Herausforderung, da es dessen offenkundiges
Versagen in vielen Fällen ebenso ignoriert wie die Tatsache, dass Märkte
keine naturhaften Wesen, sondern soziale Institutionen sind, die immer
innerhalb eines kulturellen, rechtlichen und politischen Kontextes stehen.
Die historisch bekannten Mängel planwirtschaftlicher Produktion und
Verteilung resultieren zu einem großen Teil aus dem Fehlen von Demokratie,
die sich in mangelhafter Information der Planer und der Abwesenheit
effektiver Aufsicht über die Ausführung des Plans äußert.

Es ist an der Zeit, offensiv einen nachdrücklichen und weit gefassten
Begriff des öffentlichen Gutes, der öffentlichen Infrastruktur wie der
öffentlichen Dienste zu vertreten und Modelle von Organisationen jenseits
des traditionellen Staatsbetriebes zu entwickeln, die diese Güter unter
demokratischer Planung und Kontrolle bereit stellen. Dies umso mehr, wenn
es darum geht, den menschlichen Stoffwechsel mit der Natur so zu
gestalten, dass die Lebensfähigkeit der Gattung gewahrt bleibt. Der Markt
lässt Zahlungsfähigen die Wahl zwischen Dutzenden von Automobiltypen, doch
die Mobilitätsalternative, die langfristig allein mit den vitalen
Interessen der Menschheit verträglich wäre, bietet er nicht an: ein
wirklich lückenloses, die wesentlichen Mobilitätsbedürfnisse
befriedigendes öffentliches Verkehrssystem. Der Markt liefert ein
Eigenheim im Grünen, von dem aus die Arbeitsstätte, das Einkaufszentrum,
die Schule, ganz zu schweigen von Kino, Theater oder einem Stück
unverbauter Natur nur unter absurdem Verkehrsaufwand erreichbar sind, doch
eine Siedlungsstruktur, die menschlichen Bedürfnissen und dem Ziel der
Erhaltung und Schonung von Naturräumen gerecht werden würde, offeriert er
nicht. Dazu bedürfte es einer umfassenden Planung.

In einer Waren zum Zwecke des Profits produzierenden Gesellschaft bemisst
sich der Wert des Lebens nach seiner Dienstbarkeit und Nützlichkeit zu
eben diesem Zweck. Je effizienter sie Waren zu produzieren vermag, desto
mehr ist sie gezwungen, die Warenproduktion auszudehnen, die Ausbeutung
der Arbeit und der Natur zu intensivieren. Die Umwandlung der letzten
Allmenden, wie der biologischen Vielfalt oder der intellektuellen
Gemeingüter, in Privateigentum, die Auflösung der Gemeinwesen als
gesellschaftlicher Einheiten, die wesentliche Aufgaben der Daseinsvorsorge
selbstbestimmt wahrnehmen, die Zunahme der Ungleichheit und der Ausschluss
wachsender Bevölkerungsteile liegen in der Konsequenz dieser Form der
Vergesellschaftung. Eine Linke, die diesen Zusammenhang nicht mehr sieht,
ist überflüssig.

Wenn der Aufwand für die Produktion von Gütern unaufhaltsam sinkt, dann
ist die Zeit gekommen, die zur Schranke gewordene Warenproduktion als
Maßstab für das menschliche Leben anzugreifen und aufzuheben. Warum muss
die Warenproduktion in immer groteskere Dimensionen ausgedehnt und ihre
zwangsläufige Stagnation angesichts wachsender Produktivität und sinkender
Masseneinkommen mit dem paradoxen Ruf nach einer weiteren Absenkung des
Lebensstandards beantwortet werden? Wenn wir es ernst damit meinen, unsere
Kinder unter angemessenen Bedingungen aufwachsen zu lassen, den Alten ein
Leben in Würde zu ermöglichen und selbst ein erfülltes Leben jenseits der
Zwänge von Lohnarbeit und Konsum zu führen, dann ist eine neue
Freiheitsvision der einzig realistische Weg. Dass eine solche Vision ein
hohes Maß an Umverteilung erfordert, ist nichts anderes als der Ausdruck
dafür, dass herkömmliche Güterproduktion nur noch einen schwindenden Teil
des menschlichen Lebens ausmacht. Für die sogenannten »Leistungsträger«
wird das in dem Maße erträglich, in dem sie erkennen, dass das Wohlergehen
der Gesellschaft, von dem ihre Lebensqualität auch ein Teil ist, noch von
ganz anderen Leistungen abhängt als denen, die bisher als solche und damit
als werthaltig galten.

Für die Menschheit geht es darum, ob sie in Zukunft nur noch als eine
Masse von Kostenfaktoren erscheinen will, aus der sich das Kapital eine
kleine Elite von Produktionsfaktoren und Kunden erwählt, oder ob sie den
Mut findet, sich in Gemeinwesen zu verbinden, die Fragen ihres
Zusammenlebens wie auch ihres Stoffwechsels mit der Natur solidarisch
regeln, die sich Institutionen geben, die etwas anderes sind als die
Exekutivausschüsse der Vermögenden. Denn genau das irreversibel
auszuschließen, ist der zentrale Punkt der gegenwärtigen
Flexibilisierungs- und Liberalisierungsattacken. Auch die im Moment völlig
aus den Augen gekommene Perspektive, jenseits eines quantitativen
Wachstums den Stoffwechsel mit der Natur in einer Weise zu regeln, die
nicht nur gegenwärtigen menschlichen Bedürfnissen dient, sondern auch mit
dem langfristigen Überleben der Gattung vereinbar ist, wird von diesem Mut
abhängen.


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