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Das Richtige unter den Trümmern des Falschen

Marcus Hammerschmitt   30.05.2004 

Marx auf der Höhe der Zeit 

Der Kommunismus ist ein scheintoter Hund. Während seine Gegner in allen 
Himmelsrichtungen von Triumph zu Triumph, von Katastrophe zu 
Katastrophe marschieren, ob es sich nun um imperiale Kriege zur 
Durchsetzung der allerneuesten Weltordnung handelt, das streberhafte 
Gehechel von Juniorimperialismen, die dem Vorbild nach den Fersen 
schnappen, oder das fröhliche Wiederaufleben des religiösen 
Mittelalters - der Kommunismus spielt keine Rolle. Karl Marx hingegen 
wirkt frischer denn je. 

Er wird unter die größten Deutschen  gewählt [1] man  interviewt [2] 
ihn, zitiert ihn auf Stadtteilfesten am Vorabend des 1. Mai, seine 
Schriften geben Managern gute  Tipps [3] zum Selbstverständnis, man 
überprüft sie auch sonst auf ihre  Aktualität [4] - manche glauben 
sogar, die bisher erfolgreichste Ideologie der sozialen Befreiung sei 
dabei, sich von ihren großen Niederlagen zu erholen. Tut sie das 
wirklich? Geht ein Gespenst um, wenn auch nur ein kleines? 

 Nach den Mühen der Gebirge beginnen die Mühen der Ebenen, heißt es bei 
Brecht. So verhält es sich mit diesem Wörterbuch. Als der erste Entwurf 
diskutiert wurde, 1983, türmte sich vor uns der Marxismus-Leninismus 
mit seinen Berührungsverboten, gotisch-absolutistisch wie der Dom der 
Moskauer Universität. Einige Jahre danach brach das Ewigkeitsgebäude 
zusammen. Die Katastrophe kennt keine Unterschiede. Unter den Trümmern 
des Falschen liegt auch das Richtige. Dem historisch-kritischen Projekt 
war unversehens die Bedeutung der rettenden Kritik zugewachsen. Doch 
nun versperrten ihm ebenso viele neue Hindernisse den Weg. Enttäuschte 
Abwendung nicht nur von Marx und jeder Art von Marxismus, sondern von 
eingreifendem Denken und theoretischer Kritik schlechthin beherrschte 
die Zeit, in der die Sieger im Kalten Krieg sich am Ende der Geschichte 
wähnten.   

So beginnt das Vorwort zu einer unverkäuflichen Leseprobe aus dem 
 Historisch-Kritischen-Wörterbuch des Marxismus [5] das von Wolf und 
 Frigga Haug [6] redigiert und herausgegeben, mittlerweile bei dem 
Buchstaben J angekommen ist. 

Die Kritik der Kritik 

Knapp und präzis beschreibt Haug hier die Schwierigkeiten, denen sich 
die Marxisten nach 1989 gegenüber sahen - unter den Trümmern des 
Falschen lag auch das Richtige, liegt es immer noch. Wolf Haug hat 
seitdem auch abseits der Arbeit am seinem Wörterbuch mit großer 
Zähigkeit Inventur betrieben, und einer seiner Kernpunkte scheint dabei 
zu sein, dass die marxistische Kritik der Gesellschaft sich selbst 
kritisieren muss, will sie einen glaubwürdigen Standpunkt vertreten. 

Das schließt ein, Marx' Fehler klar zu  benennen [7], ohne Furcht vor 
der Zustimmung derer, die nicht einmal ahnen, was er meint. 

Die Kritik der Kritik ist aber nicht nur aus Gründen der 
Glaubwürdigkeit wichtig, sondern auch um eine linke Form der 
Trümmerfrauenneurose zu vermeiden: Es taugt einfach nichts, frisch, 
fromm fröhlich weiter zu machen wie vorher, nachdem die gröbsten 
Aufräumarbeiten stattgefunden haben, der simple Glaube daran, dass 
"beim nächsten Mal schon "alles anders" wird, trägt den Keim kommender 
Katastrophen in sich. 

Mit vorsichtiger Gründlichkeit machte sich auch gleich nach dem Ende 
des Ostblocks der Mathematiker  Michael Heinrich [8] ans Sortieren. Das 
Ergebnis der Mühe, sein Buch  "Die Wissenschaft vom Wert" [9], 1991 und 
noch einmal 1999 in einer erweiterten und korrigierten Fassung 
erschienen, ist in jeder Hinsicht bemerkens- und empfehlenswert. 

Es bietet nicht nur einen Abriss der Entwicklungsstufen der Marxschen 
Schriften, deren Disparatheit, ja geradezu Unvereinbarkeit von jeder 
"orthodoxen" Marx-Rezeption unterschlagen werden muss, um seinem Werk 
eine gusseiserne Einheit aufzuzwingen, die es nicht hat. Heinrich 
gelingt es auch sehr überzeugend, Marx' Kampf mit seinem 
zeitgenössischen Hauptgegner, der politischen Ökonomie von  Smith [10] 
bis  Ricardo [11] als einen paradigmatischen Bruch mit dem 
Vorgefundenen darzustellen, eine lebenslange Anstrengung um eben die 
neue "Wissenschaft vom Wert", die der Titel meint. 

Lieblingsmythen und massive Fehler 

Nebenbei erledigt Heinrich ein paar der Lieblingsmythen, die sich um 
Marx ranken, so zum Beispiel die weitverbreitete Idee, die 
Arbeitswerttheorie zur kapitalistischen Produktionsweise stamme von 
Marx (bereits Smith hat sie formuliert), oder die uninformierten 
 Gerüchte [12], Marx' sei Antisemit gewesen. 

Mit dem Sachverstand und der argumentativen Klarheit des Mathematikers 
weist aber eben auch Heinrich Marx massive Fehler nach. So rechnet er 
ihm zum Beispiel vor, dass sein Gesetz vom tendenziellen Fall der 
 Profitrate [13] so nicht stimmen kann. 

Auch die Inkonsistenzen, mit denen Marx versuchte, das sogenannte 
 "Transformationsproblem" [14] Ricardos zu lösen, werden von Heinrich 
nicht geschont. Er weist nach, dass der Versuch der Transformation von 
Arbeitswerten in Produktionspreise innerhalb des Marxschen 
Gedankengebäudes zu unlösbaren Widersprüchen führt. 

Obwohl Heinrich seine Arbeit ab und zu durch ungerechtfertigtes 
Vertrauen in postmoderne Denkfiguren beschädigt, ist er doch schon 
allein durch seine profunde Textkenntnis dem amüsanten, aber 
letztendlich nichtigen Geschwafel eines Slavoj Zizek (  "Die Revolution 
steht bevor" [15]) oder gar den komplett ahnungslosen, rein 
postmodernen  Elaboraten [16] über Marx um Lichtjahre voraus. 

Neue Lesart gegen "Verkürzer" 

Während der "Indeterminate Kommunismus"-Kongreß in Frankfurt vielfach 
als beliebiges  Spektakel [17] angesehen wurde, das mit einem 
uneinlösbaren Radikalitätsanspruch flirtete, fällt das bei einer an 
sich ähnlich gelagerten Veranstaltungsreihe der  Offenen Antifa 
Münster [18] schwerer. 

"Gesellschaft im Widerspruch" hieß sie und wollte Beiträge zur Klärung 
von "Theorie und Praxis, Geschichte und Zukunft des kommunistischen 
Projekts" leisten. Schon der  Einladungstext [19] ist lesenswert. Die 
(neben anderen) im Veranstaltungsreader enthaltenen Essays von Stefan 
Grigat, Horst Selisch und Ingo Elbe treiben die Kritik der Kritik erst 
recht auf einem Niveau voran, dem man nicht alle Tage begegnet. 

Am weitesten geht in dieser Hinsicht Ingo Elbe, der, mit einer ähnlich 
umfassenden Textkenntnis wie Michael Heinrich ausgestattet, vehement 
gegen die quasi naturgeschichtlichen Notwendigkeiten argumentiert, die 
der Marxismus-Leninismus aus dem Werk von Marx herauslesen wollte. 

Gegen die immer noch und immer wieder kursierenden Ideen von Marx als 
einem theoretischen Sachwalter geschichtlicher Gesetze, gegen jeden 
fröhlich-grimmigen Revolutionsoptimismus setzt Selisch eine extrem 
skeptische Lesart, die den "exoterischen Marx" der 
marxistisch-leninistischen Verkürzer zurückweist, und ihnen vorwirft, 
sich lediglich an die proklamatorischen, leicht verständlichen und von 
moralischer Empörung getragenenen Texte von Marx zu halten, während 
ihnen der Haupteil seines Werks, die bis in feinste Verästelungen 
hineinreichende Kritik der politischen Ökonomie, unerschlossen bleibt. 
(Vortrag als  mp3 [20]). 

Die Antideutschen Kommunisten 

Auf einer ganz anderen Baustelle sind Antideutschen Kommunisten 
 beschäftigt [21]. Sie haben mittlerweile genug Aufmerksamkeit erzeugt, 
um sogar dem Verfassungsschutz  aufzufallen [22]. 

Mit Vehemenz kritisieren sie den althergebrachten Antiimperialismus der 
Linken, da er ihrer Meinung nach vor allem in Deutschland nie etwas 
anderes war als ein links gewirktes Gewölle aus antiamerikanischen und 
antisemitischen Ressentiments. Das ist an sich eine diskussionswürdige 
Position, führt aber bei den Antideutschen teilweise zu schon 
humoristisch interessanten Konsequenzen. 

Die Existenz des Imperialismus an sich wird geleugnet, und die USA 
werden bedingungslos als eine grundgute Friedensmacht wahrgenommen; am 
seltsamsten sind aber die regelmäßigen 
 Fahnenschwenkerwettbewerbe [23], bei denen sich die deutschen 
Antideutschen als die besseren israelischen Patrioten aufführen. 

Das wäre als Provokationstheater gegenüber einer tatsächlich von 
antisemitischen Ressentiments durchtränkten globalisierungskritischen 
und antiimperialistischen Linken völlig in Ordnung. Aber der lachhaften 
Kinderernst, mit dem das Ganze vorgebracht wird, hat Gaston Kirsche 
neuerdings in der Wochenzeitung Jungle World zu dem Kommentar 
veranlasst, auch die antideutsche Linke  halluziniere [24] 
Einflussmöglichkeiten, welche die Linke in Deutschland noch nie hatte. 

Mit Kommunismus haben die Antideutschen sowieso nichts zu tun, das ist 
einfach nicht ihr Thema. Gleichwohl weist das Auftreten der 
Antideutschen mit Beharrlichkeit auf einen großen blinden Fleck der im 
weiteren Sinn kommunistisch orientierten Linken insgesamt hin: Selbst 
eine gelingende Revolution könnte die Tatsache Auschwitz nicht 
austarieren. Weil das Schlimmstmögliche sich bereits als machbar 
erwiesen hat, würde eben nicht alles gut. 

Die Krisis-Gruppe 

Wie nicht anders zu erwarten, bleiben Streit, Spaltungen, ideologisches 
Gezänk nicht aus. So hat sich zum Beispiel die von Robert Kurz 
seinerzeit ins Leben gerufene  Krisis-Gruppe [25] nach internen 
Querelen  gespalten [26] (siehe auch  hier [27]). 

Kurz war mit seinen popularisierten Marx-Interpretationen und mit 
seinem, gelinde gesagt, befremdlichen Kommunikationsstil ein erklärter 
Feind nicht nur der Antideutschen Kommunisten, der bereits erwähnte 
Wolfgang Haug warf ihm  "Lorianismen" [28] vor (will sagen: 
spekulativen intellektuellen Blödsinn), die Spannungen in seiner 
eigenen Gruppe waren groß genug, um ihn letztendlich selbst hinaus zu 
katapultieren. 

Kann Marx auf die Höhe der Zeit gebracht werden? 

Eine Posse mit kompatiblem Umfeld, gewiss, doch ist das Gezerre der 
Tendenzen in verschiedene Richtungen für die Entstehung eines Vektors 
unabdingbar, und wenn die Formulierung "Kritik der Kritik" irgend etwas 
bedeuten soll, dann wird sie Streit unter den Kritikern bedeuten. 

Von der Qualität dieses Streits hängt es ab, ob der Marxismus 
entrümpelt, ob seine angestaubten, dogmatischen Ecken entstaubt werden 
können, und ob er auf die Höhe der Zeit gebracht werden kann. Wobei das 
Risiko natürlich nicht nur in den grundsätzlichen, beträchtlichen 
Problemen der Marxschen Theorien selbst liegt, sondern auch in der 
Frage, ob diese Theorien, am Anfang des industriellen Zeitalters 
formuliert, einhundertfünfzig Jahre später noch echte Deutungsmacht 
besitzen - und wenn ja, welchen Teilen davon diese Deutungsmacht in 
besonderer Weise zukommt. 

Ist das Richtige vom Falschen lösbar, oder ist beides so eng 
miteinander verwoben, dass ein radikaler Neuanfang notwendig wird? Dass 
es in diesem riskanten Prozess der Klärung keine Garantien gibt, keine 
"theory to end all theories", keine patentierten Endpunkte der 
Entwicklung, sondern höchstens Skepsis und Dialektik, hätte Marx selbst 
in jedem Fall unterschrieben. Womit der schlaue Philosoph aus Trier 
zumindest in diesem Punkt auch dann der zuletzt Lachende wäre, wenn ihn 
die Geistesgeschichte eines Tages vollkommen überholt haben sollte. 

Links 

[1] http://www.zdf.de/ZDFde/inhalt/31/0,1872,2051839,00.html
[2] http://ing.bio.miami.edu/marxsghost.html
[3] http://www.online-buchvertrieb.de/blv/html/3-8218-1626-0.htm
[4] http://www.kommunismuskongress.de/
[5] http://www.argument.de/wissenschaft/hkwm.html
[6] http://www.friggahaug.inkrit.de/
[7] http://www.antville.org/gd/concord/MARXMNX.pdf
[8] http://www.dampfboot-verlag.de/buecher/a79.html
[9] http://www.dampfboot-verlag.de/buecher/454-5.html
[10] 
http://staff-www.uni-marburg.de/~multimed/theorie/klassik/smith/smith.ht
ml
[11] http://www.planet-interkom.de/thorsten.hapke/VWL_Gesch7_Exkurs.htm
[12] http://www.kulturkritik.net/Quellen/antisemitismus.html
[13] http://www.mlwerke.de/me/me25/me25_221.htm
[14] 
http://www.staff.uni-marburg.de/~fgpoloek/publikationen/einzelbeschreibu
ngen/s1.html
[15] http://www.perlentaucher.de/buch/12496.html
[16] http://www.hydra.umn.edu/derrida/2dt.html
[17] http://www.jungle-world.com/seiten/2003/46/2038.php
[18] http://www.oam.antifa.net/
[19] 
http://www.oam.antifa.net/modules.php?op=modload&name=News&file=article&;
sid=76&mode=thread&order=0&thold=0&POSTNUKESID=3141d35ad9d78b051cb0f647c
5cf139b
[20] http://oam.antifa.net/archiv/vortraege/elbe.mp3
[21] http://www.redaktion-bahamas.org/
[22] http://www.im.nrw.de/sch/414.htm
[23] http://www.jungle-world.com/seiten/2004/13/2831.php
[24] http://www.jungle-world.com/seiten/2004/19/3105.php
[25] http://www.krisis.org/
[26] http://www.giga.or.at/others/krisis/erklaerung_krisisspaltung.html
[27] http://www.giga.or.at/others/krisis/zur-spaltung.html
[28] http://www.linksnet.de/artikel.php?id=566

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