DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER

Die hier archivierte Mail kann, muss sich aber nicht auf den Themenkomplex von Oekonux beziehen.

Insbesondere kann nicht geschlossen werden, dass die hier geäußerten Inhalte etwas mit dem Projekt Oekonux oder irgendeiner TeilnehmerIn zu tun haben.

DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER

Message 02009 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT02009 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[chox] Modell des sozialistischen Anarchismus



Keine Investoren, kein Boss, kein Businessplan
Wie sich ein neu gegründeter Berliner Telekommunikations-Anbieter nach dem 
Modell des sozialistischen Anarchismus managt

Von Gregor Schiegl

Fünfzig Personen wurden festgenommen, 24 von ihnen dem Haftrichter vorgeführt. 
Für Berliner Verhältnisse ging es am "Revolutionären 1. Mai" dieses Jahres 
relativ ruhig zu. Doch das war nicht der Grund, warum Dmitry Kleiner nichts 
von den Tumulten mitbekommen hat. Der 36-jährige Exil-Kanadier, der bis zu 
seinem fünften Lebensjahr in der sowjetischen Ukraine gelebt hat, war an 
diesem 1. Mai mit einem anderen anarchistischen Projekt beschäftigt: der 
Gründung eines revolutionären Dienstleistungsunternehmens.

"Die Telekommunisten" nennt sich der Branchenneuling, und wie es sich für 
echte Kommunisten gehört, sind die Telekommunisten international organisiert. 
Außer in Berlin haben sie noch ein Büro in Montreal, New Orleans, Nottingham, 
sowie einen Partner in Johannesburg, Südafrika. Allerdings sind die 
Telekommunisten weder Arbeiter noch Bauern. Sie sind Programmierer. 
Ihr "Produktionsmittel" ist Open Source Software, ihr Produkt ein 
Telekom-Service auf Basis einer selbst entwickelten 
Voice-over-IP-Plattform. "Wir fanden das eine gute Idee", sagt 
Systemadministrator Kleiner, der den Bart ganz nach dem Schnitt Lenins trägt. 
Und mit "wir" meint er das kleine Kollektiv der Telekommunisten.

Vor fünf Monaten ist ihr revolutionäres Produkt auf dem Markt des real 
existierenden Kapitalismus angekommen. Zum Einstieg wird den Kunden Telefonie 
fast zum Ostblock-Tarif geboten: 109 Euro kostet das gesamte Leistungspaket 
für 30 Apparate im Monat. Dafür versprechen die Telekommunisten Ferngespräche 
für weniger als zwei Cent, Extra-Funktionen wie Konferenzschaltungen, 
E-Mail-Fächer, Rufumleitungen, Mailboxen und Bandansagen.

Privatisierte Revolution

Der Slogan "Telekom for the people" (Telekom fürs Volk) ist allerdings etwas 
irreführend. Zielgruppe der Telekommunisten sind eher kleinere Unternehmen 
und Organisationen, die sich mit dem Service der Telekommunisten die 
Anschaffung einer teuren Telefonanlage sparen können. Für der privaten Nutzer 
ist das Angebot weniger interessant. Und das ist vielleicht ganz gut so. Denn 
die Bezeichnung "Telekommunisten" ist für Kleinkunden bereits negativ 
besetzt. Sie wird gerne in Internet-Foren bemüht, wenn es darum geht, den 
ehemaligen Staatsbetrieb Deutsche Telekom zu schmähen, der auf viele immer 
noch behäbig und träge wirkt, ineffizient und teuer. Also irgendwie 
kommunistisch.

Die neuen Telekommunisten sind dagegen agil und klein. Und rot gefärbt bis in 
die Wolle. Dmytri Kleiner ist nicht nur Programmierer, sondern auch 
Programmatiker. So hat er eine Strategie entwickelt, die den Kapitalismus mit 
Mitteln der Ökonomie langsam in einen echten Kommunismus überführen 
soll. "Venture Communism" nennt Kleiner das Konzept. Die Telekommunisten sind 
dabei so eine Art Prototyp einer Venture-kommunistischen Zelle. Funktionieren 
soll die Venture-Kommune ähnlich einem Venture-Capital-Unternehmen. Nur, dass 
die Mitarbeiter statt Kapital ihre Arbeitsleistung in ein innovatives, 
wachstumsträchtiges Unternehmen stecken. Für seine Arbeitsleistung erhält 
jeder einen gleichen Anteil am Unternehmen. Von den Erlösen wird der Lohn 
bezahlt. Was an Gewinn übrig bleibt, ist Gemeinschaftseigentum, mit dem sich 
die Venture-Kommunisten Stück für Stück die Welt von den Kapitalisten 
zurückkaufen. Das ist zumindest die Idee.

So wie es einst Karl Marx im "Kapital" propagiert hat, ist das Kollektiv der 
Bit-Arbeiter auch Eigentümer und Herr über alle Produktionsmittel des 
Betriebs. Wie einen volkseigenen Betrieb Fernsprech-Dienste darf man sich das 
Unternehmen aber nicht vorstellen. "Unser Modell hat nichts mit dem 
Staatssozialismus zu tun, wie es ihn in der DDR oder der Sowjetunion gab", 
betont Kleiner. Es ist eher Geistes Kind von Michail Bakunin. Der russische 
Anarchist war innerhalb der sozialistischen Ideenwelt der Antipode zu Marx 
und Engels und galt als zentrale Figur des libertären Sozialismus. Bakunin 
hielt, wie viele Top-Manager heute, jede Art von Staat für Versklavung.

Deswegen gibt es bei den Telekommunisten auch keinen Chef. "Wenn wir 
unterschiedlicher Meinung sind, diskutieren wir. So lange, bis wir zu einer 
Entscheidung kommen", sagt Dmytri Kleiner. Wir, das sind er und William 
Waites, sein kanadischer Kompagnon. Sie sind die Zweier-Bande, die das 
operative Geschäft führt. Die anderen mischen sich nicht ein und machen nur 
ihre Arbeit.

Das Hauptquartier der Telekommunisten ist das historische Berliner 
Haupt-Telegrafenamt, ein verwittertes und von Ruß geschwärztes Gemäuer in der 
Oranienburger Straße. Hier führt Dmytri Kleiner das Europa-Geschäft, wenn er 
sich nicht gerade um eines seiner vielen anderen Projekte kümmert. Kleiner 
arbeitet nebenher noch als technischer Koordinator für die SGSA, 
die "Specialist Group for the Study of Anarchism". Außerdem bringt er 
Immigranten in Berlin bei, wie sie sich im Internet zurechtfinden und wie sie 
damit Kontakt zu ihrer Heimat halten können. Wie sie durch virtuelle 
Vernetzung ihrer sozialen Isolation entkommen können.

Die Telekommunisten sind für Kleiner nur ein weiteres Projekt in seinem großen 
Plan, die Welt zu verbessern: So soll ein Anteil am Gewinn des Unternehmens 
an den "Katrina Relief Fund" fließen, der den Opfern des Wirbelsturms Katrina 
in New Orleans hilft. Bevor es zum Fundraising kommt, brauchen die 
Telekommunisten allerdings erst einmal Kunden, Akquisiteure, ein 
Vertriebsnetz. Das ganze kapitalistische Instrumentarium.

Eigene Mittel

Einen Businessplan haben die Telekommunisten nicht. Aber der sei auch nicht 
nötig, sagt Kleiners Genosse William Waites, weil kein Fremdkapital verwendet 
werde, sondern nur eigene Mittel. "Trotzdem kennen wir natürlich den Markt, 
in dem wir operieren. Wir kennen uns sehr gut mit den entsprechenden 
Technologien aus, und haben eine genau abgestimmte Strategie, wie wir unser 
Wissen einsetzen können, um ein zukunftsfähiges Unternehmen zu schaffen." Der 
alte Anarchist Bakunin hatte da weniger Ehrgeiz. Ihm wird der Satz 
zugeschrieben: "Jeder Aufruhr ist immer nützlich - so erfolglos er sein mag."

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.229, Donnerstag, den 05. Oktober 2006 , Seite 27
_______________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organization: http://www.oekonux.de/projekt/
Contact: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: choxT02009 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
Message 02009 [Homepage] [Navigation]