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Message 02052 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT02052 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
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[chox] "Es kann heute jeden treffen"




Heiner Geißler über den Missstand

SZ: Sie haben in den 70er Jahren die "neue soziale Frage" thematisiert. Jetzt 
entdeckt die Politik plötzlich das Problem einer neuen Armut. Was ist daran 
anders als früher?

Geißler: Die neue Armut ist ein Produkt der Politik. Es ist das Ergebnis eines 
System- und Denkfehlers. Bisher war die Armut klar an bestimmten 
Bevölkerungsgruppen festzumachen: Sozialhilfeempfänger, alleinerziehende 
Mütter, ein Teil der älteren Leute. Armut betraf Menschen, die keine Lobby 
hatten. Heute ist die Armut wieder bei den Arbeitnehmern angekommen. Und zwar 
wegen Hartz IV.

SZ: Welche Auswirkungen hat Hartz IV bei der Ausbreitung der Armut?

Geißler: Ganz entscheidende, vor allem auch psychologisch. Es sind zwar die 
Sozialhilfeempfänger etwas besser gestellt worden, aber der kardinale Fehler 
war die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, auch wenn das aus 
fiskalischen Gründen sinnvoll war. Früher errechnete sich die 
Arbeitslosenhilfe nach einem bestimmten Prozentsatz vom letzten Nettolohn. 
Das ist beseitigt worden. Nach einem Jahr Arbeitslosengeld landen heute auch 
Leute, die 20, 30 Jahre gearbeitet haben, bei Hartz IV und werden damit 
behandelt wie 30-jährige Alkoholiker. Vor diesem Schicksal ist keiner mehr 
gefeit. Es kann heute jeden treffen, den Opel-Ingenieur genauso wie den 
BenQ-Spezialisten.

SZ: Ein Jahr Arbeitslosigkeit kann heute also ausreichen, um arm zu werden?

Geißler: Ja, richtig. Diese Verarmung wird auch dadurch herbeigeführt, weil 
die Leute, die vorher 30 Jahre gearbeitet haben, vorher fast alles versilbern 
müssen, was sie für sich und ihre Familien erspart haben. Arbeitsplätze 
bekommen sie wegen der falschen Konjunkturpolitik dann trotzdem nicht.

SZ: Hartz IV, das war die Regierung Schröder. Die Union hätte es doch gerne 
noch viel neoliberaler gehabt.

Geißler: Ja, weil sich die Union damals in einem marktradikalen Sinnesrausch 
befand und blind geworden war für die eigentliche Aufgabe einer Volkspartei: 
nämlich für Gerechtigkeit auch für die kleinen Leute zu sorgen.

SZ: Was müsste die Politik denn anders machen?

Geißler: Wir brauchen für eine Humanisierung des Globalisierungsprozesses ein 
Konzept für eine internationale, sozial-ökologische Marktwirtschaft, für 
einen geordneten Wettbewerb. Das Chaos auf den Weltmärkten schlägt zurück auf 
die Lage in Deutschland. Statt ein solches Konzept zu erarbeiten, wird auf 
den Leuten herumgehackt, denen es ohnehin schon schlecht geht. Wer in der CDU 
in der jetzigen Situation auch noch die Kürzung von Hartz IV vorschlägt, wird 
es schaffen, die CDU noch unter 30 Prozent zu bringen.

SZ: Wie groß ist der politische Sprengstoff der Armutsfrage?

Geißler: Die schlimmste Folge ist, dass sich die Armut von selbst ständig 
vermehrt. Es werden immer mehr Leute in die Armut hineingeboren und befinden 
sich damit von Anfang an in einer Diskriminierungssituation. Sie erleben die 
Ausgrenzung schon in der Schule. Das Analphabetentum wird zunehmen, die 
Kriminalität steigen. Es droht ein schleichender Verfall unserer 
Gesellschaft. Eine Entwicklung, wie wir sie aus Amerika kennen.

Interview: Peter Fahrenholz

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.239, Dienstag, den 17. Oktober 2006 , Seite 2
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