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Message 02067 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT02067 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
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[chox] "Wucher ist in neuer Form zurückgekehrt"




Der Professor für Wirtschaftsrecht wirft Banken vor, arme 
Bevölkerungsschichten systematisch zu benachteiligen / "Raffinierte 
Verschleierungstaktiken"


(SZ) In Deutschland läuft eine breite Diskussion über die soziale 
Unterschicht. Auslöser war eine Studie, in der von einem "abgehängten 
Prekariat" mit geringem Einkommen die Rede ist. Diese Menschen fühlten sich 
gesellschaftlich ausgegrenzt, heißt es in dem Papier. Nach Ansicht von Udo 
Reifner, Chef des Instituts für Finanzdienstleistungen (IFF), geht die 
Diskriminierung dieser sogenannten armutsprekären Haushalte auch von Banken 
aus.

SZ: Werden Arme von Kreditinstituten benachteiligt?

Reifner: Leider ist das so. In den USA wird über die sogenannte finanzielle 
Apartheid schon länger diskutiert. Bereits 1963 hat der Soziologe David 
Caplovitz nachgewiesen, dass Arme für Kredite erheblich mehr Geld aufnehmen 
müssen als Reiche. Dieses Phänomen lässt sich auch in Deutschland beobachten. 
Aber darüber geredet wird wenig.

SZ: Banken werden solche Formen der Diskriminierung zunächst einmal 
bestreiten. Wie können Sie Ihre Behauptung belegen?

Reifner: Kreditinstitute wollen vor allem Gewinne erzielen. Nach den 
Besserverdienenden sind es jetzt die Massenkunden, bei denen um höhere 
Erträge gerungen wird. Das gilt besonders für die Privatbanken und in 
wachsendem Maße für die Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Das spüren die 
armutsprekären Haushalte. Da bei ihnen die Rückzahlung eines Kredites 
unsicherer ist, stellen sie für die Bank betriebswirtschaftlich ein höheres 
Risiko dar. Gleichzeitig verursachen sie tendenziell höhere Kosten, weil sie 
oft nur kleine Beträge nachfragen und damit die Bank zunächst nur geringe 
Zinserträge kassiert. Alle diese Faktoren fließen zunehmend in die Berechnung 
des Kredits ein, über den häufig nur noch ein Computer entscheidet.

SZ: Was bedeutet das?

Reifner: Wer eine geringe Aussicht auf ein stabiles Vermögen und Einkommen 
hat, muss für diesselbe Leistung mehr zahlen, und zwar viel mehr, weit mehr, 
als das Risiko es erfordern würde. Erzählt man den Kunden, sie seien ein 
hohes Risiko, dann kann man oft jeden Preis verlangen und die Unkenntnis in 
Geldangelegenheiten durch raffinierte Verschleierungstaktiken ausnutzen.

SZ: Haben Sie Beweise für diesen massiven Vorwurf?

Reifner: Eine große Bank hat mit erheblichem Erfolg für einen Ratenkredit "mit 
kleinen Raten" geworben. Der Kredit sieht dadurch optisch billig aus, ist 
aber in Wirklichkeit teurer, weil der Kunde mit seinen kleinen Raten länger 
und damit mehr Zinsen zahlen muss. Er zahlt am ersten Auto noch ab, wenn er 
das zweite braucht.

SZ: Das ist aber keine Benachteiligung oder Diskriminierung einer bestimmten 
Kundengruppe.

Reifner: 1998 hat die Citibank als erste deutsche Bank damit begonnen, die 
Zinshöhe für Konsumenten generell vom Einkommen des Kunden abhängig zu 
machen. Nur: Die meisten Niedrigverdiener zahlen ihre Kredite pünktlich 
zurück. Warum sollen sie dann höhere Zinsen als die Reichen bezahlen? Diese 
soziale Diskriminierung setzt sich bei den deutschen Geldinstituten immer 
mehr durch. Das gilt auch für andere Marktbereiche. Wer viel Geld mitbringt, 
bekommt bei der Anlage höhere Zinsen. Wer einen hohen Saldo auf dem Girokonto 
hat, zahlt keine Gebühr mehr. Das gehört zur Marktwirtschaft und lässt sich 
nicht verbieten. Man muss es aber begrenzen. Dort, wo es keinen Markt mehr 
gibt, macht sich ohne Gesetze der Wucherer breit, der nur seinen Profit 
sieht.

SZ: Sie haben auch das so genannte Scoring kritisiert - ein branchenübliches 
Verfahren, die Bonität des Kunden anhand von Merkmalen wie zum Beispiel 
Wohnort oder Alter zu prüfen. Ist das nicht auch im Interesse der Kunden, um 
sie vor einer womöglich unüberlegten Kreditaufnahme zu bewahren?

Reifner: Wenn diese Eingruppierung nur die treffen würde, die wirklich 
ausfallen, dann haben Sie Recht. Man schießt aber mit Kanonen auf Spatzen, 
und die Kollateralschäden sind enorm. Wer zu einer Gruppe gezählt wird, die 
für die Bank ein besonderes Risiko darstellt, ist Gefangener seiner Gruppe. 
Dieses System entwickelt sich zu einer Prophezeiung, die sich selbst erfüllt. 
Schlechteres Scoring führt zu höherer Belastung, und dies wiederum zu höherem 
Insolvenzrisiko. Der Angehörige einer solchen Gruppe kann nicht beweisen, 
dass er oder sie durch Eigeninitiative in der Zukunft in der Lage ist, aus 
dieser Gruppenprognose auszubrechen. Er oder sie läuft Gefahr, erst gar 
keinen Kredit zu bekommen. In Deutschland bekommen übrigens auch 
Selbstständige bei manchen Banken grundsätzlich keinen Ratenkredit mehr. In 
den Vereinigten Staaten hat es Stadtbezirke gegeben, wo niemand mehr einen 
Kredit erhalten hat. Seit der Präsidentschaft von Bill Clinton müssen die 
US-Banken offen nachweisen, dass sie in ausreichendem Umfang auch ärmeren 
Bevölkerungsschichten Kredite gegeben haben.

SZ: Wäre es nicht besser, wenn Haushalte in prekären Verhältnissen ganz auf 
Kredite verzichten, um der Gefahr einer Überschuldung zu entgehen?

Reifner: Nein. Wir sind eine Kredit- und Konsumgesellschaft. Das Volumen der 
Konsumentenkredite ist zwischen den Jahren 1970 und 2005 auf gut 250 
Milliarden Euro gestiegen und hat sich damit mehr als verzehnfacht. Auch die 
Ärmeren brauchen die Chance, sich langlebige Konsumgüter wie ein Auto 
anzuschaffen, ihr Studium zu finanzieren und eine Familie mit Mitteln 
aufzubauen, die man später verdient, also auf Pump zu leben. Das Problem 
dabei ist, dass diese armutsprekären Haushalte finanziell sehr labil sind und 
mit der Aufnahme eines Kredites sehr schnell in die totale Abhängigkeit von 
Kreditgebern geraten können.

SZ: Was passiert da genau?

Reifner: Einkommensschwankungen wirken sich bei Haushalten mit geringem 
Einkommen stärker aus als bei höheren Einkommensgruppen. Oft fehlt der 
Rückhalt durch Familienangehörige. Die Liquidität ist gering, weil die 
Bedürfnisse das ausgabefähige Einkommen ständig überschreiten. Zugleich 
bestehen höhere Risiken bei Krankheit, Unfall oder Trennung. Eine Bank kann 
aber schon nach zwei ausgefallenen Ratenzahlungen den Kredit kündigen. Häufig 
wird aber vorher umgeschuldet, statt Privatinsolvenz anzumelden.

SZ: Was ist an einem Antrag auf Privatinsolvenz denn so erstrebenswert?

Reifner: Die Menschen können sich so aus einer Zahlungsunfähigkeit, aus der es 
sonst kein Entrinnen gibt, befreien. Mit dem Umschulden beginnt eine Spirale, 
weil es immer noch höhere Schulden produziert. Wie viele Kredite zur 
Abwendung von Insolvenz umgeschuldet werden, ist unbekannt. Sicher aber ist: 
Es gibt einige Banken, die wie etwa die Citibank bei Verbraucherschützern und 
Schuldnerberatern für ihre Kettenkredite einschlägig bekannt sind. Diese 
Institute stellen dem Kunden die Umschuldung als gutes Mittel dar, 
zusätzliche Liquidität zu erhalten. Umschuldungen sind aber teuer, nur merkt 
der Kunde es nicht, weil die alten Kosten als Teil der Kreditaufnahme 
erscheinen.

SZ: Welche Rolle spielen dabei Restschuldversicherungen, die den Kredit für 
die Bank absichern?

Reifner: Banken setzen sie immer häufiger ein. Das Problem dabei ist, dass sie 
für den Kunden den Kredit erheblich verteuern. Diese Kombination kann bei 
viermaliger Umschuldung die Effektivzinssätze faktisch von 14 auf 32 Prozent 
heraufsetzen, ohne dass dies dem Kunden ausgewiesen wird und ohne dass die 
Gerichte, die die Grenze bei 18 Prozent ansetzen würden, dies merken. Der 
Wucher ist in neuer Form zurückgekehrt und öffnet die Armutsschere.

Interview: Thomas Öchsner

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.243, Samstag, den 21. Oktober 2006 , Seite 28
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