DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER

Die hier archivierte Mail kann, muss sich aber nicht auf den Themenkomplex von Oekonux beziehen.

Insbesondere kann nicht geschlossen werden, dass die hier geäußerten Inhalte etwas mit dem Projekt Oekonux oder irgendeiner TeilnehmerIn zu tun haben.

DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER DISCLAIMER

Message 02169 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT02169 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[chox] Ein Gespräch mit Lawrence Lessig über die Probleme des Urheberrechts im digitalen Zeitalter




<http://epaper.sueddeutsche.de/digiPaper/servlet/articlepageservlet?page=197655&text=1627946&showpicture=true>

<JavaScript:openWindow('../servlet/articlepageservlet?&page=197655&text=1627940&showtext=false&showpicture=true')>
<JavaScript:printWindow()>

weiter <http://epaper.sueddeutsche.de/digiPaper/servlet/articlepageservlet?page=197655&text=1627941&showtext=false&showpicture=true>



   "Steht das Copyright-System neuen Kunstwerken im Wege? Die Antwort
   ist: Ja." Ein Gespräch mit Lawrence Lessig über die Probleme des
   Urheberrechts im digitalen Zeitalter



       SZ: Professor Lessig, große Internetfirmen wie Yahoo und Google
       beabsichtigen offenbar, das Internet in zwei Teile zu spalten:
       einen kommerziellen und einen kostenlosen. Würde solch ein "Web
       3.0" ein Zweiklassen-Internet schaffen? Eines, für das man
       Eintritt zahlt, in dem man in Hochgeschwindigkeit alle Inhalte
       bekommen kann, und ein Standard-Internet für den weniger
       begüterten Rest der Welt? Würde diese Entwicklung die
       Neutralität des Internets aufheben?



       Lawrence Lessig: Ihre Frage berührt zwei Aspekte. Der erste
       betrifft die Entscheidungsgewalt. Anbietern von Kabelfernsehen
       gehört ihr Netzwerk. Sie können bestimmen, welche Programme sie
       zeigen. Die Frage ist, ob diese Macht auch auf das Internet
       übertragbar ist, so dass der Provider der Breitbandinfrastruktur
       auch das Recht hat, darüber zu entscheiden, was auf seinem
       Netzwerk läuft. Eine solche Entwicklung wäre aber schädlich für
       Innovation und Wachstum. Die wichtigste bauliche Eigenart des
       ursprünglichen Internets war ja, dass die ganze Kraft von seinen
       Rändern ausging. Leute, die sich mit dem Netzwerk verbanden,
       wählten aus, was sie ins Netz stellen wollten. Die Provider
       konnten dabei nicht mitreden; sie stellten nur die Bits zur
       Verfügung. Wenn man nun aber anfängt, die Macht in das Zentrum
       des Netzes zu verschieben, würde dies die Innovationskraft des
       Internets schwächen.



       Der zweite Aspekt bei einer Teilung des Internets wäre das
       Copyright. Würde man für die gehobene Klasse Gebühren erheben,
       könnte man sich gleichsam von urheberrechtlichen Ansprüchen
       freikaufen. Darum müssten sich in diesem kostenpflichtigen
       Internet die User über die Legalität des Angebots keine Sorgen
       mehr machen, der ständige Anlass für Rechtsstreitigkeiten würde
       entfallen.



       SZ: Das wäre also eine Art Copyright-Flatrate?



       Lessig: Genau. In Europa ist man seit je sehr erfinderisch bei
       den Methoden, kulturelle Erzeugnisse zugunsten ihrer Urheber,
       aber auch zugunsten des öffentlichen Interesses zu regulieren
       und sie darüberhinaus auch noch als lukrative Einnahmequelle zu
       nutzen. Eine dieser Methoden besteht darin, dem Rechteinhaber
       die volle Kontrolle über die Vervielfältigung des Werkes zu
       geben: Bei jeder Kopie muss man den Urheber um Einverständnis
       bitten. Das Gegenmodell ist das, was man mit Festplatten macht:
       Man belegt sie mit einer Abgabe und ermittelt dann, wer die
       Festplatte wofür nutzt und verteilt den Erlös der Abgabe
       entsprechend an die Künstler. Dieses System hat auch in den USA
       seine Anhänger. Sein Vorteil ist, dass man in die Technologie
       keine Sperren einbauen muss, die das Internet blockieren wie all
       diese Digital-Rights-Management-Sperren, die eine
       Vervielfältigung ohne Zustimmung des Rechteinhabers verhindern.
       Demgegenüber hat das Abgabensystem, bei dem die Künstler desto
       mehr Entgelt erhalten, je häufiger ihre Stücke heruntergeladen
       werden, den Vorteil, dass es für diese Künstler einen Anreiz
       schafft, ihre Arbeit so zugänglich wie möglich zu machen. Auf
       diese Weise wird das Internet zu einer wesentlich produktiveren
       Plattform gemacht.



       Das Problem in Europa aber ist, dass es das Schlechteste von
       beiden Systemen kombiniert. Einerseits belegen Sie die Geräte
       mit hohen Abgaben, um sich damit das Recht auf Vervielfältigung
       zu erkaufen . . .



       SZ: . . . Drucker beispielsweise. Hier will man in Deutschland
       aber die Abgabe auf fünf Prozent des Kaufpreises beschränken.



       Lessig: Das wäre doch schon mal großartig. Gleichwohl, Sie haben
       jedenfalls diese Abgabe auf der einen Seite. Und auf der anderen
       Seite werden sie von amerikanischen Copyright-Inhabern dazu
       gedrängt, das amerikanische Copyright-Modell zu akzeptieren,
       also Kontrolltechnologien zur Verhinderung von Kopien zuzulassen
       - also jenes Digital Rights Management - und gesetzliche



       Regularien zu entwickeln, die es verbieten, diese
       Kontrolltechnologien zu umgehen. Sie haben also nicht nur ein
       System, das die Vervielfältigung beschränkt, sondern zahlen
       obendrein noch die Abgaben.



       SZ: Was ist schlecht daran, geistiges Eigentum mit einem Digital
       Rights Management (DRM) zu kontrollieren, damit keiner ohne die
       Erlaubnis des Rechteinhabers Inhalte kopieren kann?



       Lessig: Schauen wir uns doch einmal an, wie geistiges Eigentum
       von vielen genutzt wird. Ich nenne es das "read-only" Modell.
       Ich verkaufe Ihnen beispielsweise einen Film, und Sie haben das
       Recht, sich diesen Film anzusehen. In solch einer Welt ist das
       DRM-System völlig in Ordnung. Es ist vielleicht teuer, aber es
       funktioniert, da es die Anzahl der Kopien kontrolliert und die
       Künstler für die Verwendung entlohnt. Aber die interessanteste
       neue Entwicklung im Internet ist nicht, wie die Nutzer Inhalte
       konsumieren. Das Spannende ist, wie sie Inhalte selbst
       produzieren, teilen und weiterentwickeln. Jugendliche nehmen
       sich Songs, remixen sie oder basteln aus vier oder fünf Filmen
       einen neuen zusammen für ein Schulprojekt. Das ist doch
       inzwischen der entscheidende Punkt: Die Leute gehen mit den
       digitalen Technologien anders um, sie konsumieren nicht nur, sie
       teilen ihre Kreativität mit anderen. Diese riesigen kreativen
       Möglichkeiten, die die neuen Technologien eröffnen, werden von
       einem perfekten DRM zerstört.



       Die Frage ist: Sollten wir deshalb aufhören, dem Künstler eine
       Kompensation zu geben? Natürlich nicht. Aber wir sollten kein
       Copyright-System aufbauen, das zugunsten eines speziellen
       Geschäftsmodells, das im 20. Jahrhundert zufällig dominant war,
       eine viel wertvollere Form des kulturellen Ausdrucks opfert.



       SZ: Funktionieren nach jenem "speziellen Geschäftsmodell", von
       dem Sie so kritisch sprechen, nicht die gesamte Kunst und
       Wissenschaft in der Moderne?



       Lessig: Nein. Auch vor der Epoche der digitalen Technologien
       existierte ein weites Feld kultureller Nutzungen, die das
       Urheberrecht nicht regulierte. Wenn ich Ihnen ein Buch zu lesen
       gebe, ist das Urheberrecht nicht berührt. Das Urheberrecht
       berührt nur einen kleinen Teil der produktiven Kapazitäten von
       Wissenschaft und Kunst. Im Feld der digitalen Technologien indes
       produziert beinahe jede einzelne Nutzung eine Kopie. Wir müssen
       also einen Weg finden, um die Balance wiederherzustellen: Nicht
       jeder Bereich, in dem wir unsere Kultur erfahren und verwenden,
       sollte reguliert werden.



       Denken Sie an die große Debatte in Großbritannien über die
       Laufzeit des Urheberrechts für Musikaufnahmen. Cliff Richard und
       Paul McCartney treten für eine längere Laufzeit des Schutzes
       ein, 4000 Künstler haben die Petition unterschrieben.
       Peinlicherweise waren darunter einige Tote . . . (lacht). Diesen
       Leuten geht es nur um einen marginalen Prozentsatz - etwa zwei
       Prozent - von allen Werken, die älter als 50 Jahre und noch
       kommerziell interessant sind, denn 98 Prozent dieser Werke sind
       gar nicht mehr auf dem Markt. Unterwirft man diese 98 Prozent
       dem Copyright, dann würden all diese Arbeiten unzugänglich,
       obwohl sie mit einer relevanten Verwertung nichts mehr zu tun haben.



       Das System des Urheberrechts ist zugeschnitten auf die
       kommerzielle Seite der Kreativität - weitet man es aber aus auf
       alle Werke der vergangenen Generationen, dann wird es für alle
       nichtkommerziellen Nutzungen - Bibliotheken etwa - zum
       unerträglichen Hindernis.



       SZ: Übertreiben Sie nicht mächtig?



       Lessig: Nun, Google beispielsweise betreibt das Projekt Google
       Buchsuche, bei dem 18 Millionen Bücher gescannt werden sollen,
       so dass man in diesen 18 Millionen Büchern genauso suchen kann,
       wie man das sonst im Internet tut. Das war der ursprüngliche
       Vorschlag. Von diesen Büchern ist bei 16 Prozent das Copyright
       ausgelaufen. 9 Prozent waren noch urheberrechtlich geschützt und
       auch lieferbar. Das bedeutet, dass die übrigen 75 Prozent dieser
       18 Millionen Bücher urheberrechtlich geschützt waren, aber nicht
       mehr lieferbar. Nun erfordert das Urheberrecht nach Meinung der
       Verlage, dass man jeden Urheber um sein Einverständnis fragt,
       wenn das Buch digitalisiert wird und zugänglich gemacht wird,
       obgleich es gar nicht mehr gedruckt wird. Natürlich ist es
       praktisch unmöglich, all diese Urheber zu finden. Das ist ein
       gutes Beispiel, wie das Copyright jedes sinnvolle Ausmaß
       überschreitet. Warum sollten alle diese Bücher, für die es keine
       kommerziellen Interessen mehr gibt, rechtlichen Sanktionen
       unterliegen? Aber wenn man Chef einer Plattenfirma ist oder Paul
       McCartney, dann denkt man nicht an Bibliotheken und Archive und
       Schulen und Geschichte und Kultur. Denen geht es darum, Geld zu
       machen. Das ist ja in Ordnung. Aber die Politik sollte etwas
       mehr Weitblick beweisen als diese extrem erfolgreichen Künstler.



       SZ: Was ist mit dem geistigen Eigentum, wenn man nicht Paul
       McCartney heißt, sondern ein junger Musiker ist oder
       Schriftsteller, der kein Gehalt bezieht, das ihm erlaubt, seine
       Arbeit kostenlos ins Netz zu stellen, der von dem Produkt seiner
       Kreativität leben muss?



       Lessig: Nehmen wir den Musiker. Er sitzt in seiner Bude und
       denkt sich: Soll ich eine Band gründen? Und dann denkt er sich:
       Die Laufzeit des Urheberrechts beträgt nur 50 Jahre - wenn es 95
       Jahre wären, dann würde ich sofort eine Band gründen . . .
       (lacht). Das ist doch verrückt. Die Ausweitung schafft doch
       keinen Anreiz für diesen Künstler. Ich denke, die größte
       Leistung des Copyrights ist es, dass es für unabhängige Leute
       die Möglichkeit eröffnet, ihrer kreativen Arbeit nachzugehen,
       ohne einen Mäzen zu benötigen, sei es eine Universität, eine
       Plattenfirma oder die Regierung. Das ist der Kerngedanke. Ich
       unterstütze nicht die Piraterie, im Gegenteil. Doch die
       entscheidende Frage ist, ob das Copyright-System Hindernisse
       errichtet, die neuen, großartigen Kunstwerken im Weg stehen. Und
       ich denke, die Antwort ist: Ja.



       SZ: Übergeht diese Zuspitzung nicht, dass ein großer Teil der
       Kultur aus Konsum besteht - auch wenn das nicht das schönste
       Wort dafür ist? Ein Dramatiker schreibt ein Stück, jemand geht
       ins Theater, sieht es an und geht wieder nach Hause. Im
       Idealfall nimmt er neue Ideen mit. Aber im Normalfall wird er
       kein neues Theaterstück schreiben.



       Lessig: Vielleicht sind diejenigen, die Neues daraus schaffen,
       wirklich nur 1 oder 5 Prozent der Menschen. Aber ich weiß genau:
       Ich möchte, dass mein Kind in einer Welt aufwachsen kann, in der
       das, was es mit Kultur macht, sich radikal von dem
       unterscheidet, was ich mit Kultur gemacht habe. Das Kreativste,
       was ich als Kind angestellt habe, war, eine Mixkassette
       aufzunehmen und einer Freundin zu schenken. Unglaublicher
       Einfallsreichtum! Aber sehen Sie sich an, was die Kids heute
       anstellen: Sie nehmen einen Song, zerlegen ihn in einzelne
       Spuren, mischen die mit vier anderen Songs. Sie nehmen sich
       Material aus der Werbung, lösen es aus ihrem Kontext und
       schaffen daraus etwas Neues. Sie sind genauso kreativ, wie sich
       das ein Dozent im kreativen Schreiben vom Umgang mit Texten
       erhofft. Das ist ein guter Vergleich: Wir sollten mit allen
       Medien dieselben Freiheiten haben wie mit Texten. Wenn ich ein
       Buch schreibe, zitiere ich andere Leute - und da käme es mir
       doch auch nicht in den Sinn, bei denen anzurufen und um
       Erlaubnis zu fragen.



       SZ: Aber wie weit reicht das Monopol des Inhabers wirklich? Man
       darf nicht einen ganzen Akt eines vorhandenen Theaterstücks in
       ein neues Stück übernehmen. Aber man kann von dem vorhandenen
       Stück lernen, neue Ideen bekommen, neue Techniken der
       Dialogführung etc., die man in ein eigenes Werk fließen lassen
       könnte. Dasselbe trifft auf Bücher zu. Ist nicht der normale
       kreative Prozess viel weniger behindert durch Urheberrechte, als
       Sie es behaupten?



       Lessig: Das, was Sie beschreiben, sind schöpferische
       Verfahrensweisen der



       vordigitalen Welt. Und ich stimme ihnen in einem Punkt zu: In
       der vordigitalen Welt existierte eine Balance. Und genau diese
       Balance möchte ich gerne für das digitale Zeitalter herstellen.
       Aber ich widerspreche Ihnen darin, dass dieselbe Freiheit in
       allen Feldern künstlerischer Betätigung existiert. Wenn ich etwa
       einen Roman schreibe, und jemand will ihn verfilmen, dann kann
       ich die Rechte exklusiv an ihn verkaufen. Und sobald der Film
       gedreht ist, darf niemand sonst den Roman verfilmen, die
       Exklusiv-Rechte liegen bei mir. Wenn aber Paul McCartney einen
       Song komponiert und einspielt, dann darf jeder diesen Song neu
       aufnehmen, wenn er eine feste Reproduktionspauschale zahlt. Die
       abgeleiteten Rechte eines Musikers sind also ganz anders als die
       eines Schriftstellers. Und warum? Weil die Musiker im 20.
       Jahrhundert sagten, die Beschränkung der Rechte der Komponisten
       sei notwendig, damit viele gute neue Künstler hervorgebracht
       werden können. Heute müssen wir also in jedes einzelne Feld
       künstlerischer Produktion blicken und sehen, was dort angemessen
       ist.



       Insbesondere die Musik. Heute gibt es eine Explosion sogenannter
       Laptop-Music. Leute nehmen Musikstücke und einzelne Fragmente,
       mischen sie mit digitalen Mitteln und machen daraus völlig neue
       Stücke. Die Gerichte in den USA verbieten dies aber, wenn keine
       Erlaubnis eingeholt worden ist. Und jetzt haben wir Teenager,
       die in Harlem sitzen und phantastische Musik machen, die sie
       aber nicht veröffentlichen dürfen, weil es unglaublich teuer
       ist, die Rechte zu klären. Viele ignorieren also die Rechtslage,
       andere geben auf, und nicht mal an den Schulen unterrichten
       Musiklehrer, wie das geht, weil man den Kindern ja keine
       illegalen Sachen beibringen soll. Das ist doch lächerlich. Wir
       sollten die Leute ermuntern, sich auf diese Weise kreativ zu
       betätigen. Aber das gegenwärtige System, das aus der Zeit vor
       der Digitalisierung stammt, blockiert das.



       SZ: Versuchen wir, das Vordigitale mit dem Digitalen zu
       verbinden. Ein Beispiel aus der Gesetzgebungsdebatte in
       Deutschland: Ein kleiner akademischer Verlag veröffentlicht
       spezielle Werke, sagen wir zur mittelalterlichen Geschichte. Der
       Verlag hat Vollzeitlektoren, die die Texte, die gedruckt werden,
       auswählen und verbessern. Dieser Verlag ist so spezialisiert,
       dass seine Bücher fast ausschließlich an öffentliche
       Bibliotheken verkauft werden. Nun wird debattiert, ob man den
       öffentlichen Bibliotheken erlauben sollte, das Buch zu scannen
       und auf den Monitoren der Bibliothek zur Verfügung zu stellen.
       Die Auswirkungen auf den Absatz des kleinen Verlages wären
       vermutlich verheerend. Wie würden Sie das Problem lösen?



       Lessig: Die Struktur akademischer Veröffentlichungen, wie sie im
       20. Jahrhundert existiert hat, war ein notwendiges Übel. Es war
       notwendig, weil man die Verteilung der Ausgaben kontrollieren
       musste, um die hohen Kosten für den Verlag zu kompensieren. Aber
       es ist trotzdem ein Übel, weil Wissen - wie Forschung über
       Malariatherapien oder neue Ergebnisse in der Chemie - sich so
       breit und schnell wie möglich verbreiten muss. Die Grenzkosten,
       um an diese Informationen zu kommen, sollten bei null liegen,
       weil es sich dabei um öffentliche Güter handelt, die universell
       zugänglich sein sollten. Jenes System, in dem wissenschaftliche
       Literatur zu einem hohen Preis an öffentliche Bibliotheken
       verkauft wird und dort nur limitiert zugänglich ist, war
       notwendig vor dem digitalen Zeitalter. Ein neues Modell, das
       perfekt ist, gibt es wohl noch nicht, aber wir arbeiten uns
       einem Modell entgegen, in dem eine Zugangsbeschränkung beim
       akademischen Publizieren nicht notwendig ist, weil die
       Vertriebskosten praktisch bei null liegen. Die Frage bleibt
       dann, wie man den menschlichen Arbeitsaufwand, den der Lektoren
       und Autoren kompensiert. Es gibt Modelle, die eine
       Abonnement-Lösung vorsehen oder staatliche Zuschüsse. Ich hoffe
       sehr, dass sich solche Lösungen durchsetzen werden. Es geht
       nicht um Madonna oder Britney Spears, aber ich meine,
       Malariaforschung sollten ein Stück Information sein, das in
       jeder Universität der Welt frei verfügbar ist.



       Wie kommen wir dahin? Ich denke, wir müssen einen offenen
       Wettbewerb zwischen diesen Geschäftsmodellen zulassen. Wer also
       seine Zeitschrift auf die hergebrachte Weise veröffentlichen
       will, der soll das tun. Aber den akademischen Institutionen
       sollte es freigestellt sein, auch durch andere Geschäftsmodelle
       an Inhalte zu kommen. Also solche, die die Vervielfältigung
       nicht behindern. Was diesen offenen Wettbewerb behindert, sind
       Verwertungsgesellschaften, die sagen: Wir besteuern jede
       einzelne Kopie und verteilen dann das Geld. Denn dieses System
       benachteiligt die, die ein anderes Geschäftsmodell favorisieren
       und sagen: wir vergeben unsere Informationen kostenlos und wir
       werden einen Weg finden, wie wir das auf eine andere Weise
       finanzieren.



       SZ: Sie argumentieren mit dringend gebrauchten Erkenntnissen
       über Malaria. So wird die ethische Dringlichkeit deutlich: Wer
       wollte, dass ein böser europäischer Verlag einem afrikanischen
       Wissenschaftler wichtige Informationen vorenthält? Aber was ist
       mit der Normalität? Sie sagen: Lasst uns sehen, welches
       Geschäftsmodell sich durchsetzt. Aber der Begriff "Geschäft"
       beinhaltet doch, dass jemand Geld verdienen muss, sonst gäbe es
       keinen Anreiz für die Produktion der Bücher. Wie soll ein
       normales Verlagshaus in einer Zeit freier Zugänglichkeit überleben?



       Lessig: Nun, ich weiß auch nicht, wie die überleben sollen. Ich
       weiß auch nicht wie Firmen, die Filme für Fotoapparate
       herstellen, in Zeiten der Digitalkamera überleben sollen. Denken
       Sie an die Polaroid-Technologie . . .



       SZ: . . . aber Bücher werden doch noch gedruckt?



       Lessig: Für jede Technologie gibt es ein spezielles
       Geschäftsmodell. Aber Technologien verändern sich. Also
       verlieren manche ihr Geschäft . . .



       SZ: . . . aber nicht jede Technologie verschwindet, wenn eine
       neue auftaucht! In den frühen neunziger Jahren dachte jeder,
       Bücher würden verschwinden und von digitalen Lösungen ersetzt
       werden. Das ist nicht eingetreten.



       Lessig: Okay, neue Technologien ersetzen nicht immer alte. Das
       Radio ist ein Beispiel, es hat die Einführung des Fernsehens
       überdauert. Einverstanden. Der Punkt ist aber: Das Ziel einer
       Wettbewerbspolitik ist nicht, einen Wettbewerber zu schützen,
       sondern den Wettbewerb. Und es könnte sein, dass gewisse Modelle
       nicht mehr wettbewerbsfähig sind. Es könnte sein, dass der
       unabhängige Verlag nicht mehr lebensfähig sein wird. Das ist
       natürlich schade. Aber man muss sich weiterentwickeln und
       Lösungen für den aktuellen Stand der Technologie finden. Ich
       denke nicht, dass ein Urheberrecht dafür da sein muss, jeden
       kleinen Verlag zu beschützen. Das wäre ein moralischer Fehler.



       SZ: Wäre die Konsequenz Ihrer Ideen nicht, dass man eine starke
       staatliche Regulierung einführen müsste, weil umfangreiche
       Fördermittel nötig wären, um Firmen Anreize für Forschung zu
       geben? Vor allem wenn es sich dabei nicht nur um Musik und
       Bücher, sondern auch um medizinische oder industrielle Patente
       handelt?



       Lessig: Patente sind im Prinzip nicht schlecht. In vielen
       Zusammenhängen sind sie ein notwendiges Übel. Solange
       Medikamente von der Privatwirtschaft produziert werden, bleiben
       Patente der Grund, warum darin investiert wird. Aber es gibt
       andere Wege, Medikamente zu finanzieren. Und selbst wenn wir das
       Patentsystem akzeptieren, darf man nicht annehmen, dass dieses
       System, nur weil es für eine Entwicklung funktioniert, auch für
       alle anderen Formen der Entwicklung notwendig ist. Nur weil
       Patente bei Medikamenten gut sind, müssen sie noch lange nicht
       für die Softwareentwicklung oder das Internet gut sein. Ich
       denke, es ist falsch, Patente auf alle Formen der Information
       auszuweiten, wie das in den USA der Fall ist. Hier wird gar
       nicht gefragt, ob das Patentsystem mehr Schaden als Nutzen
       anrichtet. Und dieser Nutzen sollte sein: eine Entwicklung
       fördern, die sonst nicht stattgefunden hätte.



       SZ: Professor Lessig, was ist derzeit gut und was ist schlecht
       am Internet?



       Lessig: Am Internet ist gerade großartig, dass es so viele
       eigene Aktivitäten der Nutzer generiert. Noch vor fünf Jahren
       wäre das undenkbar gewesen. YouTube beispielsweise.
       Rechteinhaber klagen über YouTube mit dem Argument, dass ihnen
       ihre Inhalte genommen würden. Auf der anderen Seite steigt der
       Wert dieser Inhalte, weil sie über YouTube aufgerufen werden.
       Davon profitiert wiederum der Rechteinhaber, also etwa ein
       Fernsehsender, der seine Inhalte nicht so gut positioniert hat
       wie YouTube. Es gibt also viele Orte, an denen neue Inhalte
       geschaffen, verändert und zugänglich gemacht werden.



       So viel zu den guten Seiten. Das schlechte ist: Das ist alles
       illegal. Und eine Generation wächst heran, bei der alles, was
       sie tut, illegal ist. Das höhlt die Herrschaft des Gesetzes in
       einer Demokratie aus. Es geht nicht darum, Madonnas Musik zu
       stehlen, sondern um neue Formen der Kreativität, die die
       Fähigkeiten der Menschen fördern. Viele Befürworter eines
       strengen Copyrights kommen mir vor wie die alten Sowjets 1988:
       Sie merken nicht, dass die Revolution schon gekommen ist, und
       sie meinen, sie könnten diesen merkwürdigen komplizierten
       bürokratischen Komplex weiter ausbauen. Genauso ist das
       Copyright-System heute. Wenn wir alle neuen kreativen
       Ausdrucksmöglichkeiten unterbinden, werden die Jungen die
       Rechtslage einfach ignorieren. Wir müssen das Urheberrecht
       reformieren, sonst wird es übergangen. Ich möchte dieses System
       neu gestalten, damit es im digitalen Zeitalter überlebt, damit
       es auch in Zukunft die Anreize schafft, die es braucht, um
       Künstler hervorzubringen.



       Interview: Johan Schloemann, Andreas Zielcke



       Deutsch von Felix Denk


Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.295, Freitag, den 22. Dezember 2006 , Seite 12
_______________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organization: http://www.oekonux.de/projekt/
Contact: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: choxT02169 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
Message 02169 [Homepage] [Navigation]