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Re: [ox] Produktivkräfte



Hallo,

Sabine Nuss wrote:

philosophische Bücher und bin auf der Suche nach neuen konkreten Utopien
(siehe u.a. http://www.thur.de/philo/ku1.htm), wozu im Kern neue
Produktivkräfte gehören...

Kannst Du das mal konkret machen? "Neue Produktivkräfte"?

In Anschluß an Stefan Meretz am 27. Juli:
"Der Begriff (Produktivkräfte=PK) geht auf Marx zurück, 
der von der "Produktivkraft der Arbeit" spricht. Die Kategorie
(=analytischer 
Begriff) Produktivkraft der Arbeit hat quantitative und qualitative
Dimensionen. 
In aller Regel wird Produktivkraft auf Produktivität, also seine
quantitative 
Dimension reduziert. Die qualitativen Dimensionen sind der Inhalt und
die Art 
der Arbeit, also was da gearbeitet wird und womit und wie das
organisiert ist."
 
Dazu gehören die Kräfte der Menschen sowie der von ihnen in Bewegung
versetzten technischen Mittel. 
Sie werden im allgemeinen in Bezug gesetzt zu den gesellschaftlichen
Verhältnissen der Produktion (Produktionsverhältnisse, PV). 

Ich weiß jetzt nicht genau, was Dich interessiert, Sabine. 
Die Begriffswelt PK, PV (die zusammen die PW=Produktionsweise) bilden,
stammt aus dem Marxismus und in seiner dogmatisch-orthodoxen Form steckt
da auch viel Unsinn drin. Z.B. wurden im Umgangssprachlichen die PK oft
auf die technischen Produktionsmittel beschränkt (und dabei die
"Hauptproduktivkraft" Mensch" vergessen oder als reines Anhängsel zur
Technik gesehen worden). 
Es ist auch oft geschehen, daß man meinte, nur die PV seien in
unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen (wie Kapitalismus und
Sozialismus) verschieden, während die PK demgegenüber "neutral" wären. 
Ich glaube aber nicht, daß dies die Punkte sind, die Dich interessieren.
Oder doch?

Ich selbst beschäftige mich manchmal mit ganz abstrakten philosophischen
(Dialektik o.ä.) oder wissenschaftlichen Konzepten (wie Chaos- und
Selbstorganisationstheorie). Mich interessieren aber gleichermaßen die
Prozesse, die die Gesellschaft bewegen und meinen Möglichkeiten, hier
einzuwirken. Da wird das Ganze wesentlich konkreter. Trotzdem muß ich
mich auf dieser Ebene auch nicht nur für den Einzelfall, sondern
allgemeiner fragen: Was bringt die Geschichte voran? Was sichert, daß
Errungenschaften erhalten bleiben und Rückschläge nicht zu einer
dauerhaften Regression führen? 
Die Antwort ist in der Entwicklung der Produktivkräfte gegeben, wie
Stefan Meretz schon andeutete:
"Ein sehr nützlicher Analysebegriff, der auf die 
Geschichte der Gesellschaften angewendet eine Periodisierung erlaubt - 
sozusagen quer (oder über oder unter...) zu den Perioden der 
Produktionsverhältnisse (Sklavenhalterges., Feudalismus, Kapitalismus
mit 
den jeweiligen Unterphasen)."

Wenn ich nach einem Ausweg aus dem Teufelskreis der kapitalistischen
Entwicklung suche (und das tue ich), dann konzentriere ich mich eben
nicht so sehr auf die Frage von Parteien-Macht, persönlichen Einflüssen,
Kriegsentscheidungen etc., sondern ich schaue, was sich auf der Welt tut
im Bereich der Produktivkraftentwicklung (die auch oft schon
"Destruktivkraftentwicklung" genannt wird).

Hier verfalle ich auch noch in den Fehler, die technischen Artefekte oft
isoliert zu sehen. Ich bin z.B. der Meinung, daß die Informations- und
Kommunikationstechnologien eine neue Art von Gesellschaftszusammenhalt
erlauben, neue Produktions- und Lebensweisen. Ich bin hier der Meinung,
daß nicht nur Information die Grundlage der Wirtschaft ist, sondern auch
die Strukturen und Prozesse der "normalen" Produktion, z.B. der
Fertigungstechnologien sollten abgegrast werden nach neuartigen
Strukturen und Prozessen. Mir fallen hier beispielweise die neuen
dezentraleren Produktionsplanungs- und Steuerungssysteme ein. Öffentlich
breit diskutiert werden bereits die alternativen (typischerweise auch
dezentraleren) Energietechnologien. 
All dies sind für mich Bausteine, die z.B. ermöglichen (d.h. nicht etwa:
automatisch dazu führen), auch die Wirtschaft auf demokratischer
Grundlage zu regulieren (was z.B. in den realsozialistischen Ländern
rein organisationstechnisch gar nicht möglich gewesen wäre wegen der
zentralisierten Produktion/Produktionstechnologie). 
Ich bemühe mich dabei dann immer wieder sehr, in all diesen Prozessen
die Menschen und die Entwicklung ihrer Fähigkeiten, Fertigkeiten und
Bedürfnisse zu sehen. Auch ich habe gerade seit der "Wende" 1990 genau
beobachtet, wie sich die neueren Managementkonzepte schon in die Pläne 
für unsere Umschulungen und Weiterbildungen eingeschrieben haben:
Teamwork, Kreativitätstechniken u.s.w. waren plötzlich "in". Sofort war
klar, wem das was nützt... aber ganz nebenbei hatte ich in meinen
Gruppen, mit denen ich verschiedene politische Aktionen machte, auch auf
einmal Leute dabei, mit denen ich diese Methode mit ganz anderen, von
uns selbst gesetzten Zielen, einsetzen konnte, weil sie die Grundlagen
kannten. Nebenbei und unbeabsichtigt vom Hauptzweck der
Managemantkonzepte, Profit zu machen und unternehmerische "Visionen"
umzusetzen, entwickeln sich bei den Menschen neue produktive Kräfte, die
die Schranken der Kapitalverwertung tendenziell überschreiten. (Diese
unbeabsichtigten "Seitenwege" sind typischerweise oft Ausgangspunkte für
neue Strukturen und Prozesse in der Evolution).

Hier sind wir dann wieder bei anderen Denkkonzepten (wie der Dialektik:
bei der das Überschreiten von Schranken in Qualitätsumschlägen typisch
ist, oder des Selbstorganisationskonzepts, wo in sog.
"Bifurkationspunkten" die bis dahin funktionierende Dynamik eines
Systems nicht mehr aufrechterhalten wird und das System entweder vergeht
oder neue Dynamiken (oder eine einzige neue) entwickelt und dabei selbst
ein anderes/neues wird...)...

Euer/unser Thema ist für mich ein konkreter Prozeß (der
Produktivkraftentwicklung), den ich besser kennenlernen möchte, um nicht
allzusehr in abstrakten Schemata zu leben, sondern aus dem wirklichen
Leben zu lernen. Vielleicht helfen Euch im Gegenzug manche
Denkerfahrungen meinerseits auch manchmal. 

Beste Grüße und Ahoi
Annette


*****************************************
*   Annette Schlemm			*
*   URL: http://www.thur.de/philo	*
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