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Die Digitalisierung... (was: [ox] [ox] ein paar Einwuerfe)



Hi Rainer und alle!

Nun zum zweiten Punkt, den ich für unser Thema schon hilfreicher
finde.

4 days ago Rainer Fischbach wrote:
Die Neigung, dem Internet und ganz allgemein
der Digitalisierung unglaubliche Wirkungen
zuzuschreiben ist ungebrochen und führt zu
einem Verlust analytischer Schärfe.

An dieser Stelle würde ich dir sogar tendenziell Recht geben. Ich für
meinen Teil habe mich vor ein paar Monaten relativ bewußt dafür
entschieden, mal das Internet und auch die Digitalisierung als etwas
in unserem Sinne Positives zu begreifen. Ich muß zugeben, daß ich
selbst überrascht war und bin, wie schnell da etwas m.E. Brauchbares
zu Tage zu fördern ist.

Ich bin auch nicht sicher, ob meine Thesen da jeder Überprüfung
standhalten - ich bitte ja um Kritik. Für mich klingen sie jedenfalls
neu, spannend und angesichts der Faktenlage nicht völlig an den Haaren
herbeigezogen. Wenn du das anders siehst, kannst du mich ja gerne
widerlegen.

Das Paper jetzt war eine Bündelung dessen und bewußt als visionär
angelegt. Meine Rolle sehe ich momentan einfach eher da. Leute, die
mich notfalls zurückholen, habe ich ja hier ;-) .

Ich nehme mal als Beispiel den schon erwähnten
Aufsatz von Gundolf S. Freyermuth, dessen Tenor
ja auch in Stephans Text Eingang gefunden hat:

Zunächst nochmal dazu: Ich teile seine neoliberalen Folgerungen in
keinster Weise. Das habe ich auch deutlich gesagt und diesen Teil
nicht gepostet. Ich finde seine Position da auch höchst zynisch.
Trotzdem ist seine Analyse davon erstmal unabhängig. Ob die in allen
Details stimmt, kann ich nun wiederum nicht beurteilen.

Er enthält kein einziges nachprüfbares Argument
dafür, daß die aktiven Alten eine Folge der
Digitalisierung wären. Die angeführten Beispiele
betreffen alle Personen, deren Alterstätigkeit
in keiner Weise durch das Internet oder dgl.
ausgelöst worden ist.

Um ein Argument für meine These zu sein, - nämlich daß die aktiven
Alten ein Hinweis auf Verschiebungen hin zur GPL-Gesellschaft auch in
diesem Bereich sind -, braucht ihre Existenz nicht unbedingt eine
*Folge* von Digitalisierung zu sein. Gleichzeitiges Auftreten reicht
dazu zunächst mal aus.

Die Gründe für Altersarbeit liegen doch woanders:
erstens darin, daß die Leute heute im Schnitt recht
lange leben und dabei auch noch einigermaßen gesund
bleiben,

Das ist kein Grund für Altersarbeit. Es ist eine Voraussetzung, die
aber nicht erst seit gestern existiert.

zweitens darin, daß sie das berechtigte Bedürfnis
haben, sich zu betätigen und drittens darin, daß sie das
oft auch finanziell gut brauchen können.

Das war ja auch mein Einwand. Gundolfs Position war da explizit eine
andere. Ob das belegbar ist, entzieht sich meiner Kenntnis.

Das trifft
vor allem auch auf die USA zu, wo die (meisten) Löhne seit
den 70ern real gefallen sind und ein gewisser
Lebensstandart deshalb mehr Arbeit erfordert
(die Arbeitszeit der US-Amerikaner steigt seit
über dreißig Jahren an).

Klaro. Aber das waren ja genau die, über die Gundolf explizit nicht
geschrieben hat. Auch hier wieder modulo Belegbarkeit.

Auch das kein Indiz für ein
Ende der Arbeitsgesellschaft.

Doch gerade! Eine funktionierende, entwickelte Arbeitsgesellschaft
würde genau das ja überflüssig machen! Du beschreibst wieder nur ein
Prekarisierungsphänomen.

Dazu kommt natürlich
noch der spezifisch nordamerikanische
Puritanismusfaktor: Müßiggang oder gar noch
sein Genuß gelten in den USA eben als frivol;
was in einem der Zitate in dem Artikel auch gut
zum Ausdruck kommt.

Aber auch das nicht erst seit gestern...

Völlig verfehlt ist es, sich von der Digitalisierung
die Aufhebung der Entfremdung zu versprechen.

Nun, das ist nicht meine Position. Die Digitalisierung ist für mich -
historisch gesehen - eine Voraussetzung, um über mehrere
Zwischenschritte eine Aufhebung von Entfremdung überhaupt vernünftig
nachdenken zu können.

Zunächst
ist zu bedenken, daß die Arbeitsplätze, an denen die
behauptete Bereicherung durch Digitalisierung stattfinden
mag, immer in der Minderheit bleiben werden.

Auch hier verkürzt du m.E. unzulässig.

Meine These jedenfalls ist, daß ein erhöhter Einsatz von
"intelligenten" Maschinen Menschen unangenehme Arbeit abnimmt. Meine
seit Jahren stehende (moralische) These "Arbeit, die von Maschinen
gemacht werden kann, ist menschenunwürdig.", kommt hier zum Ausdruck.
Die Digitalisierung - genauer: die Computerisierung - schafft hier nur
völlig neue Potentiale.

Das Heer
der Reinigungsleute, Klempner, Maurer, Beton- und Stahlbauer,
Köche, Kellner, Krankenpfleger, Masseure, Kindergärtner, Verkäufer,
Taxifahrer, Telefonisten und was es sonst noch für nützliche
Berufe geben mag, die auf absehbare Zeit von Rationalisierung
weitgehend verschont bleiben werden und mit Digitalisierung
sowie ihren mehr oder weniger attraktiven Segnungen
nichts am Hut haben, wird das der sog. Knowledge worker
immer weit übertreffen.

Jein.

Zunächst mal würde ich dir natürlich zustimmen, daß der mögliche Grad
an Digitalisierung auf verschiedenen Tätigkeitsfeldern höchst
unterschiedlich ist - klar.

Andererseits würde ich - mit Blick auf die Zukunft - nicht davon
ausgehen, daß alle Tätigkeitsfelder bestehen bleiben müssen - weder in
ihrer heutigen Form noch überhaupt. Gerade das Handwerk, das du oben
anführst, hat sich doch durch den Einsatz von Maschinen im Laufe der
Zeit auch drastisch verändert.

Und Pferdepfleger, die vor 200 Jahren sicher eine große Rolle gespielt
haben, sind heute schlicht überflüssig. Will im Sinne des Papers
sagen: Wo kein Marketing mehr nötig ist, sind keine Marketing-Leute
mehr nötig.

Eine gesellschaftliche Perspektive,
die nichts bietet für die zahlenmäßig weit gewichtigere
Menge von Menschen, die die physischen Voraussetzungen
für das Agieren der Professionals schaffen, finde ich nicht
besonders anziehend -- um das Mindeste zu sagen.

Wieder jein.

Einerseits hast du natürlich recht, daß eine gesellschaftliche
Perspektive für die Mehrheit attraktiv sein muß - ich wäre der Letzte,
der was anderes behauptet. Aber ich gehe nicht davon aus, daß wir eine
umfassende gesellschaftliche Perspektive schon haben. Die paar dürren
Elemente, die bisher da zu sein scheinen, sind für mich höchstens
Hinweise, in welche Richtung es gehen könnte. Da ist noch viel Einsatz
nötig.

Andererseits bleibst du mit deinem Argument höchst immanent. Klar -
für einen Börsen-Broker, der sich sein ganzes Leben nichts anderes als
Börse vorstellen kann, ist das nicht attraktiv. Meine Stoßrichtung
wäre aber ja, daß das, was ich mal mit dem guten, alten Terminus der
gesellschaftlich notwendigen Arbeit bezeichnen würde, einerseits
weniger würde - in Terms of menschlicher Arbeitskraft -, andererseits
angenehmer würde. Daß dies mit kapitalistischen Produktionsmitteln nur
eingeschränkt möglich ist, hatte ich glaube ich in einer Fußnote.

Zentral aber ist ja, daß sich das Leben und auch so etwas wie
Lebensqualität wieder von einer "Arbeit" unabhängig machen würde. Und
das wäre etwas, was alle Menschen betrifft.

Des weiteren ist es doch schlichter Selbstbetrug, immer
nur davon zu reden, wie kreativ, selbstbestimmt, etc.
die Jobs der Informationsindustrie wären. Ein großer Teil
davon ist doch genau das Gegenteil: Das sind z. B. ziemlich
strikt reglementierte Codieraufgaben mit engen Vorgaben.
Wie künstlerisch ist es, das x-tausendste GUI zusammenzuklicken?
Wie selbstbestimmt arbeiten Leute, die hauptsächlich
damit beschäftigt sind, auf Tausenden von PCs die neuen
Releases von Windows und Office aufzuspielen?

Ok, aber das ist nicht meine persönliche Wahrnehmung. In meinem
beruflichen Umfeld (in mittlerweile zwei Jobs) gibt es einen gewissen
Freiraum, der für eigene Kreativität nutzbar ist - und mehr als am
Fließband um es mal kraß auszudrücken.

Wie kreativ ist es, gleichförmige HTML-Seiten
zu füllen oder Internet-Bestellungen zu bearbeiten?
Ist eine Scheißarbeit keine Scheißarbeit mehr,
weil sie für einen gehypten .com-Laden stattfindet?

Natürlich nicht. Aber das war auch zumindest nicht mein Punkt.

Aber gerade diese Beispiele sind übrigens auch gegen dich zu wenden.
Diese Aufgaben sind nämlich leicht automatisierbar. Kreativität könnte
sich darin niederschlagen, diese Automatisierung zu basteln. Ich
jedenfalls bastele mir x-mal lieber ein kleines Perl-Skript für
irgendeine Routinetätigkeit, als mich mit der Routinetätigkeit selbst
zu langweilen.

Klar - im Kapitalismus schaffen die Jungs und Mädels damit ihre
Arbeitsplätze ab - aber ich sagte ja schon, daß dieses Potential über
den Kapitalismus hinausweist ;-) .

Was quer durch die Wirtschaft stattfindet ist die Ausdehnung
des Arbeitstages und sein Vordringen in die sogenannte Freizeit
hinein.

Stimmt. Das *unfreiwillige* Eindringen in den Freizeitbereich ist in
der tat weit verbreitet und dehnt sich rapide aus. Z.B. die immensen
Strecken, die heute oft zu und von den Arbeitsplätzen zurückzulegen
sind, sind ein Beispiel. Aber auch die Zunahme an schlecht oder gar
nicht bezahlten "Jobs" im Gesundheitswesen - das kenne ich ein ganz
kleines bißchen - ist hier ein Hinweis.

Viele Freizeitbetätigungen -- bestes Beispiel: Arbeit an freien
Softwareprojekten -- sind im Grunde Fortsetzungen der
Berufstätigkeit und haben meist auch die Funktion diese zu
befördern.

Nochmal jein.

Daß die Tätigkeit für freie Softwareprojekte teils von Leuten gemacht
wird, die sich auch beruflich damit befassen, ist wohl unbestreitbar.

Daß sie dadurch "im Grunde Fortsetzungen der Berufstätigkeit" sind,
halte ich allerdings für falsch: Nur weil sie die gleichen Fähigkeiten
einsetzen, machen sie noch lange nicht das Gleiche. Und das sie die
Funktion hätten, diese zu befördern, halte ich für ein Märchen von der
Open-Source-Fraktion. Ich habe jedenfalls in meiner Freizeit *immer*
aus Bock programmiert - und nicht um mich zu schulen oder was. Auch
wenn ich die in Freiheit gelernten Sachen im Beruf wieder einsetzen
kann.

Übrigens: Genau diese Ambivalenzen empfinde ich als Hinweis auf die
Realitätstauglichkeit meiner Thesen. Wenn alles nur in kristallklarer,
rein entwickelter Form in der ambivalenten Realität zu finden wäre,
würde ich skeptisch werden.

Das alles sind btw keine
Indizien für das Ende der Arbeitsgesellschaft.

Wieder genau umgekehrt: Die Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft
geht sogar soweit, daß sie ihre hochgelobte Freizeit inzwischen selbst
auffrißt.

Sollte man tatsächlich einen interessanten Job haben, der
einem relativ viel Freiheit bzw. Entfaltungsmöglichkeiten
bietet und dadurch zur Identifikation einlädt, liegt darin
natürlich auch ein Problem, weil darunter meist die anderen
Interessen, die man noch hat und vor allem die sozialen
Beziehungen leiden (ich hab da so meine Erfahrungen...).

Das ist nun aber wirklich ein Problem, daß jedeR mit sich selbst
ausmachen muß, wo sie ihre Freiheit ausleben will.

Die Grenze zwischen Privatsphäre und Arbeit aufzuheben
erscheint mir als ein höchst ambivalenter Vorgang, über
den ich nicht unbedingt in Jubel ausbreche. Ich vermute
eher, daß das die Entfremdung verschärft.

Wichtiger Punkt. Im Kapitalismus würde ich dir da voll zustimmen. Das
Ideal des Selbständigen, für den Arbeit und Privatleben de facto
zusammenfällt, halte ich auch für eine Horrorvision (- wesegen ich mit
meinem Job recht zufrieden bin ;-) ).

Aber es bleibt schon festzuhalten, daß sich historisch die
(kapitalistische) Arbeit aus einem ganzheitlichen Lebenzusammenhang
entbettet hat und zu einer eigenständigen Sphäre geworden ist, die
eben entfremdet ist und den Menschen daher als etwas Negatives
gegenübertritt.

Mein Ziel wäre eine Gesellschaft, in der diese Entfremdung aufgehoben
ist und somit eine Rückeinbettung von Tätigkeit in ein ganzheitliches
Leben wieder möglich ist.

Der Begriff der Entfremdung ist bei Marx (anders
als z. B. bei Fromm) nicht psychologisch gefaßt.
Bei Marx bedeutet Entfremdung: Indem der Arbeiter
sich verausgabt, vergrößert er damit nur die ihm gegenüber
stehende Macht des Kapitals. Der Zusammenhang seiner Arbeit
tritt ihm als fremder Zusammenhang von Sachen entgegen
und er selbst wird zu einer Sache neben anderen Sachen.
Das findet auch statt, wenn ihm die Verausgabung
(vorläufig) Spaß macht.

Ja.

Aber nicht wenn sie nicht mehr ArbeiterIn ist.


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan


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http://www.oekonux.de/



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