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[ox] Robert Kurz (Krisis) zu Kapitalismus und Internet



Hi!

Anbei ein Artikel von Robert Kurz von der Krisis
(`http://www.magnet.at/krisis/'), der vieles von dem zusammenfaßt und
mit Fakten und Zitaten unterlegt, was ich und andere hier zu
E-Commerce und dem Verhältnis von Kapitalismus und Internet schon
gesagt hatten.

Der Beitrag ist in der Jungle World erschienen und Mitte April in der
Krisis-Liste gepostet worden, aus der ich ihn gefischt habe.


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan

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Euphorie um New Economy

Das Internet als Traumfabrik des Neuen Marktes.

Von Robert Kurz

Was linke Anti Krisentheoretiker, Antideutsche und deutsche Kleinanleger
nicht wissen wollen, weiß inzwischen jeder Banklehrling: Das Weltkapital
sitzt auf der größten Finanzblase aller Zeiten. Natürlich wagt es trotzdem
nur eine kleine Minderheit von Bankern und Finanzanalysten, die Seifenblase
der von jeder ökonomischen Realität abgehobenen Börsenkapitalisierung auch
als solche zu bezeichnen. Die große Mehrheit der Akteure im globalen
Kasinokapitalismus, der Lobby-Analytiker und der ideologischen Wunderheiler
ist wie immer berufsoptimistisch; und je mehr der Kapitalismus seine eigene
Geschäftsgrundlage zerstört, desto zuversichtlicher werden sie.

Aber ganz ohne Verweis auf einen substanziellen ökonomischen Inhalt im Sinne
zukünftiger Kapitalverwertung kann selbst die luftigste
finanzkapitalistische Phantasie nicht auskommen. Die enorme
Börsenkapitalisierung muss als Vorbotin eines ebenso enormen realen
Wachstumsschubs vorgegaukelt werden. Dabei wäre dann freilich auch genauer
zu zeigen, welcher Sektor der Produktion es denn eigentlich sein soll, der
den neuen säkularen Aufschwung tragen wird.

Peinlicherweise sind die geisterhaften finanzkapitalistischen Vorboten
inzwischen schon sehr lange unterwegs, ohne dass eine neue sachliche Gestalt
sichtbar geworden wäre, in der sich das Kapital abermals im großen Maßstab
realökonomisch inkarnieren könnte. Denn schon seit den achtziger Jahren
werden die mit ständiger Beschleunigung steigenden Börsenkurse durch den
Hinweis auf neue Inhalte der Produktion gerechtfertigt, die angeblich das
ersehnte Potenzial für den Aufbruch zu neuen Ufern der realen
Kapitalverwertung in sich bergen.

Leider mussten diese Inhalte jedesmal nach ein paar Jahren ausgewechselt
werden, weil sich die vollmundigen Voraussagen nicht bewahrheitet hatten. So
war die Produktion von Mikrochips und Personalcomputern nicht in der Lage,
den Abbau von Beschäftigung und realer Wertschöpfung zu kompensieren, der
von eben diesen neuen mikroelektronischen Technologien durch die damit
verbundenen Rationalisierungswellen verursacht wurde.

Ebensowenig erfüllten sich die Hoffnungen auf eine »postindustrielle
Dienstleistungsgesellschaft»: Bei den industriebezogenen Diensten wurde das
Wachstum durch die »Verschlankung« der industriellen Kapazitäten begrenzt
und bei den so genannten Humandienstleistungen durch den Abbau von
Massenkaufkraft und Staatskonsum. So blieb auch in dieser Hinsicht die
Erwartung eines großen Schubs von rentablen Arbeitsplatz- und
Erweiterungs-Investitionen unerfüllt.

Inzwischen sind nicht nur die achtziger, sondern auch die neunziger Jahre
dahingeflossen und es wird allmählich brenzlig. Wenn die ökonomisch
körperlose, aufgedunsene Geldseele der Börsenkapitalisierung nicht bald
glaubhaft in einen neuen »Körper« schlüpfen kann, droht sie sich ins Nichts
aufzulösen. Not macht erfinderisch, und so musste wenigstens ein neuer
vielversprechender Name gefunden werden, um das Platzen der Blase noch
einmal zu verzögern.

In diesem Sinne machte seit 1999 ein wohlklingender Begriff Blitzkarriere:
New Economy. Von US-Finanzanalysten schon Mitte der neunziger Jahre
ausgebrütet, hat diese Wortschöpfung innerhalb kürzester Zeit einen
Siegeszug rund um die Welt angetreten und wird in allen Medien besinnungslos
heruntergebetet. Worin soll diese ominöse New Economy ihren Gehalt haben?
Die Rede ist von »Hochtechnologien«. Hatten wir das nicht schon mal? Der
Name ist irreführend, denn schließlich wird High-Tech auch im gesamten
Spektrum der alten Industrien und Dienstleistungen eingesetzt. Was jetzt
aber endlich eine New Economy kreieren soll, ist schlicht das Internet;
genauer gesagt: spezifische Techniken und Dienstleistungen für das Internet
und im Internet.

Mit einem Wort: Das Internet soll jetzt den letzten realökonomischen
Hoffnungsträger abgeben, um dem fiktiven Geldkapital der aufgeblasenen
Börsenkapitalisierung wenigstens eine Art virtuellen Körper zu verleihen.
Was natürlich heißen müsste, dass via Internet ein säkularer Schub von
Beschäftigung und realer Kapitalverwertung kommt. Die schon gescheiterten
Paradigmen von »neuer Technologie« und »Dienstleistungsgesellschaft« werden
also in einem zweiten Versuch zusammengemixt und auf das Internet
projiziert.

Das kommende Wirtschaftswunder soll sich im World Wide Web abspielen, die
realökonomische Wachstumsdynamik paradoxerweise dem virtuellen
elektronischen Raum entspringen. Und dieser neue Wunderglaube wird in noch
schrilleren Tönen als alle vorhergehenden propagiert. Schon sehen die
Chefeuphoriker aller Länder einen angeblichen Internet-Kapitalismus mit
gewaltigen Potenzialen heraufdämmern, in dem sich ein »Total Web-Based
Management« über den »Mehrwert auf der Web-Seite«, so die Web-benebelte
Wirtschaftswoche, freut.

»Alle müssen ins Internet«, befand daher der deutsche Medienkanzler Gerhard
Schröder anlässlich der Eröffnung der Computermesse Cebit im Februar 2000.
Die »linke« grüne Ober-Realistin Renate Künast hechelte gleich hinterher und
forderte in einem TV-Interview forsch, junge Frauen weniger als
Altenpflegerinnen, sondern stattdessen »für den E-Commerce« auszubilden.
Internet-Kapitalismus und Internet-Feminismus: was für ein nettes Paar.

Und auch der britische Strahlemann Tony Blair hat schon wieder mal eine
Vision: Er sieht die neoliberalen Blütenträume von »New Labour« jetzt im Web
reifen und »will Großbritannien zu einer zentralen Macht im Internet-Handel
machen« (Handelsblatt, 13. März). Politik und Medien reagieren auf die neuen
Stichworte wie Pawlowsche Hunde, denn für sie gilt erst recht die Devise:
Dabeisein ist alles, Mitmachen um jeden Preis - und je besinnungsloser,
desto besser.

Die Frage ist nur: Liegt der Option des kommenden Internet-Booms überhaupt
irgendein sachlicher ökonomischer Gehalt im Sinne der Kapitalverwertung zu
Grunde? Zusätzliche Ausrüstungen für das Internet werden auf der Ebene der
materiellen Industrieproduktion kaum ein gesamtwirtschaftlich auch nur
bemerkbares zusätzliches Realwachstum generieren. Denn die Hardware für eine
Breitband-Telekommunikation ist bereits vorhanden (sie wurde ganz ohne
Beschäftigungsboom geschaffen); und die Innovationen für einen direkten
Internet-Anschluss oder überhaupt eine gesamtmediale Integration können
weder technologisch noch ökonomisch ein neues Zeitalter elektronischer
Massenproduktion mit dazugehöriger Massenbeschäftigung tragen.

Letzter Schrei: Handys, mit denen man im Kaufhaus per Online-Banking
bezahlen kann. Das Produktions- und Beschäftigungsvolumen derartiger
Erweiterungen von längst schon eingeführten Technologien ist viel zu gering,
um den Erwartungen eines neuen säkularen Internet-Kapitalismus gerecht zu
werden.

Die spezifischen Hilfsmittel für die Nutzung des Internet bestehen sowieso
weniger aus zusätzlicher Hardware, sondern hauptsächlich aus neuer Software:
Die »User« benötigen diverse Suchmaschinen, um im globalen Netz surfen und
Informationen herausfiltern zu können; für alle möglichen Interessen werden
spezielle Zugänge (so genannte Portale) angeboten.

Der Begriff der Maschine ist dabei allerdings nur metaphorisch zu verstehen,
denn es handelt sich nicht um materiell bearbeitete Produktionsmittel,
sondern um spezifische Computerprogrammierungen. Das gilt auch für die
geschäftliche Präsentation, für Werbung usw. im Internet durch
Home-page-Gestaltung (Web-Design). Das Angebot von Software in dieser
Hinsicht mag rapide zunehmen.

Aber auf diese Weise werden keine entscheidenden neuen Beschäftigungs- und
damit Wertschöpfungspotenziale herbeigezaubert. Denn die Kreation von
Software ist extrem beschäftigungsarm und kann von einer Handvoll
Spezialisten betrieben werden. Vor allem aber kann die massenhafte
Reproduktion dieser Software nicht den Boom der früheren Industrien
wiederholen. Folgte der Konstruktion von Autos oder Waschmaschinen noch eine
ungeheuer beschäftigungsintensive materielle Produktion nach, so wird die
selber schon ohne nennenswerte zusätzliche Wertschöpfung produzierte
Software schlicht durch Mausklicks kopiert. Da werden nicht Millionen von
zusätzlichen »Händen« benötigt.

Weder die Hardware- noch die Software-Hilfsmittel rechtfertigen die Euphorie
einer kapitalistischen New Economy. Wenn überhaupt, dann müsste das neue
reale Wachstumspotenzial im Internet selber zu finden sein. Aber die
Möglichkeiten einer virtuellen Produktion von kapitalistisch verwertbaren
Gütern sind eng begrenzt. Immaterielle Waren ohne nennenswerte materielle
Investitionen können keine reale Wachstumsdynamik auslösen.

Was als Option übrig bleibt, ist also hauptsächlich die Kommerzialisierung
des Internet: Das viel beschworene E-Business oder Net-Business kann
allenfalls als jener E-Commerce in Erscheinung treten, auf den die gar nicht
mehr besonders grünen Regierungs-Realos so begierig schielen. Aber genau das
ist eine nur allzu durchsichtige Milchmädchenrechnung. Denn der bloße Handel
bleibt immer eine nachgeordnete Erscheinung der realen Produktion. Wenn
nicht ausreichend kapitalistisch produktive Einkommen erzeugt werden, muss
auch der Kommerz erlahmen, der niemals aus sich selbst heraus ökonomisch
reproduktionsfähig ist.

Für die Ausweitung des E-Commerce gilt insofern dasselbe wie für die
Verlängerung oder völlige Freigabe der Öffnungszeiten im Einzelhandel: Die
Leute haben auf diese Weise natürlich nicht mehr Geld in der Tasche, sodass
nur Umschichtungen der Umsätze stattfinden. Gesamtwirtschaftlich handelt es
sich bestenfalls um ein Nullsummenspiel.

Ohnehin sind dem Einzelhandel im Internet enge Grenzen gesetzt, denn man
kann zwar virtuell einkaufen, aber natürlich nicht virtuell konsumieren
(jedenfalls nicht die Masse der durchaus handfesten Produkte).
Internet-Shopping und virtuelle Auktionshäuser, quasi elektronische
Flohmärkte, mögen als Mode-Erscheinung einen gewissen Zulauf haben; ihre
Sinnfälligkeit bleibt jedoch auf wenige Spezialprodukte (z.B. antiquarische
Bücher, seltene Sämereien etc.) beschränkt.

Für die überwältigende Mehrzahl der Konsumgüter, die man nicht suchen muss,
sondern an jeder Ecke erwerben kann, ist E-Commerce schlichter Blödsinn. Was
man per Mausklick gekauft hat, ohne mehr als den Finger krumm zu machen,
muss schließlich »real« und kostenträchtig abgeholt oder angeliefert werden
- und worin soll dann eigentlich der große Vorteil von Shopping per
Bildschirm bestehen?

Im Grunde genommen haben wir es bloß mit einer hochgestochenen Umbenennung
des guten alten Versandhandels zu tun. So startete der Otto-Versand Anfang
2000 den ersten bundesweiten Lieferdienst für Lebensmittel im Internet: Bei
einem Mindestbestellwert von 30 Mark fallen 8,95 Mark Liefergebühr an.
Angesichts solcher Kostenrelationen wird es die Masse der Normalverbraucher
wohl notgedrungen vorziehen, sich doch lieber in die Schlange an der
Supermarktkasse einzureihen. Und manche, die in einer Sekunde Echtzeit im
Web eingekauft haben, durften sich dann schon mal vier Wochen Echtzeit auf
das Eintreffen ihres jeweiligen Glücksgutes freuen.

Die lästige »erste Realität« steht auch im Hintergrund der Überlegungen,
wenn nur ein kleiner Prozentsatz der zahlungsfähigen Konsumenten zur
Aktion »unbesehen Kaufen« (Handelsblatt) bereit ist. Dass z.B. der
E-Heiratsmarkt unliebsame Überraschungen bergen kann, musste jüngst der
britische Tankwart Trevor Tasker leidvoll erfahren: Die pralle 30jährige
Schönheit seiner E-Romanze im Cyberspace entpuppte sich, wie die
Nachrichtenagentur AP vergangenen Monat berichtete, in der schnöden Realität
als verwelkte 65jährige, die den Leichnam ihres vorherigen Lebensgefährten
in der Tiefkühltruhe verwahrte.

Sicherlich wird die Diskrepanz zwischen virtuellem Versprechen und realer
Erfüllung nicht immer so groß sein, und nicht alle handelbaren Güter haben
einen so heiklen Charakter wie Bräute. Trotzdem wird auch die profane Ware
in der Regel weiterhin nicht ohne sinnliche Prüfung Gefallen finden. Die
wenigsten wollen die sprichwörtliche Katze im nunmehr elektronischen Sack
erwerben.

Soweit aber der Internet-Einzelhandel überhaupt funktioniert, nimmt er dem
realen Einzelhandel, der kostenträchtige Ladenflächen und Filialen betreiben
muss, Umsätze und Marktanteile weg. Das zwingt logischerweise zu
Schließungen und zu neuen Rationalisierungsschüben; bald werden sich die
Kunden selber abkassieren müssen - natürlich ebenfalls mittels
elektronischer High-Tech. Am Ende wird die schöne neue Welt des E-Commerce
die Krise der Dritten Industriellen Revolution verschärfen statt überwinden.

Das gilt in noch höherem Maße für den kommerziellen Sektor des so genannten
Business-to-Business im Internet, auch unter dem Kürzel B2B bekannt. Gemeint
ist damit der elektronische Handel von Unternehmen untereinander, der
allerdings eine weitaus größere Bedeutung besitzt als das E-Shopping von
Privatleuten. In Form von Beratungsfirmen und Software-Häusern schießen seit
Ende der neunziger Jahre B2B-Unternehmen wie Pilze aus dem Boden. »Hat Ihre
Firma E-Commerce schon in ihren Erbanlagen verankert?« wirbt etwa die
Andersen Consulting mit ganzseitigen Anzeigen in der Wirtschaftspresse.
Zweifellos, B2B revolutioniert tatsächlich große Teile des Handels. Aber mit
welchen Konsequenzen? Das Internet, bislang eine globale Spielwiese, mausert
sich bei der kommerziellen Anwendung zum neuartigen »Kostenkiller»:

»Am Beispiel der Finanzmärkte wird schon heute im Ansatz sichtbar, was auf
den Gütermärkten bald geschehen wird. Aktienkäufe und Aktienverkäufe laufen
heute weitgehend elektronisch ab. Sind bestimmte Schwellenwerte erreicht,
werden in den Handelscomputern Kettenreaktionen ausgelöst, die von Menschen
vorher definiert wurden. Käufer und Verkäufer schließen automatisch Verträge
ab, ohne lange Suche oder aufwendige Verhandlungen. Der neue Marktpreis
bildet sich binnen weniger Sekunden. Intermediäre wie die Handelsmakler
werden in diesem System keine Funktion mehr haben. An den Gütermärkten
werden diese technischen Änderungen jedoch deutlich tiefere Spuren
hinterlassen als an den Finanzmärkten (...).« (FAZ, 23. Februar)

Mit anderen Worten: Was da über die Welt rollt, ist nicht der Anfang eines
neuen Wirtschaftswunders, sondern eine riesige Freisetzungswelle von
Arbeitskraft. Der gesamte Zwischenhandel, große Teile der Zulieferer,
Lagerhaltung, Einkaufs- und Beschaffungsabteilungen - alles wird
überflüssig, ganze Ebenen des »Wirtschaftsgeschehens« einschließlich
erheblicher Teile des Managements selber müssen mittelfristig von der
Bildfläche verschwinden. Schon setzen die großen Automobilkonzerne und
Handelsketten mittels B2B ein »gigantisches Einspar-Karussell« in Gang:

»Beschaffungswege werden dramatisch verkürzt, beschleunigt und verbilligt
(...). Die (...) Internet-Einkaufskooperation der Autogiganten
Daimler-Chrysler, Ford und General Motors - die immerhin eine Einkaufsmacht
von rund 480 Milliarden Mark repräsentieren - ist erst der Anfang. Sie
beleuchtet jedoch schon sehr gut, welch ungeheures Potenzial im Internet
steckt (...). Wie so etwas dann aussehen könnte, wird sich deutlich an der
zweiten Mammut-Kooperation zeigen, die jetzt verkündet wurde. Die
Handelsgiganten Sears aus den USA und Carrefour, der größte Einzelhändler
Europas, bauen einen offenen Internetmarktplatz auf, auf dem sie ihre
Lieferantenbeziehungen konzentrieren wollen (...).« (Handelsblatt, 1. März)

Diese qualitativ neuartige »Ausgliederung ganzer
Prozessketten« als »Revolution in der Logistik« (Handelsblatt) mittels
Internet entpuppt sich als die lange erwartete (und befürchtete) zweite
große Welle der mikroelektronischen Revolution. Waren es in den achtziger
und neunziger Jahren vor allem die Prozesse der industriellen Fertigung, die
dabei von Automatisierung und Rationalisierung erfasst wurden, so handelt es
sich jetzt um das gesamte Spektrum der kommerziellen Bereiche, der
Verwaltung und der Logistik: Wie zuvor die Produktionstätigkeiten mittels
Industrierobotern, so werden nun endlich auch die Bürotätigkeiten und
Dienstleistungen durch das Internet ausgedünnt oder ganz abgeschafft.

Schon die erste Welle oder Stufe der mikroelektronischen Revolution hatte
weitaus mehr Arbeitskräfte überflüssig gemacht als durch die Verbilligung
der Produkte und die damit mögliche Markterweiterung vom kapitalistischen
Verwertungsprozess wieder absorbiert werden konnten.

Hatte also der Kompensationsmechanismus der früheren Revolutionen in der
kapitalistischen Produktivkraftentwicklung schon auf der ersten Stufe der
mikroelektronischen Umwälzung nicht mehr gegriffen, so greift er auf der
zweiten, durch das Internet definierten Stufe erst recht nicht mehr. Das
Resultat kann nur ein weiterer großer Schub der strukturellen
Massenarbeitslosigkeit sein: In Deutschland wird es dann eben nicht mehr
bloß vier, sondern acht oder zehn Millionen Arbeitslose geben.

Auch die Folgen auf dem Weltmarkt werden dieselben sein wie bei der
Anwendung der Mikroelektronik im industriellen Produktionsprozess: Ganze
Länder und Weltregionen, denen das Geldkapital für die Investitionskosten
der neuen Technologien fehlt, werden zusätzlich in den Ruin getrieben, wie
die publizistischen Trommler für die wunderbare kommerzielle
Internet-Revolution sehr gut wissen: »Der Wettbewerb wird sich verschärfen.
Dramatisch wird es für Marktteilnehmer werden, die sich nicht auf die neue
Situation einstellen können.« (Handelsblatt, 1. März) Was
betriebswirtschaftlich gilt, ist aber auch volkswirtschaftlich
hochzurechnen. Da wird die Nato wieder viel Friedensarbeit zu leisten haben
in den neuen Zusammenbruchs-Regionen.

Natürlich will das herrschende Bewusstsein einer allgemeinen kommerziellen
Web-Euphorie von solchen Konsequenzen nichts wissen. Gegen alle Erfahrung
mit der Anwendung mikroelektronischer Rationalisierung in den letzten 20
Jahren soll nun ausgerechnet das Internet zur »Jobmaschine Nummer
ins« (Wirtschaftswoche) werden.

Aber schon jetzt, noch im Vorfeld der großen Wegrationalisierung von
Arbeitskraft durch B2B, zeigt sich das krasse Missverhältnis von
Freisetzungspotenzial einerseits und zusätzlich für das E-Business
benötigten Arbeitskräften andererseits. Angeblich wird die E-Jobmaschine
gegenwärtig nur durch den Mangel an Fachkräften gebremst. Aber das
Räsonnement über die künftige wundersame Jobvermehrung dementiert sich
selbst bis zur Lächerlichkeit:

»Frappierend ist das Tempo, mit dem die Stars am Jobhimmel ihr Personal
aufstockten, allen voran die frisch gegründeten, vielfach am Neuen Markt
notierten Firmen (...). Die Deutsche-Telekom-Tochter T-Mobil etwa,
erfolgreichster Arbeitsbeschaffer unter den Telefonie-Anbietern hier zu
Lande, will dieses Jahr zu den vorhandenen rund 7 500 Mitarbeitern weitere 2
200 Kräfte einstellen, die Konkurrenten E-Plus und Mannesmann Mobilfunk
peilen 800 zusätzliche Leute an (...). Der Hamburger Multimedia-Spezialist
Management Data will bis Ende dieses Jahres mit 145 Angestellten fast
dreimal soviele Leute unter Vertrag haben wie 24 Monate zuvor. Die Münchner
Softwareberatung Bmp plant für Anfang 2001 rund 100 Gehaltsempfänger, fast
eine Verfünffachung.« (Wirtschaftswoche, 11/00)

Kunststück, wenn die Ausgangsbasis derart absurd klein ist. Offenbar will
der Autor dieser Lobes- und Hoffnungshymne seine Leser auf den Arm nehmen.
Während das zusätzliche Freisetzungspotenzial nach Millionen zu zählen ist,
geht die absehbare Reabsorbtion von Arbeitskraft gerade mal in die Hunderte,
bestenfalls in die Tausende. Allein um die bereits vor der
Kommerzialisierung des Internet entstandene Millionenmasse von Arbeitslosen
aufnehmen zu können, müssten die E-Commerce-Unternehmen und
Software-Klitschen bei den angegebenen Dimensionen ungefähr ein halbes
Jahrtausend lang boomen.

Als Jobmaschine kann man die New Economy vergessen - damit aber auch als
realen Wachstumsträger von »Wert«, das heißt
on »geronnenen« gesellschaftlichen Arbeitsquanta. Im Internet kann sich das
Kapital genauso wenig reinkarnieren wie in der mikroelektronischen Industrie
oder in den Humandienstleistungen. Das globale Web-Business setzt nur jenen
Geister-Kapitalismus fort, dessen ruhelose Seele die für sich allein auf
Dauer nicht lebensfähige aufgeblasene Börsenkapitalisierung ist.

In der Tat besteht das Neue an der New Economy vor allem darin, dass sie das
ausschließlich spekulativ genährte Scheinwachstum verlängert, und zwar auf
eine noch viel windigere Weise als bisher schon. Ein erheblicher Teil der
E-Business-Phantasie war sowieso von vornherein auf die Börse gerichtet; und
eine ganze Reihe der »neuen« Unternehmen stellen nicht einmal virtuelle
Waren her, sondern offerieren schlicht als so genannte Discount-Broker
(Online- und Telefonbroker) die sekundenschnelle Abwicklung von Aufträgen
und »Realtime»-Informationen über die Kursentwicklung für die rapide
wachsende Masse der Amateur-Börsenzocker, bestehend aus Minderjährigen,
Hausfrauenclubs und Möchtegern-Cleverles jeden Alters und aus allen
Bevölkerungsschichten. Für lumpige 99 Mark gibt es die Börsensoftware »Money
Maker Classic»; und sogar die technischen Innovationen sind zunehmend auf
die Börse zugeschnitten: Mit dem »intelligenten Handy« kann man jetzt nicht
nur Einkäufe bezahlen, sondern direkt Börsen-Transaktionen abwickeln - am
Strand, im Auto oder im Bett.

Wie der Internet-Kapitalismus die zweite Stufe der Wegrationalisierung von
Arbeitskraft bildet, so bildet er auch die zweite Stufe der fiktiven
Börsenkapitalisierung. Nachdem absehbar geworden war, dass sich das
spekulative Potenzial der als Blue Chips bezeichneten klassischen Industrie-
und Dienstleistungskonzerne Ende der neunziger Jahre erschöpfen würde,
musste dem Voodoo-Finanzkapitalismus ein neues Feld eröffnet werden. In
Wahrheit besteht die New Economy vor allem aus einem zusätzlichen Segment
der Aktienmärkte, das sich (ausgehend von den USA) als so genannter Neuer
Markt mit eigenen Indizes etabliert hat.

Das ist kein neuer Markt für reale Warenproduktion, sondern eben für neue
Aktienpakete ohne jeden nennenswerten Verwertungsprozess. So trat in New
York seit Mitte der neunziger Jahre der Nasdaq Composite neben den
altbekannten Dow-Jones-Index; und in Deutschland macht der Nemax-Index des
Neuen Marktes (Nemax Allshare und Nemax 50) dem Dax Konkurrenz.

Auch die Börse Tokio hat im Januar 2000 mit dem Segment »Mothers« den ersten
Ansatz eines Neuen Marktes lanciert, dem bald mit Nasdaq Japan
der »Quantensprung« folgen soll. Sogar die aufstrebende junge Börse in Polen
liebäugelt schon damit, diesen Beispielen zu folgen. Zu erwarten ist, dass
solche neuen Aktienmärkte in kürzester Zeit an allen Börsen aus dem Boden
gestampft und mit eigenen elektronischen Handelssystemen versehen werden.

Es ist eine Flut von Neuemissionen, die da an die Börse drängen (inzwischen
20 bis 30 in einem Monat!) - mit dem einzigen Zweck, durch wilde Kurssprünge
nach oben Geld aus dem Nichts zu scheffeln. Angehängt an den Internet-Boom
haben sich alle möglichen Unternehmungen, die bis dahin niemals als
Aktiengesellschaften in Frage gekommen wären. In Frankfurt und London geht
sogar die Börse selbst an die Börse (mit B-Aktien der jeweiligen
Börsenvereine).

Börsennotiert und webaktiv ist inzwischen auch der deutsche Sexversand Beate
Uhse. Das Geschäftsergebnis ist zwar offenbar mager: »Nur verhältnismäßig
wenige allerdings bestellen dann online Artikel wie das Strapshemd
'Lustkracher' oder die Gleitcreme 'Glitschi' ...« (Der Spiegel, 10/00). Aber
darauf (nämlich auf reale Gewinne) kommt es ja auch schon längst nicht mehr
an, sondern eben auf eine möglichst schnelle und exorbitante
Börsenkapitalisierung am »Neuen Markt«.

Das gilt für die gehätschelten jungen Internet-Gründer doppelt und dreifach.
Während es bei den Blue Chips noch eine haltlose Gewinnphantasie für das
vermeintlich vor der Tür stehende Wirtschaftswunder war, von der die Kurse
nach oben getrieben wurden, ist der Neue Markt jetzt schon so weit, dass es
fast als schädlich für die Kursphantasie gilt, wenn ein soeben an die Börse
gegangenes junges E-Unternehmen nicht happige Verluste macht. In den USA
wurde dafür der Begriff der »Cash Burn Rate« geprägt:

»Dahinter steckt letztlich nur eine Frage: Wieviel Geld verbrennen Gründer
beim Gründen? Gemeint ist die Höhe aller monatlichen Ausgaben - für
Personal, Investitionen und Marketing -, die bei Web-Startups inzwischen
üppige Dimensionen erreicht. So verpulvern High-Tech-Schmieden in der Regel
schon im ersten Jahr 2,5 bis fünf Millionen Euro; Marketingausgaben können
dabei bis zu 50 Prozent ausmachen. Das Interessante daran: Je höher die Cash
Burn Rate (CBR), so die gängige Faustformel, desto erfolgreicher das
Startup. So ist eine monatliche Rate von 500 000 Euro für Internetgründer
normal (...).

Spätestens durch Startups wie Amazon.com oder Yahoo wurde klar: Wer im Web
was werden will, muss mit ordentlich PS auf den Datenhighway, um eine starke
Marke aufzubauen. Gewinne waren plötzlich egal, Anlaufverluste geradezu ein
Wachstumsindex (...). Den Rekord in Sachen CBR hält noch immer Amazon.com.
Der erst fünf Jahre alte Online-Buchhändler fuhr allein im vierten Quartal
1999 bei einem Umsatz von 676 Millionen Dollar einen Verlust von 185
Millionen Dollar ein. Das entspricht einer Verbrennungsquote von rund 60
Millionen Dollar im Monat. Auch nicht schlecht: Der
Dienstleistungsmarktplatz Smarterwork.com. Erst kürzlich schlossen die
Briten eine Finanzierungsrunde über zwölf Millionen Dollar ab, die
vermutlich nur für die nächsten sechs Monate reichen wird. Dasselbe Bild
hier zu Lande: Die Meinungsportale Ciao.com und Dooyoo.de beispielsweise
rechnen derzeit mit jeweils rund zehn Millionen Euro Anlaufverlusten bis zum
Jahr 2002 (...)«, so die Wirtschaftswoche (11/00).

Kein Wunder, dass unter den »Zehn Geboten für Revolutionäre« in der E-Conomy
das neunte lautet: »Trachte nach Potenzial - Gewinne sind
gal.« (Wirtschaftswoche, 33/99) Während der große Konsumgüter-Produzent
Procter & Gamble Anfang März 2000 an der New Yorker Börse für eine bloße
Gewinnwarnung (die Ankündigung nicht etwa von Verlusten, sondern von etwas
weniger Gewinn) mit einem drastischen Kurssturz von mehr als 30 Prozent
bestraft wurde und damit seinen zwölfjährigen Höhenflug als Blue Chip
beenden musste, rasten gleichzeitig die Kurswerte am Neuen Markt ohne jede
Rücksicht auf solche Nebensächlichkeiten nach oben.

So wurde etwa als Erfolgsmeldung berichtet, dass die Tomorrow Internet AG
(Hamburg) im Geschäftsjahr 1999 »nur« 15,46 Millionen Mark Miese gemacht hat
und das Ergebnis damit »um 18 Prozent besser ausfiel als der ursprünglich
geplante Verlust (...)« (Handelsblatt). Natürlich wissen alle längst, dass
das Gerede von bloßen »Anlaufverlusten« für das Gros der neuen
Aktiengesellschaften nichts als Augenwischerei ist. Die Broker selber machen
sich schon lustig über das Wortgeklingel der hoffnungsvollen
Internetkapitalisten:

»Fondsmanager und Analysten in Frankfurt spielen Bullshit-Bingo: Bei
Präsentationen haken sie Schlagworte ab, sobald der Vorstandschef sie in den
Mund genommen hat. Der Manager, der die meisten Worthülsen genannt hat,
gewinnt. 'Internetphantasie' allein genügt nicht mehr, um Kurssprünge zu
provozieren.« (Wirtschaftswoche, 10/00).

Aber Banken, Groß- und Kleinanleger machen mit, weil es in Wahrheit nicht um
mehr als zweifelhafte zukünftige Geschäftserfolge geht, sondern vielmehr
der »Gier-Faktor« alle auf phantastische Kurszuwächse von 100, 200 oder noch
mehr Prozent in kürzester Zeit hoffen lässt. An der »Traumfabrik Neuer
Markt« (Handelsblatt) verdoppeln sich die Ausgabekurse der Neuemissionen oft
schon innerhalb eines einzigen Tages.

Inzwischen hat sich sogar das Lottospiel direkt mit der neuen Börsenzockerei
verschränkt: Beim »Spiel 77« waren im März 2 000 Aktienpakete im Wert von je
10 000 Mark zu gewinnen. Wie die Pilze schießen sonderbare Mini-Unternehmen
mit einer Handvoll Beschäftigten aus dem Boden, die sich am Neuen Markt zu
sagenhaftem Reichtum hochkapitalisieren. So ging das virtuelle Auktionshaus
Ricardo.de 1999 mit 20 Beschäftigten, 5,7 Millionen Mark Umsatz und 2,5
Millionen Mark Verlust an die Börse, um über Nacht plötzlich 500 Millionen
Mark »wert« zu sein (gemessen am Emissionsjahr, wäre das der Gegenwert von
fast 100 Jahren des realen Umsatzes).

Nachdem die Kurse etwas zurückgegangen waren, gründete das
Miniatur-Unternehmen eine »Tochter« namens RicardoBIZ, die zum Beispiel die
Vermietung von Arbeitsräumen der Uni Frankfurt an Meistbietende vermittelt.

Dabei ist neuerdings auch wieder jener Lars Windhorst, der Mitte der
neunziger Jahre zum Lieblings-Jugendlichen von Altkanzler Kohl aufgestiegen
war, weil er schon im zarten Alter von 17 Jahren genügend soziale Stupidität
aufbrachte, um als Unternehmensgründer von sich reden zu machen. Nachdem der
smarte Geldjüngling das spekulative Projekt eines Büroturms für das
vietnamesisch-deutsche Geschäftsleben in den Sand gesetzt hatte, verschwand
er in der Versenkung - um pünktlich zur Jahrhundertwende als inzwischen
23jähriger alter Hase wieder aufzutauchen, selbstverständlich mit einer
Firma für verheißungsvolle Internet-Ideen, die ebenso selbstverständlich den
Börsengang ansteuert.

Vorgemacht haben es in der BRD Jungunternehmer mit ökonomischen Luftnummern
wie der 39jährige Paulus Neef mit der Multimedia-Agentur Pixelpark (42,4
Millionen Mark Umsatz, 4,2 Millionen Mark Verlust, 6,1 Milliarden Mark
Börsenwert), der 29jährige Stephan Schambach mit dem E-Commerce-Unternehmen
Intershop (Umsatz 90 Millionen Mark, Verlust 37 Millionen Mark, Börsenwert
16 Milliarden Mark) oder der 31jährige Karl Matthäus Schmidt mit dem
Discount-Broker Consors (Umsatz 117,8 Millionen Mark, Gewinn 24,5 Millionen
Mark, Börsenwert 8,2 Milliarden Mark).

Zusammen übertreffen die drei Kleinfirmen mit rund 30 Milliarden Mark den
selber schon überhöhten Börsenwert von Volkswagen, einem realen
Großunternehmen mit 147 Milliarden Mark Umsatz (Angaben nach: Der Spiegel,
9/00).

Unter solchen Bedingungen musste sich die zweite Finanzblase des Neuen
Marktes noch schneller und noch größer aufblähen als die erste der
traditionellen Aktienmärkte. Übertraf schon das spekulative Niveau der Blue
Chips alle historischen Rekorde, so setzte die Internet-Spekulation noch
eins drauf: Schon wenige Jahre nach seiner Gründung überflügelte der
Nasdaq-Index den Dow Jones ebenso wie der Nemax den Dax. So ist inzwischen
von einer Scherenbewegung der Aktienkurse die Rede: Während die Werte der
Blue Chips und andere traditionelle Aktienwerte nach zehn bis 15 Jahren
exorbitanter Steigerung stagnieren oder zurückgehen, setzt sich das
Kursfeuerwerk nun mit einer qualitativ neuen Intensität an den frisch
etablierten Neuen Märkten fort.

Hatten die traditionellen Unternehmen, die wenigstens überhaupt noch etwas
herstellen, ein selber schon historisch beispiellos überzogenes
Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von rund 30:1 erreicht, so liegt das KGV beim
Nasdaq Composite (und ähnlich auch in der Spitze der deutschen Nemax-Werte)
bei mehr als 200:1. Kein Wunder, dass diese klassische Messlatte für den
Marktwert von Aktien bei den E-Euphorikern nichts mehr gilt: »KGV
interessiert nicht«, so die Financial Times Deutschland, heißt es inzwischen
in diesen Kreisen. Da wird es selbst der US-Notenbank Fed unheimlich, die in
ihrem halbjährlichen Rechenschaftsbericht Ende 1999 warnte, die Nasdaq-Kurse
reflektierten »im Vergleich mit historischen Normen ungeheuerlich hohe
Gewinnerwartungen«. Es ist in der Tat unvorstellbar: Die
Börsenkapitalisierung der Nasdaq beträgt im ersten Quartal 2000 mit der
Summe von fünf Billionen Dollar bereits 60 Prozent des gesamten
Sozialprodukts der USA, der Anteil der betriebswirtschaftlichen
Wertschöpfung aus dem Netz dagegen liegt bei gerade mal drei Prozent; ganz
zu schweigen vom realen Anteil an Produktion, Umsatz und Beschäftigung.

Jedes Kind kann sich ausrechnen, dass dieser virtuelle Scheinkapitalismus
noch viel unhaltbarer ist als die spekulative Vorwegnahme eines
traditionellen Wirtschaftswunders bei den Blue Chips, das ebenfalls nie mehr
nachfolgen wird. Das Internet revolutioniert in der Tat die
Kommunikationsmöglichkeiten, aber in Wahrheit über den Kapitalismus hinaus.

Eine tragfähige kapitalistische »Web-Wirtschaft« wird es mangels Produktion
und Beschäftigung nicht geben. Außerdem ist der E-Commerce äußerst anfällig,
denn es erweist sich als ziemlich aufwendig, die weitgehend (von den
Telefongebühren abgesehen) kostenlose Nutzung des globalen Netzwerks in
einem wirklich großen Maßstab als kapitalistisches Angebot zu organisieren
und dabei die kommerzielle Abwicklung störungsfrei sicherzustellen.

Dieselbe Kostenlosigkeit, die betriebswirtschaftlich als Kostenkiller
erscheint und dadurch zum Beschäftigungskiller wird, führt den Kapitalismus
endgültig ad absurdum. Und nicht nur in negativer Hinsicht, nämlich als
Abschied von einer Welt der abstrakten Arbeit, sondern auch als positiver
Vorschein: Das Internet verweist auf eine Welt jenseits des Kaufens und
Verkaufens, auf ein wechselseitiges Gratis-Verhältnis bewusst
vergesellschafteter Individuen, während ein Gratis-Kapitalismus ein
Widerspruch in sich wäre. Mehr oder weniger deutlich spüren diesen Impuls
auch die Web-Surfer und Hacker, die sich gegen die Kommerzialisierung des
Internet wehren und durchaus das Know-how für eine effiziente elektronische
Sabotage besitzen.

Das zeigte sich Anfang 2000, als anonyme Angreifer in den USA und der BRD
die Portale namhafter Web-Kapitalisten stundenlang blockierten und damit
eine aufgeregte Debatte unter Bankern, Politikern und Geheimdiensten über
den Schutz des heiligen Privateigentums an virtuellen Produktionsmitteln im
Cyberspace auslösten.

Die eigentliche revolutionäre Bedeutung des Internet könnte in seinem Gehalt
als postkapitalistisches Universalmedium liegen, das innerhalb der
kapitalistisch verfassten Gesellschaft vor allem der oppositionellen
Kommunikation dient. Als Medium einer sozialen Gegen- und Massenbewegung hat
das Internet Zukunft. Es könnte die Konkurrenz durch globale
Direktkommunikation aufheben und würde perspektivisch zum Kinderspiel
machen, was der Räte-Idee immer als angebliche praktische Unmöglichkeit
vorgehalten wurde: die unmittelbare Interaktion einer globalen
Selbstverwaltungsgesellschaft ohne Geld und ohne Staat.


Der Beitrag erscheint voraussichtlich im Herbst in dem Buch »Dabeisein ist
alles. Die Voodoo-Ökonomie des neuen Weltmarktes und ihr absehbares Ende«,
Edition Tiamat, Berlin.


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