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[ox] Der Arbeitsbegriff bei Gorz



Liebe Liste,

anbei der zweite und dritte Teil von Heinz Weinhausen zu André Gorz.

Wie ich mittlerweile erfahren habe, ist das Material erstmals in der
Krisis 18 (1996) erschienen und in der Contraste demnach nur
wiederverwendet worden. Im dritten Teil ist auch der Anmerkungsapparat
untergebracht.

Wie gesagt deckt sich meine Kritik an Gorz weitgehend mit dem was
Heinz dazu sagt. Ich denke, daß wir heute - vier Jahre weiter - mit
der Freien Software auch ernsthaft was dagegen setzen können.


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan

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Der Arbeitsbegriff bei Gorz

Gorz hat einen negativ besetzten Arbeitsbegriff, er tritt für die
Befreiung von der Arbeit ein. (17) Dennoch bleiben sowohl seine Kritik
an der Arbeit, als auch seine Vorstellungen von einer Aufhebung der
Arbeit letztlich doch noch befangen in den Kategorien der modernen
Warenproduktion. Die Arbeit im Kapitalismus unterliegt durch die von
der Konkurrenzlogik erzungenen Produktivitätsdynamik einem ständigen
Wandel. Sie muß sich der unablässigen Revolutionierung des
Produktionsmittel stets anpassen. So wurde aus dem Handwerkerstolz das
Fließbandleiden. Hier erst setzt Gorz an. Er bezieht sich in seiner
Kritik der Arbeit in erster Linie auf die Zumutungen der empirischen
Form der Arbeit im Fließbandkapitalismus, welche als
maschinenbestimmtes, zerstückeltes und monotones Handeln
charakterisiert werden kann. Gorz fragt sich, wo hier der von Marx
bemühte "Baumeister" überhaupt noch seinen Platz finden kann. (18) Er
erkennt und beschreibt hierin treffend einen Grund für die
Deformierung durch die Arbeit, die auch in der Sphäre der Nicht-Arbeit
nicht aufgehoben ist, wie sich etwa im kompensatorischen
Konsumverhalten zeigt. (19) Und es ist offensichtlich, daß Menschen in
diese Arbeitsbedingungen nur gezwungen werden können, weil sie ihre
Arbeitskraft verkaufen müssen, um ihre Reproduktion zu sichern. Die
jeweilige Technologie und der Herstellungsprozeß ist nun immer schon
durch den Filter der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse
hindurchgegangen. Aus diesem Grund ist ein kritisches Verhältnis zur
kapitalistisch geformten Technik angesagt, nicht aber braucht
industrielle Technik per se abgelehnt zu werden. Eine Überwindung der
wertförmigen Vergesellschaftung würde unweigerlich die Entwicklung
einer »menschlichen« Technik auf die Tagesordnung zu setzen. Das
Produzieren und die Produktionsmittel könnten dann den individuellen
menschlichen Bedürfnissen angepasst werden. (20) Dies schließt auch
mit ein, daß einerseits die Latte der Produktivität nicht zwanghaft
ständig nach oben angepaßt und daß andererseits immer auch schon
ökologische Aspekte mitberücksichtigt werden müßten. (21)

Gorz vertritt dagegen die These, daß industrielles Produzieren an sich
und demnach »ewig« ein fremdbestimmtes Tun bleiben müsse. "Ein so
alltägliches Gerät wie eine Waschmaschine enthält eine Fülle von
Kenntnissen, die die Fähigkeiten mehrerer Zehntausende von Personen
übersteigt. ... Die Koordinierung einer so großen Vielfalt
spezialisierter Aufgaben erfordert ihrerseits prädeterminierte
Verfahren und Regeln, die individuelle Phantasie ausschließen. Der
Apparat gesellschaftlicher Produktion kann nur nach Art einer einzigen
großen Maschine funktionieren, der alle Tätigkeiten untergeordnet
sind. ... Die im Rahmen der gesellschaftlichen Produktion von jedem
geleistete Arbeit ist also notwendig heteronom, das heißt: welche
Qualifikationsstufe sie auch hat, ihrem Inhalt und ihren Modalitäten
nach ist sie von technischen Imperativen bestimmt." (21) Gorz
kritisiert hier das Fremdbestimmte einer fordistischen
Produktionsweise, sieht aber die Ursache in technologischen
Sachzwängen statt in der wertförmigen Zurichtung der
Herstellungsprozesse. Daher bleibt für ihn die »Sphäre der heteronomen
Arbeit« auch unaufhebbar und kann nur durch eine »Sphäre autonomer
Tätigkeiten« ergänzt werden«. Gorz sieht keinen anderen Ausweg, als
die heteronome Sphäre zurückzudrängen, um so wenigstens das
Arbeitsleid zu minimieren. Deshalb gelte es, die Arbeitszeit auf
möglichst vier Stunden am Tag zu verkürzen. Auf diese Weise fielen die
Zumutungen geringer aus und ließen sich leichter kompensieren. Es
bliebe noch genug Zeit, Mensch zu sein. Zumal sich auch die Hierarchie
am Arbeitsplatz durchaus auflösen ließe; "Der Arbeitsplatz kann zu
einer Stätte des Austausches, der Kooperation und des guten
Einvernehmens werden." (23)

Eine Überwindung des heteronomen Vier-Stunden-Apparates allerdings
erscheint Gorz unmöglich. "Die gesellschaftliche Zusammenarbeit auf
der Ebene eines großen Wirtschaftsraums kann keine selbstbestimmte und
freiwillige sein." (24) Denn auf dieser Ebene herrsche
notwendigerweise eine objektive und unaufhebbare ökonomische Logik:
"Handeln ist ökonomisch rational, insofern es auf die größtmögliche
Leistung (Produktivität) der eingesetzten Faktoren abzielt. Gemessen
wird Leistung im ökonomischen Sinn an dem pro Quantum eingesetzter
lebendiger oder toter Arbeit» (zirkulierendes und fixes Kapital)
erzielten Profit. Welche immer auch die Eigentumsverhältnisse sein
mögen, gibt es vom betriebswirtschaftswissenschaftlichen Standpunkt
aus nicht einerseits eine kapitalistische, andererseits eine
sozialistische ökonomische Rationalität. Diese Einsicht hat sich in
letzter Zeit überall durchgesetzt ." (25) Und von diesem
Wirtschaftswissenschaftsstandpunkt aus, in dem Gorz befangen bleibt,
ist seine Argumentation durchaus folgerichtig. Ihm ist es undenkbar,
daß makrogesellschaftliches Produzieren ohne Profitanreiz bzw. anders
als in der Wertform organisierbar wäre. Ökonomisch rationale Arbeit
ist dann folglich nur zu leisten mit ökonomisch rationalen Maschinen
und ökonomisch rationaler Infrastruktur. So bestimmt Gorz die heutige
Technik nicht als stofflichen Ausdruck der Wert- und Geldgesellschaft.
Stattdessen nimmt er die vom Wert konstituierten empirischen
Erscheinungen der fortgeschrittenen Produktivkraft selbst für »bare
Münze« und verlängert sie in die Zukunft.

Nun gehört er aber nicht zu denen, die das betriebswirtschaftliche
Produzieren vergöttern und die Politik nur darauf beschränken wollen,
die daraus folgenden gesellschaftlichen und ökologischen Verwüstungen
hier und da zu reparieren, eine Politik, die unter dem Namen
Sozialdemokratie und Grünen sich etabliert hat. Für Gorz ist die
wertförmige Ökonomie nur ein notwendiges Übel, das die Menschheit aber
stets mit sich herumschleppen muß. Die kapitalistische Logik scheint
ihm unbesiegbar, doch geht er immerhin so weit, sie in eine Nebenrolle
drängen zu wollen. Daß er damit innerhalb der deutschen
Sozialdemokratie, welche die Arbeit als gesellschaftlichen
Hauptpfeiler bejaht, teil- und zeitweise durchaus Gehör gefunden hat,
erklärt sich einerseits aus der strukturellen Krise dieser
Arbeitsgesellschaft, also durch die hohe Produktivität bedingten
massiven Freisetzung von Arbeitskräften, die nicht wieder integriert
werden können. (26) Wo niemand mehr auf dem alten Wege weiter weiß,
rücken die Kritiker allmählich ins Blickfeld. Andererseits baut Gorz
auch der Sozialdemokratie eine ideologische Brücke, indem er nämlich
die Unaufhebbarkeit der Arbeit und der warenförmigen Vermittlung
gesellschaftlicher Beziehungen vertritt.

Angefügt sei hier noch, daß auch eine duale Konzeption - selbst wenn
sie gegen die Schwerkraft der Warenlogik durchgesetzt werden könnte -
die Krise nicht zu lösen imstande wäre. Selbst eine drastische
Reduzierung der Arbeitslosigkeit durch Umverteilung des Arbeitsvolumen
würde das Kernproblem nicht lösen: den Prozeß des absoluten
Schrumpfens von wertproduktivem Arbeitsvolumen, einer Reduktion der
Wertmasse im substantiellen Sinne. Alle Regulierungsversuche auf
dieser Ebene der Krisensymptome verschärfen nur noch das geldförmige
Dilemma; entweder durch Demontage des Sozialstaates und Lohnsenkung
(wozu auch die Arbeitszeitverküzung zu rechnen ist), die Kaufkraft
abzuwürgen oder durch höhere Staatsverschuldung sich
Währungsturbulenzen und Inflation einzuhandeln. Das Ergebnis ist das
Gleiche: Der kapitalistische Motor kommt noch stärker ins Stottern und
eine Verschärfung des wirtschaftlichen Einbruchs ist unausweichlich.
(27)

Eine großtechnische Produktion muß aber nicht - wie Gorz annimmt -
auch sozial nach Maschinenart funktionieren. Die Ursache des
Fremdbestimmten liegt nicht darin, daß für einen bestimmten
maschinellen Prozeß, wie z.B. die oben zitierte
Waschmaschinenherstellung, vielfaches Wissen, Fertigkeiten,
Zeitabläufe, Maschineneinsatz u.a. koordiniert werden müssen. Befreit
vom Geld- und Rentabilitätszwang wäre es möglich (und erforderlich),
nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene freie Absprachen über
Zweck- und Zielsetzungen der Produktion, über Quantitäten und
Qualitäten zu treffen. Auch auf der Ebene des einzelnen
Produktionsprozeßes hätten die Menschen die Freiheit, sich über die
jeweiligen 'Spielregeln' zu verständigen. Diese Freiheit ist natürlich
keine absolute, hat keinen reinen spielerischen Charakter, sondern ist
hauptsächlich ernsthafte Festlegung, wie das zweckgerichtete Projekt
unter Berücksichtigung etlicher Kriterien wie etwa Stoffaufwand,
Haltbarkeit, Bedienbarkeit, ökologischer Vertretbarkeit, Zeitaufwand
und Zeitkoordination, Kommunikation, Verantwortlichkeit, Kompetenz,
Schaffensfreude, Mühe, Monotonie, usw. realisiert werden kann. Die
Befriedigung aus diesem Handeln ist nicht in erster Linie aus der
Schaffensfreude abzuleiten, vielmehr aus dem Einbringen in ein
sinnvolles, gesellschaftliches Tun, das aus Einsicht in den
gesellschaftlichen Zusammenhang geschieht. Es wäre eine Form des
Betätigens als Gemeinschaftswesen, das neben der Anstrengung auch
Befriedigung in sich trägt, gerade weil sie auf die Mitmenschen
gerichtet ist. Das gesellschaftliche Regelwerk ist dann durchaus als
individuell beeinflußbares denkbar. Teamwork in der industriellen
Fertigung ist nicht an sich fremdbestimmt, sondern unter anderen
Rahmenbedingungen durchaus als selbstbestimmt zu charakterisieren.
(28)

Angemerkt sei hier, daß die oft von Gorz hervorgehobene Forderung nach
einer "Erweiterung derjenigen Sphäre, in der die Tätigkeiten um ihrer
selbst willen aus Neigung, Freude, Berufung, Leidenschaft, Liebe usw.
ausgeübt werden" (29), natürlich ihre Berechtigung hat. In der
Herstellung von Waschmaschinen werden auch in einer veränderten
Zukunft wahrscheinlich nur wenige eine Tätigkeit um ihrer selbst
willen im obigen Sinne erblicken. Hier hat die gesellschaftliche
Sinnhaftigkeit des Tuns Priorität, was Momente von direkter
Befriedigung aus dem Inhalt dieses Tuns nicht ausschließen muß.
Darüberhinaus ist natürlich auch ein individueller Freiraum wichtig,
wo die einzelnen Gelegenheit haben, genau das zu tun, was ihnen
wirklich persönlich wichtig ist. Dies schließt wiederum nicht aus, daß
dieses Tun gleichzeitig einen sinnvollen gesellschaftlichen Beitrag
bedeuten kann. Jenseits der »Arbeit« lösen sich die Dualismen auf.

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Ohne Moos viel los

Wenn das Gorz'sche Gesellschaftsprojekt, den Kapitalismus zwar zu
"minimieren", letzlich aber doch zu konservieren, illusorisch ist, so
verweist es angesicht der schon real begonnen Zusammenbruchsepoche der
Wertvergesellschaftung doch gangbare praktische Schritte. Ist die
heutige Strukturkrise warenförmig nicht bewältigbar, dann bleibt als
einzig konstruktive Perspektive nur, damit zu beginnen, geldbefreite,
kooperative Zusammenhänge zu organisieren, in denen das Produzieren
und die Dienste, letztlich das Miteinanderleben eine neue
selbstbestimmte Qualität bekommen. Zwischen einer solchen Perspektive
und den Gorz'schen Vorstellungen über die "autonome Sphäre" gibt es
durchaus gewisse Berührungspunkte, doch gewinnt sie vor dem
Hintergrund der realen Krisenentwicklung eine andere Qualität.

Wo das Kapital sich im Zuge der Krise zurückzieht, da geht auch ein
Teil seiner Herrschaft über die stoffliche Welt verloren. Es
hinterläßt in diesen Orten und Regionen die Gebäude, die Maschinen
etc. und vor allem in den Metropolen ein hohes Potential an
menschlicher Produktivkraft. Und neben der unübersehbaren Tendenzen
zur allgemeinen Verrohung und zur Fortsetzung des Konkurrenzkampfes
mit babarischen Mitteln entstehen erfahrungsgemäß auch Ansätze
kooperativer Krisenbewältigung in Gestalt von Nachbarschaftshilfe oder
sonstigen Formen kollektiver Selbsthilfe. (30) In dem Maße, wie die
Dauerkrise alle geldförmigen Lösungen diskreditiert, könnten diese
Miniprojekte beginnen, sich durch Vernetzung zu stabilisieren und so
zugleich die Perspektive einer umfassenden direkten Vergesellschaftung
eröffnen. Wenn auch der Sozialstaat in dieser Phase seinem eigenem
Anspruch kaum noch wird gerecht werden können, bestünde doch die
Möglichkeit seine verbliebenen finanziellen Spielräume im Sinne einer
"Hilfe zur Selbsthilfe" nutzbar zu machen, etwa um Maschinen und
Material zur Renovierung von Häusern in Eigenregie bereitzustellen.
(31)

Partiell abgekoppelt vom Weltmarkt wäre ein Produzieren ohne Geldzweck
möglich, zumal dann der Zwang wegfiele, immer auf höchstem
Produktivitätsniveau zu produzieren. Jeder Produktausstoß brächte hier
einen Nutzen, wie ja auch ein Gemüsegarten oder eine Hobbywerkstatt
betrieben werden, ohne marktfähig zu sein. (32) Es bestünde die
Möglichkeit, daß sich in diesen Bereichen allmählich ein neues
konstruktiv-komplexes Bewußtsein herausbildet, das die
Subjekt-Objekt-Dichotomie partiell transzendiert und sich selbst, die
Gesellschaft und die Natur als Wirkungszusammenhang versteht. Die
Fähigkeit zu einem Denken und Handeln in ganzheitlicher Dimension wäre
wiederum eine wichtige Vorausetzung dafür, daß dieser Sektor
erfolgreich auf die gesamtgesellschaftliche Ebene ausgedehnt werden
könnte.

Um diese konstruktive Perspektive in Regionen, die noch nicht so
heftig von der Krise betroffen sind, auf den Weg zu bringen, könnte
eine zweite Gorz'sche Kernforderung aufgegriffen werden: die der
Arbeitszeitverkürzung. Die allgemeine Reduktion des Arbeitspensums
würde die Möglichkeit eröffnen, die gewonnene Zeit mit Eigenaktivität
zu füllen, bzw. ein Stück Distanz gegenüber der verinnerlichten
Leistungsdoktrin zu gewinnen. Und eine dann unumgängliche Reduzierung
des leerlaufenden kompensatorischen Konsums wäre ja immerhin viel
erträglicher als die sonst drohende Entlassung in die
Dauerarbeitslosigkeit. Das gewonnene Zeitpotential könnte nicht nur
gemäß individuellen Wünschen ausgefüllt, sondern vor allem kooperativ
genutzt werden durch Organisierung von Selbsthilfe,
Unterstützungsringen o.ä. (33)

Im Kern geht es bei diesen Ansätzen von Alternativen um das
Praktischwerden eines neuen Lebenstiles. Noch fehlt diesem allerdings
der Freiraum für seine Entfaltung; noch für längere Zeit wird auch ein
kooperativ organisierter Sektor zwangsläufig an die alte Geld-Welt
angenabelt bleiben, weil sich vorerst dort nicht alle Güter herstellen
lassen und nicht alle Dienste garantiert werden können, die auch bei
konsumkritischem Leben benötigt werden. So wird zunächst ein
kompliziertes Nebeneinander unvermeidlich sein. Auf der einen Seite
wird noch Geld für Rohstoffe, Nahrungsmittel usw. aufgebracht werden
müssen, (durch Teilzeitarbeit oder Staatshilfe o.ä.). Auf der anderen
Seite stünde, um mit Gorz zu reden, die "autonome Sphäre", das
vernetzte, kooperative Produzieren jenseits des Marktes. Ob und wie
ein solcher neuer gesellschaftlicher Sektor schließlich die Hegemonie
gewinnen kann, bleibt offen. Fest steht nur, daß Gorz' Vorstellung von
einer friedlichen Koexistenz beider "Sphären" unhaltbar ist. Erstens
weil ein nicht-warenförmiger Lebenstil aus sich heraus dazu tendieren
wird, sich gänzlich von den Zumutungen des realexistierenden
"Industriesystems" zu befreien, und das bedeutet die Aufhebung des
abgetrennten Sphäre der Arbeit und die Integration des Produzierens
als Ausdruck menschlichen Seins in den Alltag. Zweitens, weil die
Implosion des Kapitals ein fortdauernder, sich beschleunigender Prozeß
ist, der ständig neue Verarmung "produziert" und das soziale Gefüge
zersetzt bis hin zum perspektivlosen Bürgerkrieg.

Als Fazit der Auseinandersetzung mit dem Gorz'schen Konzept möchte ich
festhalten, daß dieses durchaus Bewegung in die Debatte bringen kann,
wie dem alt werdenden Kapitalismus zu Leibe gerückt werden könnte.
Andererseits steht es auf einem bröckeligen theoretischen Fundament.
Um eine tragende Perspektive zu formulieren, wäre das Anfangszitat von
Gorz umzuwandeln: Den Kapitalismus überwinden heißt hauptsächlich und
notwendig, die Herrschaft der Warenbeziehungen - einschließlich des
Verkaufs der Arbeitskraft - zugunsten der einen Sphäre der
selbstbestimmten gesellschaftlichen Tätigkeiten und Beziehungen zu
beseitigen.


1  ...aus einem Lied von "Klaus dem Geiger und den Kölner
   Straßenmusikanten", CD-1994

2  André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983, S.85

3  André Gorz, Und jetzt wohin?, Berlin 1991, S.128

4  Kursiv-Gedrucktes im Text gibt Formulierungen von Gorz wieder.

5  Die auf niedrigem Produktivitätsniveau aufgebaute Sowjetunion konnte
   noch nicht einmal daran denken, das Arbeiter-Dasein in Frage zu
   stellen. Hier ging es aus Überlebensgründen darum, möglichst viele
   Menschen in die intensive Arbeit zu zwingen. "In seinem eigenen
   Interesse als frischgebackener »Herr des Staates« soll der Arbeiter
   sein »eigenes« Interesse als Arbeiter verleugnen. Der Arbeiter soll
   in einer Person Egoist sein als Arbeiter mit einem unmittelbaren,
   auf Lohn und Arbeitsbedingungen gerichteten Interesse, und er soll
   zugleich Altruist sein als Inhaber der Staatsmacht. Das Ideal wäre
   zweifellos eine Arbeiterschaft, die aus Einsicht dahin gelangt, den
   Stumpfsinn ununterbrochener »Maloche« zu bejahen. Das läuft
   natürlich auf nichts anderes als auf den Versuch der Quadratur des
   Kreises hinaus,..." so Peter Klein in Die Illusion von 1917,
   Unkel/Rhein; Bad Honnef 1992, S.125

6   André Gorz, Und jetzt wohin ?, Berlin 1991, S.118

7  André Gorz, Abschied vom Proletariat, (1980) Frankfurt 1988, S.62 ;
   vgl. auch Kurz/Lohoff: "Die revolutionären Subjekte organisieren
   sich nicht als Arbeiter, sondern als Kommunisten, deren
   unmittelbares Ziel es nur sein kann, das Arbeiter-Dasein für immer
   abzuschütteln." Marxistische Kritik 7, Erlangen 1989, S.27

8  André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983, S. 68

9  André Gorz, Abschied vom Proletariat, (1980) Frankfurt 1988, S. 162

10 André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983, S.152f. Gorz sieht die
   Reduzierung von Arbeitszeit verknüpft mit einem Zurückdrängen des
   Konsumismus. "Wenn ich meine Zeit verlieren muß, um Geld zu
   verdienen, so will ich dafür »etwas von meinem Geld haben«.
   Zeitpolitik kann zum wirksamsten Mittel werden, um das ökologisch
   notwendige Schrumpfen des Warenkonsums mit dem Streben nach
   größtmöglicher Selbstgestaltung des eigenen Lebens zu verbinden.
   Das ökologisch produktive Schrumpfen des Wirtschaftssystems
   verlangt folglich Verzichte, aber diese Verzichte brauchen kein
   Opfer zu bedeuten. Viele Bedürfnisse können durch geringere Mengen
   besserer und dauerhafterer Produkte besser befriedigt werden, und
   die Konsumwünsche selbst können verringert werden durch bessere
   öffentliche Dienste und Einrichtungen, eine bessere Lebensumwelt,
   eine entspanntere und konvivialere Lebensweise mit mehr disponibler
   Zeit. Wir könnten mit weniger Konsum besser leben und arbeiten. "
   (Andre· Gorz, Und jetzt wohin?, Berlin 1991, S. 141f.)

11  André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983, S. 80

12  André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983, S. 95

13  André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983, S. 147

14  André Gorz, Abschied vom Proletariat, (1980) Frankfurt 1988, S.88 f

15  André Gorz, Und jetzt wohin ?, Berlin 1991, S. 84

16  André Gorz, Und jetzt wohin ?, Berlin 1991, S. 96

17 Hier kann er an einen radikalen Argumentationstrang von Marx
   anknüpfen. "Nicht allein das Privateigentum als sachlichen Zustand,
   das Privateigentum als Tätigkeit, als Arbeit, muß man angreifen,
   wenn man ihm den Todesstoß versetzen will. Es ist eines der größten
   Mißverständnisse, von freier, menschlicher, gesellschaftlicher
   Arbeit, von Arbeit ohne Privateigentum zu sprechen. Die 'Arbeit'
   ist ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche,
   ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das
   Privateigentum schaffende Tätigkeit. Die Aufhebung des
   Privateigentums wird also erst zu einer Wirklichkeit, wenn sie als
   Aufhebung der 'Arbeit' gefaßt wird,... Eine 'Organisation der
   Arbeit' ist daher ein Widerspruch." (Karl Marx über Franz List,
   Berlin 1972, S. 24f.)

18 "Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln,
   und eine Spinne beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen
   menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten
   Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, daß er die Zelle
   in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des
   Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn schon
   ideell vorhanden war. " (Karl Marx in MEW 23, Berlin 1975, S.193)

19 "Die kompensatorischen Güter werden also ebensosehr - wenn nicht
   gar noch mehr - ihrer Nutzlosigkeit halber begehrt wie wegen ihres
   Gebrauchswertes; denn dieses Element des Nutzlosen symbolisiert die
   Flucht des Käufers aus dem kollektiven Universum der funktionalen
   Notwendigkeit in eine private Nische souveräner Freiheit." (André
   Gorz, Und jetzt wohin ?, Berlin 1991, S. 53)

20 Inzwischen versucht ja bekanntlich sogar ein Teil der Unternehmen
   die menschliche Eigeninitiative auf hohem Produktivitätsniveau
   wieder zu aktivieren und zu verwerten. So hat die
   Maschinenbau-Firma Ekato in Süddeutschland ihre neue Fabrik mit
   Fertigungsinseln ausgestattet, wo mit der üblichen Arbeitsteilung
   gebrochen wird. In Gruppenarbeit macht hier jeder alles, von
   Planung, Konstruktion bis zur handwerklichen Umsetzung. Die
   Trennung von Kopf- und Handarbeit soll überwunden werden. Der
   unvermeidliche Pferdefuß ist jedoch, daß alle Beteiligten sich dem
   Imperativ der "betrieblichen Kostenminimierung" unterwerfen, ja
   dieses Kriterium verinnerlichen müssen. Dennoch scheinen hier neue
   positive Potentiale auf, die Gorz bisher nicht wahrgenommen hat und
   die jenseits der Kostenrechnung betriebswirtschaftlicher
   Rationalität auch innerhalb der industriellen Produktion eine
   Aufhebung der Fremdbestimmung versprechen.

21 Riesenproduktionsstätten wie z.B. BAYER in Leverkusen
   disqualifizieren sich dann allein schon wegen der unweigerlichen
   Verkehrsproblematik

22  André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983, S. 81 f

23  André Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983, S.84

24  André Gorz,Wege ins Paradies, Berlin 1983, S.84

25  André Gorz, Und jetzt wohin?, Berlin 1991, S.83f

26 "Anfang 1994 waren weltweit 820 Millionen Menschen oder 30 Prozent
   der gesamten Arbeitnehmerschaft ohne Beschäftigung" so die
   Internationale Arbeitsorganisation (IAO) laut dpa. Offiziell waren
   120 Millionen Arbeitslose registriert. Gäbe es den
   vollautomatisierten Kapitalismus, wäre kein Geld mehr da, die
   riesigen Warenberge zu kaufen. Die Menschheit müßte nach dieser
   Logik verhungern. In diesem fiktiven Extrem läge der Wert-Fetisch
   selbst dem gesunden, sprich dem nur auf der Erscheinungsebene
   verharrenden Menschenverstand offen zutage. Anstatt das Zeitliche
   zu segnen, würde er dann wohl endlich die Einsicht gewinnen, daß es
   möglich ist, Gebrauchsdinge praktischerweise auch ohne
   Geldvermittlung zu produzieren und zu genießen.

27 vgl. R.Kurz, Die Himmelfahrt des Geldes, Krisis 16/17, Bad Honnef
   1995

28 Übrigens kann auch der Do-it-youself-Baumeister seine Zeit nicht
   nur so nützen, wie es ihm gefällt. Auch er muß sich auf die
   Gegebenheiten des Stoffes und seiner Gestaltung einlassen und
   dementsprechend handeln, um sein Ideal zu verwirklichen. Ohne ein
   gewisses Maß an Disziplin, Mühe, Planen, ohne individuelle
   »Spielregeln« wird auch er nicht auskommen.

29  Andre·Gorz, Wege ins Paradies, Berlin 1983, S.85.

30 Am fortgeschrittensten zeigt sich diese Option in der Bewegung der
   »Lokalen Ökonomie« mit ihrem Schwerpunkt in England und Schottland
   und ersten Ansätzen in Deutschland. "Mit dem Begriff »Lokale
   Ökonomie« werden wirtschaftliche Aktivitäten beschrieben, die 1)
   einem lokal und sozial begrenzten Gebiet zugeordnet sind, 2) die
   dort lebenden Menschen, ihre ökonomischen Wünsche und Möglichkeiten
   betreffen, 3) die von ihrer eigenen Iniative getragen werden und 4)
   die nicht nach den Gesetzen von Konkurrenz und Markt, sondern nach
   eher nachbarschaftlichen Regeln von Austausch, Solidarität und
   Hilfe funktionieren." (so Peter Bach in seinem Referat "Lokale
   Ökonomie - ein Mittel zur kommunalen Selbsthilfe in Mülheim?"
   Lokalberichte Köln 2/95). Ein dort genanntes Beispiel ist das
   schottische Bergarbeiterdorf Cowie. Nach Schließung der letzten
   Zeche wurde eine Holzverarbeitungskooperative mit 200 Mitgliedern
   gegründet, welche seit 10 Jahren das Dorf damit versorgt.

31 "Wie früher Häuser gebaut wurden, nämlich aus Fachwerk und Lehm,
   das haben ein Dutzend Obdachlose in Eckartsheim bei Bielefeld
   nachgemacht. In die Kleinstwohnhäuser mit 53 qm werden sie selbst
   einziehen - ein bundesweit einmaliges Experiment." (Prisma, Nr
   2/96, S.45).

32 Hier geht es um die prinzipielle Ebene. Eine verallgemeinerte
   niedrige Produktivität eines 'Small is beautiful' ist nicht zu
   verabsolutieren, da dies auch bei Konsumreduzierung in Plackerei
   ausarten müßte. Es soll andererseits nicht heißen, daß
   Selbstversorgung stets ineffizient sein muß. So wurde in den von
   Fridjof Bergmann initiierten »New Work«-Projekten mit Obdachlosen
   eine neue Idee geboren und erprobt: »high tech selfproviding«,
   Selbstversorgung auf hohem technischen Niveau. (vgl. Die Zeit,
   18.3.94)

33 Bereits heute sind in Deutschland etliche lokale Tauschbörsen
   entstanden wo trotz der Form einer Verrechnung der Leistungen in
   Zeiteinheiten der Gedanke wechelseitiger Hilfe im Vordergrund
   steht. So die Zeitbörse in Kassel. "Unter dem Motto »Bei uns ist
   auch ohne Moos was los« können von den mittlerweise fast 50
   Mitgliedern der Kasseler Zeitbörse eine Reihe von Dienstleistungen
   untereinander anstatt gegen Geld mit der erbrachten Zeit getauscht
   werden, die vom vegetarischen Kochen, über das Baby-Sitten bis zur
   Hilfe bei Umzügen, etc. reicht. Mit diesem Angebot, für das den
   Erbringern die geleistete Zeit auf einem Zeitkonto gutgeschrieben
   wird, ist es der Zeitbörse gelungen, einen Beitrag zur
   Erleichterung des Alltags der Mitglieder zu leisten, so daß in der
   Zeitbörse mittlerweile Menschen aus den unterschiedlichsten
   sozialen Zusammenhängen zusammenarbeiten, ..." heißt es in der
   Presseerklärung vom 6.1.96 anläßlich des einjährigen Bestehens.


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