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Thread: oxdeT00864 Message: 23/51 L9 [In index]
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[ox] Re: [ox] Technik und Selbstentfaltung (was: Re: "Flügel")



Ich finde das nicht nur vom Ansatz her eine recht neue Diskussion -
wahrscheinlich hat's das zu Zeiten Oktoberrevolution schon mal gegeben
- -, sondern auch eine *verallgemeinerungsfähige* Perspektive. Das ist
eine Perspektive, mit der ich zu Herr und Frau NachbarIn gehen kann
und sagen: "Hey, wir wollen eine neue Gesellschaft bauen. An deinem
materiellen Wohlstand wird dir nichts genommen werden - nur Arbeiten
mußt du dafür nicht mehr wenn du nicht willst." Wer könnte dazu Nein
sagen?

Viele Leute wuerden aus Gewohnheit oder Instinkt heraus Nein sagen.
Andere wuerden sich wiederum langweilen, gammeln und Aggressionen
entwickeln.
Die Universitaet ist oft deshalb ein Ort des endlosen Intrigierens, weil
Leute dort nicht unter staendigem Verwertungsdruck stehen.
Leute wie Daniel Riek sind in der Linux-Gemeinde deshalb hoch angesehen,
weil sie solchen Druck meistern und trotzdem etwas beitragen.
Die Linux-Gemeinde sollte und wird sich vorsehen, sich von einer
bestimmten moeglicherweise falschen Anthropologie vereinnahmen zu lassen. 
 
Ich würde dir insofern zustimmen, daß in den industrialisierten und
hochindustrialisierten Teilen dieses Planeten Technik eine
Lebensgrundlage geworden ist - genauso wie sie destruktiv geworden ist
und die biologische Lebensgrundlage mittlerweile nicht mehr nur
bedroht sondern immer mehr anfrißt (Stichwort: Klimakatastrophe).

Nicht Technik ist das Problem sondern die Unfaehigkeit der Menschen, mit
ihren Moeglichkeiten verantwortungsvoll umzugehen.
 
Daß diese heutige Technik global so destruktiv ist, ist nach meiner
Einschätzung auch eine Folge ihres Einsatzes in der blinden
Wertverwertung deren Ergebnis sie ist (ja, auch in den hingeschiedenen
sog. realsozialistischen Staaten).

Worin bestuende ein "nicht wertverwertender" Einsatz von Technik?
Wie koennte der zur Vermeidung kollektiver Katastrophen beitragen?

Aber da kann ich mich irren. Ich weiß nicht, ob eine Technik, die aus
Gründen der Selbstentfaltung entwickelt wird, *per se* weniger
destruktiv ist.  Wir können das momentan hoffen und vielleicht auch
hoffen, daß sich bei Abwesenheit des Profitprinzips gesellschaftliche
Kräfte entwickeln, die destruktive Technik tendenziell verhindern -
aber das haben wir noch nicht wirklich diskutiert.

Richtig. Ohne solche Wachsamkeit wird diese Liste schnell zu einer
weiteren Sekte und verspielt dann ihre Chance, umsetzbare Zukunftsvisionen
zu entwickeln.
 
Eins ist aber klar: Wenn Technikentwicklung weiter unter
Profitprämissen entwickelt wird, ist das in absehbarer Zeit das Ende
der Zivilisation so wie wir sie kennen.

Auch das ist nicht klar.
Einigermassen unstrittig duerfte lediglich sein, dass eine weitere
einseitige Entwicklung der Technik ohne eine entsprechende Entwicklung der
gesellschaftlichen Verantwortungsfaehigkeit die bereits vorhandene Krise
noch schlimmer wird.
 
Ich hab nochmal über die Sache mit dem fest eingebauten Wunsch nach 
Selbstentfaltung nachgedacht. Irgendwo (aber wo genau, weiß ich nicht mehr) 
schreibst du ja selbst, daß der bei Kindern fest eingebaut sei. Allerdings 
wird er im Laufe ihrer Entwicklung gewöhnlich schrittweise deaktiviert. Bei 
Menschen, die so deaktiviert sind, daß sie in ihrer wenigen Freizeit nichts 
anderes mehr zustande bringen als den Fernseher einzuschalten, bringen 
natürlich auch menschliche Umstände nichts.

Ich würde mich da auch fragen: Na und? *Ich* will in einer besseren
Welt leben und die führt nach meiner Überzeugung über den hier
diskutierten Weg. Wie Stefan Mz. in seiner "Macht des Faktischen"-Mail
sehr richtig ausgeführt hat, machen wir etwas *neben* diesen kaputten
Existenzen.

Wenn wenigstens die Voraussetzung stimmen wuerde, koennte ich mich damit
ja anfreunden.  Was ist aber, wenn viele Menschen gar nicht dazu gebracht
werden koennen, nach hoeherem zu streben?  Was ist, wenn in deren Selbst
einfach nichts ist, was zu entfalten sich lohnen wuerde?  Der Lehre vom
Menschen als Opfer der Gesellschaft will ich nicht ohne weiteres glauben.
Das klingt verdaechtig nach demokratischer Souveraen-Schmeichelei.  
Moeglicherweise ist dieser Souveraen weitgehend einfach ein Schweinehund,
und dann sollte man ihm das ungeschminkt sagen.  Wollen wir die
Schweinehundsentfaltungsgesellschaft?

Mir wuerde statt der "Selbstentfaltung" noch eher die "Entfaltung der
Gottesnatur im Menschen" oder "Entfaltung des Ueber-Ichs" oder wie auch
immer formuliert gefallen.

Zu dieser Entfaltung ist eventuell das Schuften "im Schweisse deines
Angesichts" notwendig.  Auch wenn ich der christlichen Religion entfremdet
bin, sehe ich darin immer noch eine bewaehrte Anthropologie, der ich mehr
traue als jeder Selbstentfaltungslehre.  Auch diese Einsicht kommt vom
Vergleich Europas mit nichtchristlichen Zivilisationen.  Unser Schicksal
war nicht schlecht.
 
Wenn die uns sehen und das gut finden, dann können sie ja auf den
Geschmack kommen. Und ich denke, das lebendige Beispiel ist allemal
wirksamer als jeder Versuch die Selbstentfaltung quasi von außen zu
reaktivieren.

Wo die Autonomie fehlt, stellt sich die Heteronomie ein, wusste Hegel.
Wir sollten nicht ein System aufzustellen versuchen, welches diese
Gesetzmaessigkeit irgendwie zu durchbrechen versucht.
 
Zweifellos. Das bedeutet eben eine ausreichende materielle Basis, denn
Selbstentfaltung *kann* nicht im (täglichen) Überlebenskampf
stattfinden. Das ist überhaupt vielleicht ein wichtiger Gedanke...

Die Entfaltung der besseren, kreativen, Ueber-Ich-Natur des Menschen kann
sich gegen alle Hindernisse durchsetzen.  Ueber den taeglichen
Ueberlebenskampf sollte man nicht jammern.  Wer da jammert, hat
moeglicherweise kein Selbst, dessen Entfaltung lohnen wuerde.
 
So sehr ich mich für Astronomie und Raumfahrt begeistere - für eine
nachkapitalistische Gesellschaft muß gelten, daß die Menschen selber
entscheiden, ob und wann sie wieviel ihrer Ressourcen und
Arbeitsleistungen für ein Raumfahrtprogramm investieren wollen. Es
sollte da kein Experten das Recht haben, ihnen vorzuschreiben, daß
"jetzt" die Zeit dafür sei und daß "die Technik" das erfordere...

Fuer Raumfahrtprogramme gilt die Allmendentragoedie.
Das fuehrt bereits eine solche "Selbstenfaltungsgesellschaft" ad absurdum.
Eine solche Gesellschaft wuerde alle Individuen ihrer Freiheit berauben,
einen gemeinsamen Willen zu bilden.
Die Bildung eines solchen gemeinsamen Willens erfordert naemlich
ein gewisses Mass an Zwangsmitteln.
 
Da bin ich anderer Meinung. Auf dem erreichten Stand der
Produktivkraftentwicklung *ist* die Selbstentfaltung ganz
offensichtlich der effektivste Weg zu weiterer Entwicklung. Das wird
sich in den kommenden Jahren sicher noch deutlicher kristallisieren.

Du uebertraegst die Hackergesellschaft auf die Gesamtheit.
Viele Leute wuerden dann vielleicht wirklich zu Kulturschoepfern.
Aber viele auch nicht.
Es ist nicht besonders produktiv, wenn viele Leute sich von der Glotze
hypnotisieren lassen oder sich Machtspielchen ausdenken, um ihre aus
Langweile geborenen Aggressionen abzureagieren und ihre
Jaegergruppen-Instinkte auszuleben, fuer denen ihnen der Kapitalismus
produktive Ventile bot.
Diese Leute waeren in einem kapitalistischen System produktiver.
Weshalb ein solches sich dann wohl schon durchsetzen duerfte, wenn die
Alternative nicht ein wenig menschengerechter konzipiert wird.
 
-phm


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http://www.oekonux.de/



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