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Re: [ox] Proprietarismus und Sozialismus



On Sat, Oct 14, 2000 at 09:21:11PM [PHONE NUMBER REMOVED], PILCH Hartmut wrote:
Hallo Stefan,
Wenn allerdings die technischen und gesellschaftlichen Möglichkeiten
gegeben sind, jedem Menschen qua Existenz ein auch materielles
Existenzrecht einzuräumen - warum sollte das dann nicht geschehen?
Zumindest grundsätzlich.

Zunaechst aus dem Grund, den Paulus und Margaret Thatcher in dem einfachen
Spruch formulieren:  "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen".

Die Moeglichkeiten sind nur deshalb gegeben, weil andere Leute arbeiten.
Den Zwang zur Arbeit zu meistern, gibt auch Selbstwertgefuehl.  Das
inhumanste, was man m.E. einem Strafgefangenen antun kann, ist von ihm
*nicht* zu verlangen, dass er arbeitet.

Meinst Du das wirklich ernst? Ich glaube, hier laufen doch einige
Begriffe durcheinander. Inhuman einem Strafgefangenen gegenüber wäre
sicherlich, ihm jede Tätigkeit, die für ihn sinnvoll ist, zu verbieten.
Inhuman wäre es, einen Strafgefangenen in Isolationshaft, ohne Zugang zu
körperlicher und geistiger, ohne soziale Kontakte zu halten. Aber mir
scheint, dass das nicht das ist, was Du meinst.

Eher interpretiere ich Deine Aussage so, dass es inhuman wäre, einem
Strafgefangenen nicht die "Möglichkeit" zu geben, sich für die
Gesellschaft "nützlich" zu machen, und sei es auch mit noch so
stumpfsinnigen und sinnlosen Tätigkeiten.

Selbstwertgefühl entsteht doch wohl nicht daraus, sich mit
offensichtlich sinnlosen Strukturen halbwegs erfolgreich auseinander zu
setzen und diesen eine noch so kleine persönliche Befriedigung
abzutrotzen. Mein Selbstwertgefühl wird jedenfalls nicht dadurch
gestärkt, dass ich mich als funktionierenes Rätchen der Maschine
betrachten kann. Dabei ekle ich mich eher vor mir selbst.

Was die gesellschaftliche Notwendigkeit zur Arbeit angeht, fehlt mir bei
Dir die klare Unterscheidung zwischen zur Reproduktion der eigenen
Existenz notwendiger Tätigkeit und fremdbestimmter, dem Selbstzweck des
Fetisch geschuldeter Arbeit. Das zweite kann in einer Freien
Gesellschaft nie als irgendeine Begründung für einen wie auch immer
gearteten Zwang dienen.

Eine Gesellschaft ohne Zwang ist eine unfreie Gesellschaft.  Das ist eines
von vielen Paradoxen.  Die Abschaffung jeglichen Zwanges bedeutet
naemlich, dass man den Menschen sehr viele vielleicht sehr hilfreiche
Organisationsoptionen wegnimmt.

Welche Optionen mögen das wohl sein? Die Option, sich selbst im Namen
der Standortsicherung auszubeuten; die Option, einzelnen oder Gruppen
Macht über ander zu geben und sie diese ausnutzen lassen? Welche auf
Zwang basierende Option ist denn Deiner Meinung nach geeignet, eine
Freie Gesellschaft sinnvoll zu organisieren?

Mit der Frage "Wer entscheidet das?" habe ich daher wenig Probleme.
Man kann schon eine legitime Form der Entscheidung aufbauen, wenn man
will.
Viel mehr Probleme habe ich mit dem Prinzipienreiten, hinter dem sich der
Unwillen zur Loesung von gesellschaftlichen Problemen verbirgt.

Wer ist denn jetzt damit wieder gemeint? Wir oder "Sie"?

Ich würde dem das Prinzip der Verantwortung entgegenstellen. Das geht
in eine ähnliche Richtung, vertraut aber dem Individuum. Verantwortung
ist dabei ein Phänomen, das erst dann auftritt wenn du den Menschen
auch den Raum dafür läßt - ein Grund, warum Verantwortung heute keine
verbreitete Tugend ist.

Das Prinzip "Existenzmoeglichkeit gegen Leistung" laesst genug Raum fuer
den Einzelnen, sich freizuschwimmen und Verantwortung zu uebernehmen.
Gerade bei der Meisterung der unausweichlichen Grundherausforderung lernt
man einige der dazu notwendigen Tugenden.

"Leistung", "sich freischwimmen": bei solchen Begriffen wird mir richtig
übel. Warum zu Teufel muss überhautp der Umstand eintreten, dass sich
der Mensch aus einer prekären Lage "freischwimmen" muss? Und bitte
welche "Tugenden" soll er dabei erlernen? Selbsterniedrigung,
Arschkricherei,...?

Dein Konzept zerstört Verantwortung weil die Richtschnur für das
Handeln von außen kommt und nicht von innen.

Es kommt nur dann von aussen, wenn innnen nichts vorhanden ist.
Derjenige, der der Freiheit noch nicht gewachsen ist, wird an die Hand
genommen.

Du meinst wohl eher: er kriegt eine in die Fresse.

Das ist humaner als die leistungsdruckfreie Gesellschaft. 

Genau :-/

Aber ich weiss auch, dass ich bei einer Lobby-Sitzung in Bruessel (wie
diese Woche) die hier angedachte Mentalitaet absolut nicht gebrauchen
kann.  Das zerstoert jegliche Glaubwuerdigkeit, und das Ergebnis ist die
sofortige Einfuehrung von Softwarepatenten.

Das kann ja wohl kein Grund sein, diese "Mentalität" nicht anzudenken.
Sich selbst das Denken in Alternativen zu verbieten, nur weil andere
sich diesen nicht öffnen können, kommt der Selbstzenzur schon erheblich
nahe.

Das spricht nicht unbedingt dagegen. Politiker wie Hitler, Lenin, Mao u.a.
haben m.E. sehr viel Legitimitaet (in allgemeiner Anerkennung durch das
Volksempfinden ebenso wie spaeterer Nostalgie)  daraus bezogen, dass sie
eben diese grundsaetzlich humanen Arbeitsdienste einrichteten, vor denen
die souveraenschmeichelnden demokratischen Politiker
zurueckschreckten.

Und wieder muss ich fragen: Meinst Du das ernst? Es gibt für Dich
wirklich ein Konzept des "humanen" Arbeitsdienstes? *kopfschüttel*

Übrigens habe ich nicht den Eindruck, dass aktuell die Politiker in der
von Dir beschriebenen Weise dem Souverän schmeicheln. Ganz im Gegenteil:
Dein Prinzip trifft dort auf offene Ohren und umsetzungsbereite Hände.
Aber zum Glück müssen wir ja nicht in humaner Art an die Hand genommen
werden. :-/

Im kaiserlichen China schuf sich die Dynastie eine Schar von Zensoren (im
roemischen Sinne des Wortes:  Skandalaufdecker, Souveraenkritiker)  deren
Aufgabe es war, den Souveraen und seine Staatsdiener innerhalb einer
kleinen Hof-Oeffentlichkeit zu kritisieren.  Scharfe Kritik am Souveraen
wurde als Treue zum System gewertet.  Wenn diese Funktion verfiel, nahm
man das als ein Indiz fuer den Verfall der Dynastie.  In aehnlicher Weise
urteilte Platon ueber den Verfall der Demokratie zur Ochlokratie. In
solchen Verfallszeiten verlangen die Politiker dem Souveraen immer weniger
ab, haetscheln ihn immer mehr, reden immer besessener ueber die Rechte von
leistungsschwachen Minderheiten usw (kann man alles im "Staat" nachlesen).  

Sag mal, ist das als Provokation gemeint und willst Du sehen, wie sich
die verkalkten Linken alle über Deine Postings aufregen, oder wie?
"Leistungsschwache Minderheiten" hat im Zusammenhang Deiner
Argumentation leider keinerlei emazipatorische oder soziale Bedeutung,
sondern bedeutet schlicht: Weg mit dem Pack!

Platons Beschreibung endet mit dem Satz:  "Wenn es soweit gekommen ist,
ist die Zeit fuer die Neuerrichtung der Alleinherschaft (Monarchie) reif."

Eben.

Daher sehe ich auch in der Verhaetschelung des Souveraens eine Untreue zum
System der Demokratie.  Die Weiterentwicklung der Demokratie wuerde
eigentlich eher erfordern, dass man Institutionen wie das chinesische
Zensorat einrichtet, so z.B. eine Pflicht zur politischen Bildung und
staerkere Entscheidungsrechte im Gegenzug zu entsprechender Qualifikation.

Also Wahlrecht erst nach Ableistung von Pflichtqualifikationen, Entzug
desselben bei erwiesener Unmüdigkeit, oder was? :-/

Etwa im Sinne der Meritokratie, wie wohl auch beim W3C und in
Hackergesellschaften ueblich.

Nur das es in der W3C oder der Hackergesellschaft nicht um die Existenz
des Einzelnen sondern um vergleichsweise unwichtige Dinge geht. In einem
solchen Zusammenhang kann man es erlauben, auf die Meinung vieler zu
verzichten. Bei der Organisation der Gesellschaft jedoch bedeutet das
Unfreiheit und das Ausüben von Macht.

Gruß
Lutz

-- 
Gruppe Krisis http://www.krisis.org/
Open Theory   http://www.opentheory.org/

----------------------
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