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RE: [ox] Regierungserklaerung



Stefan Meretz wrote (Müller-Maguhn Regierungserklärung zitierend):

Ich kann mich einiger kritischer Kommentare zu soviel naiv-liberalistischer
Begeisterung nicht enthalten, auch wenn natuerlich nach Lage der Dinge
Müller-Maguhn die beste der zur Verfügung stehenden Alternativen war.

Regierungen noch nie leiden. Überhaupt gar nicht. Nur der Obacht meiner
Mutter können Sie es verdanken, daß ich, etwa im Alter von 11, nicht der
RAF beigetreten bin. Zugegeben, ich war noch ein wenig jung.

Naja, diese Sympathie fuer den kleinbuergerlichen Anarchismus ist ja
inzwischen schon bis in die Regierungsspitze vorgedrungen; ob daraus eine
linke oder gar sozialistische Politik entsteht darf bezweifelt werden. Wobei
sich Müller-Maguhn sicher nicht als Sozialist sieht.

Wenn er mal eben das Kuerzel RAF in Rote Armee Fraktion aufloest, koennte
ihm auffallen, dass zumindest dem Anspruch nach diese Truppe sich weniger in
der Tradition kiffender Blumenkinder, sondern in der der schaerfsten Waffe
der realexistierend-revolutionaeren Arbeiterklasse sah ;-) Und die war
sicher alles nur nicht unorganisiert und regierungsfern.

ist vorbei. Heute bildet das Netz einen Kommunikationsraum. Das nennt man
das Netzmodell. Und jeder, der sich da anschließt, kann diesen Raum
betreten. Kann sich umgucken, kann sich etwas rausnehmen, kann etwas
hineingeben. Das nennen wir im Internet Geschenkkultur. Ein kleines
elektronisches Paradies. Wer hat da gerade Sozialromantik gesagt?

Die Euphorie fuer dieses universelle Senden und Empfangen in allen Ehren,
aber warum linken dann laut der Rueckwaertsrecherche von Altavista im Netz
ca. 22.000 www-Seiten auf spiegel.de ca. 4 Mio. auf Micosoft und auf linke
Netzplattformen [Labournet, Infolinks usw.] wenn es hochkommt gerade mal
1.000?

Koennte es sein, dass auch in einem freien Netz die Aufmerksamkeit und die
Verbreitung mit ganz schnoeden materiellen Ressorcen -die man fuer Anzeigen
oder Fernsehspots ausgibt- verbessert werden kann? Und BTW selbst wenn
Millionen Menschen jeden Tag die Texte auf meiner Site lesen wollten, wuerde
mich mein Provider rauskicken, wenn ich ihm nicht das Transfervolumen
bezahle. Mehr zu solchen und anderen Fragen bei Rainer Rilling:

Auf dem Weg zur Cyberdemokratie?
http://www.bdwi.org/bibliothek/cyberdemokratie.html

die Menschen aber nicht alle festzementiert sein wollten, haben sie sich
einen neuen Freiraum geschaffen. Mit ohne Staaten, mit ohne Juristen,
einfach nur freier Informationsfluss, ein paar grobe Benimmregeln und
ansonsten macht einfach jeder, was er will. Rough Consensus and running
code.

Die grosse unstrukturierte Freiheit des Internet wuerde ich sagen ist im
Wesentlichen ein Mythos, wenn auch ein sehr schoener. Und den 'Freiraum' hat
nicht die Abwesenheit von Juristen geschaffen, sondern das amerikanische
Militaer -nicht mit Luft und Liebe sondern mit Staatsknete- und das
europaeische Kernforschungszentrum (hier dto.).

Gedankenfreiheit ein bisschen zugesetzt. Da kam dann die Sache
mit dem Geld
ins Spiel, und wenn schon grenzenlos, dann natürlich unendlich viel Geld.

Da ich nun allerdings nicht die religiösen Gefühle von irgendwelchen
Menschen verletzen möchte, schon gar nicht in einer Regierungserklärung,
sage ich jetzt mal nichts zu "eCommerce" oder "eBusiness". Glauben Sie
doch, an wen oder was sie wollen. Der Glaube soll ja Berge versetzen.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kollege ernsthaft so naiv ist nicht
zu wissen oder zu ignorieren, wer die Backbones des Netzes betreibt und dass
der (resp. diejenigen) das nicht fuer Gotteslohn tun. Und wenn sie es nicht
direkt des schnoeden Mammons wegen machen, sie zumeist von staatlichen
Subventionen abhaengen.

Ich beobachte schon laenger die Tendenz 'das Netz' als ein mystisches nicht
weiter zu hinterfragendes Ganzes zu idealisieren und als selbstverstaendlich
zu nehmen, statt es als einen (wenn auchs ehr großen) Zusammenschluß
mehrerer kommerzieller und oeffentlicher Firmen-Leitungen zu sehen. So wird
das nix mit einer politischen Ökonomie des Internets.

Naja, mal abwarten, wenn in sagen wir 5-7 Jahren T-Online AOL kauft (oder
umgekehrt) und dann fuer 70% der UserInnen in der BRD einen obligatorischen
Cybernanny-Filter im Zuge 'freiwilliger Selbstkontrolle' und ein BTX-like
Micropaymemtsystem installiert, bin ich gespannt, ob sich noch jemand
wundert.

Und die jetzt, wo das mit dem Internet gerade weltweit so richtig anfängt
zu flutschen, auf einmal geistiges Eigentum deklarieren wollen. Und laut
aufschreien, wenn sie sich überlegen, daß da geklaut wird, den ganzen Tag
in jedem Computer dieses Planeten. Und da natürlich Diebstahlsperren
einbauen wollen, Filter, Polizisten und Gefängnisse.

Die buergerlich-kapitalistische Gesellschaft beruht nunmal wesentlich auf
dem Eigentum, es waere schon aeusserst seltsam, wenn dies in ihrer
spannendsten technischen Innovation der letzten 10 Jahre keine Rolle mehr
spielen wuerde. Mal sehen, ob man nicht doch noch Micropaymentsysteme soweit
entwickeln und durchsetzen kann, dass auch die blosse Nutzung einzelner
Sites abgerechnet werden kann. Das Vorhandensein technischer Moeglichkeiten
sagt noch nicht per se etwas ueber deren gesellschaftlichen Einsatz.

Es ist eben ein Unterschied, ob man wie Gerhard Schoeder M$ an alle Schulen
bringen will, oder wie die chinesische oder die mexikanische (Achtung!)
Regierung auf Linux-Varianten setzt. Stamokap ick hoer Dir trapsen.

Also, nominell bin ich jetzt in der Regierung, und de jure dann irgendwann
im November. Und dann will ich immer noch den öffentlichen Raum frei von
kommerziellen Spielregeln halten, den freien Informationsfluss hüten und
den Bits Ihre Freiräume geben. Wir wollen lauter Datengärten, wo sie
spriessen, gedeihen und sich vermehren können. Soviel also zu den
kulturpolitischen Aspekten der bevorstehenden Regierungstätigkeit.

DAS klingt allerdings nach heavy-esoterik, wo doch ca. 80-90% des Internets
privatwirtschaftlich-kapitalistisch organisiert sind. Das ist doch genau die
zentrale Lehre, die man sogar bei Adam Smith lesen kann, dass die totale
Freigabe von Markt zur Bildung der boesen Monopole fuehrt, die man angeblich
nicht will.

Ich faende es richtig eine politische Forderung aufzustellen, auszuarbeiten
und zu artikulieren, die etwa in der BRD die Telekom reverstaatlicht und mit
der ARD zu einer oeffentlich-rechtlichen Medien- und Internetorganisation
zusammenlegt wird. So richtig schoen mit demokratischer Kontrolle,
langfristiger Planung, Bildungsauftrag usw.

Leider spricht die historische Erfahrung dafuer, dass die Abwesenheit von
Strukturen, Organisationen und Parteien vorbehmlich der Arbeiterbewegung
nicht zu mehr Freiheiten und Wohlstand fuehrt, sondern zum Gegenteil. Auch
das Wohlfeile liberalistische Geplaerr gegen zentrale Strukturen koennte in
der Form auch vom Westerwelle stammen.

Ich sage im Gegenteil: bei zentralen Strukturen kommt es darauf an, was man
damit macht. Ohne einen Hauch von Gosplan wird es keine Daemme gegen die
kapitalistische Nutzung des Internets geben, allem kommunitaristischen
Eskapismus zum Trotz.

beherrschen. Gucken Sie sich nur mal das geographische Verständniss von
ICANN an; das spricht Bände.

So wie auch der Rest des 'Netzes' in der globalen Perspektive eher zu einer
Verschaerfung der Gegensaetze fuehrt und nicht zu einer Verbreitung von
Chancen (vgl. auch hierzu Rilling). Das "neue athenische Zeitalter der
Demokratie" (Gore?) mit Hilfe des Internet stuetzt sich -zumindest bislang-
wie sein historisches Vorbild auf die Ausbeutung von Millionen von
Heloten/Sklaven die in ihrem Leben noch kein Telefon in der Hand gehabt
haben. Und wenn diese mal aufmuckern gibt's was mit der
hochkomplex-vernetzten Cruise Missile.

Also, auch den Krawattis ihre eigenen Räume. Da können Sie dann
Markenrecht
spielen (global nicht einheitlich, aber egal), sich gegenseitig aufgrund
unterschiedlichen Verständnisses von Meinungsfreiheitsrechten verklagen
oder sich einfach in Wohlgefallen auflösen.

Evt. sollte der Kollege sich mal mit der allgemeinen Tendenz im Kapitalismus
befassen alle Bereiche des Lebens (Wasser, Strom, Wohnen, Information)
warenfoermig zu organisieren und entspr. Verwertung zugaenglich zu machen.
Um mich zu wiederholen: es wird eher so sein, dass die lustige anarchische
Freiheit einen Raum bekommt (ein Reservat whatever) und die 'Krawattis' das
Spiel machen werden, solange einem zu denen nicht mehr einfaellt als das
Anti-Schlips-Ressentiment vom letzten casual friday.

Also, ich erkläre Ihnen jetzt die Regierung und das heißt, ich erkläre
Ihnen, dass sie in Zukunft bitteschön sich selbst regieren.
Machen Sie doch
einfach, was Sie wollen. Mach ich doch auch.

Ich habe in dieser lustig geschriebenen Erklaerung nichts gelesen, was mir
auch nur irgendeine politische Perspektive bieten koennte. Die Aufforderung
alles selbst zu machen vertreten die selbsternannten Modernisierer auch, wie
die Apologeten eines neuen Cyberkommunitarismus, die materielle
Ueberfluss-Produktion als gegeben voraussetzen (weil sie nix anderes kennen)
und die Ausbeutung (vornehmlich der 3. Welt) tendenziell ausblenden.

Ich muss gestehen, dass ich Müller-Maguhn nicht fuer derart schwach gehalten
haette.

Markus


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