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Re: [ox] Wesen et al



Bezüglich des Diskurses zum Wesen des Menschen schicke ich
euch hier einen Text von Erich Fromm, vielleicht bringt dieser ein
wenig Licht ins Dunkel.


Der Einfluß gesellschaftlicher Faktoren auf die
Entwicklung des Kindes

von Erich Fromm (1958c-d)

Das Ziel der Erziehung von Kindern ist nicht nur, ihnen
mehr oder weniger intellektuelles Wissen zu vermitteln
oder Werte wie Ehre, Mut, etc. beizubringen. Die
Funktionen jedes Individuums innerhalb der Gesellschaft
gehen weit über das Erwähnte hinaus: Sie müssen es lernen,
entsprechend den Normen zu arbeiten und zu konsumieren,
die die Produktionsmittel und Konsummuster der Gruppe und
Gesellschaft erfordern, in der sie leben.

Nehmen wir als Beispiel eine primitive Gesellschaft, einen
Stamm, der auf einer kleinen Insel in der Mitte des Ozeans
lebt und der sein Überleben nur durch Fischen sichert.
Nehmen wir des weiteren an, daß die Fischart in diesen
Gewässern die Zusammenarbeit der Fischer erforderlich
macht. Es liegt auf der Hand, daß die Bewohner solch einer
Insel den Wunsch nach Kooperation entwickeln und zu einer
friedlichen Koexistenz genötigt sind. Dasselbe gilt für
bestimmte Arten von ausschließlich agrarischen
Gesellschaften. Im Gegensatz dazu werden die
erforderlichen Charakterzüge eines Jäger- und
Kriegerstammes, dessen Leben von der Jagd oder der
Eroberung anderer Stämme abhängt, eher Aggressivität,
Kampfbereitschaft und Stolz auf persönliche Tapferkeit
sein.

Noch einmal anders lagen die Dinge in einer feudalen
Gesellschaft: Die Mitglieder der oberen Klasse mußten die
Fähigkeit zur Führerschaft und, wir könnten hinzufügen,
das Bedürfnis zur Ausbeutung anderer entwickeln; der
Einzelne hatte sich ein Gefühl von Stolz anzueignen, das
an Arroganz grenzt, und er mußte es lernen, an der
Überfülle von Zeit und ihrer Verschwendung Befriedigung zu
finden. Zugleich hatten die Mitglieder der unteren Klassen
die Qualitäten des Gehorsams und der Geduld zu erlernen,
die zum Ertragen des Elends nötig sind.

Die wichtigsten Charakterzüge und zugleich auch die
wichtigsten Werte des Bürgertums im 19. Jahrhundert waren
das Verlangen zu akkumulieren und sparsam hauszuhalten,
das Verlangen andere, insbesondere Arbeiter und Völker
anderer Rassen, auszubeuten und ein starkes
individualistisches Gefühl, das treffend in dem Satz
ausgedrückt ist: "Mein Haus ist meine Burg."

Diese Charakterzüge sind im 20. Jahrhundert rasch
verschwunden und werden in einer Gesellschaft, die darauf
baut, daß immer mehr konsumiert wird, nicht länger als
Werte betrachtet. Das Individuum muß sich dann im
gesteigerten Maße befriedigt fühlen, wenn es noch mehr
konsumiert, nicht aber wenn es spart. Schließlich ist in
einer Gesellschaft, die auf der Kooperation Tausender von
Arbeitern und Angestellten in den Unternehmen basiert,
Teamarbeit verlangt, nicht aber eigennütziger
Individualismus.

Dennoch gibt es bestimmte gemeinsame Züge der Menschen des
19. und 20. Jahrhunderts, etwa die Notwendigkeit,
pünktlich, ordentlich und zuverlässig eine Arbeit zu
verrichten - Notwendigkeiten, die mit der modernen
industriellen Produktion verbunden sind und die in einem
vergleichbaren Maße in der feudalen Gesellschaft vor etwa
300 Jahren kaum existierten.

Um gut zu funktionieren, braucht jede Gesellschaft zu
ihrem Bestand Menschen, die fast automatisch in der Weise
handeln, wie es diese bestimmte Gesellschaft erfordert.
Mit anderen Worten: Sie müssen das tun wollen, was sie tun
sollen. Wenn jeder von ihnen sich täglich neu zu
entscheiden hätte, ob er pünktlich sein will oder nicht,
und ob er ordentlich sein will oder nicht usw., dann würde
er sich wahrscheinlich ebenso häufig gegen die
gesellschaftlichen Erfordernisse entscheiden wie dafür,
selbst wenn er dadurch das gute Funktionieren der
Gesellschaft gefährdet. Das Individuum muß gleichsam
automatisch in Übereinstimmung mit den Normen seiner
Gesellschaft handeln. Das bedeutet, daß der
gesellschaftliche Verhaltenszug zum Charakterzug werden
muß.

In jeder Gesellschaft gibt es eine Reihe von
Charakterzügen, die der Mehrheit ihrer Mitglieder
gemeinsam ist: den "Gesellschafts-Charakter". Er hat die
Funktion, das Überleben der Gesellschaft zu sichern. Vom
Standpunkt des Individuums aus hat er die Aufgabe, dem
einzelnen eine erfolgreiche Wirksamkeit innerhalb der
Gesellschaft zu gewährleisten. Obwohl der
Gesellschafts-Charakter durch viele Faktoren bestimmt
werden kann, sind werden seine Wurzeln im Kind doch durch
die Eltern grundgelegt. Da der elterliche Charakter mit
dem "Gesellschafts-Charakter" übereinstimmt, formen sie
dementsprechend auch den Charakter ihres Kindes. Auf diese
Weise wird die Familie zum psychologischen Agenten der
Gesellschaft.

Solange sich keine grundlegenden Veränderungen in der
Gesellschaftsstruktur ergeben, funktioniert dieser Vorgang
reibungslos. Treten allerdings Veränderungen ein, wie dies
heute überall auf der Welt geschieht, dann treten
Widersprüche zwischen dem traditionellen
Gesellschafts-Charakter und den neuen gesellschaftlichen
Erfordernissen auf, für die das Individuum zunächst
schlecht ausgerüstet ist. Eltern fühlen sich dann oft
machtlos, sie verlieren jegliche Autorität und verstehen
ihre Kinder nicht. Dabei appellieren sie noch oft an das
Einvernehmen der Kinder und zeigen darin einen
bestürzenden und zunehmend gefährlichen Mangel an
Verantwortung. Diese neue Generation hat nämlich kein
Verständnis mehr für den Sinn des Lebens; sie fragt sich
nicht mehr, wohin sie gehen oder was sie anstreben soll.
In Schule und Kirche werden zwar noch die alten Werte der
Demut und Rechtschaffenheit gelehrt, doch sind sie
zugleich in eine Gesellschaft eingebunden, die sich am
Wunsch nach mehr Geld und Konsum ausrichtet - was meist
ein noch größeres Maß an Verschwendung bedeutet. Diese
Generation erlebt ihre Erziehung, die die neuen
Entwicklungen verpaßt hat, als überholt. Ihre Eltern
fühlen sich machtlos, da sie ebenfalls desorientiert sind.

Bislang habe ich nur den einen Aspekt der Situation
beschrieben: wie es zu einer Gesellschaft kommt, die
angepaßte menschliche Wesen zur Befriedigung ihrer eigenen
Bedürfnisse braucht. Doch die Menschen sind keine
unbeschriebenen Blätter, auf die die Gesellschaft nur
ihren Text zu schreiben bräuchte. Sie haben vielmehr ihre
eigenen Grundbedürfnisse, die sie mit allen Individuen der
menschlichen Rasse teilen. Sie haben das Bedürfnis, auf
andere bezogen zu sein. Sie haben das Bedürfnis, sich in
einer Welt verwurzelt zu fühlen, die sie als die ihre
betrachten können. Sie haben das Bedürfnis, ihr Gefühl des
Geschaffenseins entweder durch schöpferische Produktivität
oder durch Zerstörung zu transzendieren. Sie haben das
Bedürfnis nach einem Identitätserleben, das es ihnen
erlaubt, "Ich" zu sagen. Und sie bedürfen eines
Orientierungsrahmens, der ihrer Lebenswelt einen Sinn
gibt. Wäre ein Mensch völlig unbezogen oder destruktiv,
wäre er verrückt.

Aus gesellschaftliche Gründen muß der einzelne den Zielen
seines Gesellschafts-Charakters entsprechen. Auf Grund
seines Menschseins, seines Wohl-Seins und seiner
Selbstverwirklichung aber muß er sich eine Gesellschaft
schaffen, die die Zwecke der menschlichen Rasse erfüllt.
Eine Gesellschaft ist nämlich nur dann eine gesunde
Gesellschaft, wenn sie einen Gesellschafts-Charakter
anstrebt, der sich dem universalen Menschheits-Charakter
annähert. Je mehr Diskrepanzen aber zwischen den
gesellschaftlichen und den humanen Bedürfnissen bestehen,
desto schlechter ist die Gesellschaft. In diesem Fall hat
der einzelne nur noch die Wahl zwischen einem schweren
Nervenzusammenbruch oder der Veränderung seiner
Gesellschaft, damit diese die Bedürfnisse des universalen
Menschen besser erfüllt.

Es ist sehr wichtig, daß sich die heutigen Eltern nicht so
ohne weiteres von dem gesellschaftlichen Verlangen nach
größerem Erfolg, mehr Geld oder Luxus beeindrucken lassen.
Sie sollten sich sehr genau überlegen, was ihre eigenen
Werte und Ideale sind und sich nicht so leicht dazu
verleiten lassen, die Orientierungen ihrer Kinder zu
übernehmen, für die es keine allgemein gültigen
menschlichen Werte mehr gibt.

Seelische Krankheit ist immer ein Anzeichen dafür, daß
grundlegende menschliche Bedürfnisse nicht
zufriedengestellt werden und daß es an Liebe, vernünftigem
Sein und Gerechtigkeit mangelt. Seelische Krankheit zeigt,
daß etwas Wichtiges fehlt und sich deshalb pathologische
Tendenzen entwickeln. Wenn Eltern ihren Kindern wirklich
wünschen, daß sie nicht nur erfolgreich, sondern auch
seelisch gesund sind, dann müssen sie solche Normen und
Werte als wesentlich erachten, die zu seelischer
Gesundheit und nicht nur zum Erfolg führen.



Anmerkung:

1) Dieser Vortrag aus dem Jahr 1958 wurde von Erich Fromm
in spanischer Sprache gehalten und unter dem Titel "Los
factores sociales y su influencia en el desarrollo del
niño" in der Zeitschrift La Prensa Médica Mexicana
(Jahrgang 23, 1958, S. 227f.) veröffentlicht. Jorge Silva
García, Tlalpan / Mexico hat ihn ins Englische übersetzt.
Von dort wurde er durch Karl von Zimmermann ins Deutsche
gebracht. - Erstveröffentlichung im Jahrbuch der
Internationalen Erich-Fromm-Gesellschaft, Vol. 3, Münster:
LIT-Verlag, 1992, S. pp. 167-169.


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Fromm, c/o Dr. Rainer Funk, Ursrainer Ring 24, D-72076
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Quelle:
http://www.erichfromm.de/lib_1/1958c-d.html



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