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[ox] Die Anwendbarkeit der Wertkritik in der Informationsgesellschaft




Lieber Stefan Meretz,

ich will doch mal versuchen, ein paar zusammenhängendere Gedanken
aufzuschreiben, um den wiederholten Missverständnissen (wie in Deiner
mail vom 04 Dec) zukünftig vorzubeugen.

1. Ich habe hier noch nicht viel dazu geschrieben, aber ich halte, wie
wohl die meisten auf der Liste, den Selbstentfaltungsansatz für eine
sehr wichtige Komponente eines zu entwickelnden Gesellschaftskonzepts.
Gründe für eine solche Forderung gibt es viele, "Spaß haben" (also
eine psycho-sozial positiv belegte individuelle Motivationskomponente)
ist nur einer davon. Ich sehe noch wenigstens drei weitere
Begründungskomplexe, die ich hier nur andeuten will:
   
a) Sozialisierung von Wissen (allgemein geistigen Gütern?) läuft so,
dass sich der (aktiv verfügbare) Wissenspool der Menschheit in
individuellen Kompetenzen manifestiert. Wenn Kompetenzen in Zukunft
eine deutlich größere Rolle spielen als Waren (darüber herrscht hier
aber keine Einigkeit), dann muss auch deutlich mehr Gelegenheit sein,
individuelle Kompetenz einzubringen. (Erwerb und Reproduktion dieser
Kompetenz ist ein weiteres Thema, das in der Liste bisher weitgehend
ausgeblendet wird.)

b) Es gibt einen Trend zu Abschaffung von Fremdbestimmung (hier ist
allerdings genauer hinzuschauen, siehe unten), der an vielen Stellen
bei Marx eingefordert wird, weil die Zeit dafür schlicht reif ist
("alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein niederes,
geknechtetes, verächtlich gemachtes ... Wesen ist").  Diese Forderung
der Ablösung externer durch intrinsische Motivationsformen wird
allerdings, wie ich mich im Rahmen unserer Moderne-Diskussion habe
belehren lassen, bereits bei Kant, Hegel und eigentlich in der ganzen
Aufklärung erhoben.  Also kein rein marxistischer Diskurs und auch
Poppers "offene Gesellschaft" und selbst gewisse Ansätze bei Plato
(die Popper aufgreift) gehen in diese Richtung.  Kurz, _der_ zentrale
Punkt der (philosophischen) Moderne (und die PDS täte gut daran, diese
Wurzeln aufzugreifen, wenn sie mit dem Wort 'Moderne' rumfuchtelt.
Aber seit einiger Zeit fuchtelt sie ja nicht mehr. Schade). 

c) Es scheint eine generelle Regel zu sein, dass komplexe Systeme nach
einer Initialisierungs- und einer exponentiellen Wachstumsphase in
einen reiferen Zustand eintreten, in dem externe durch intrinsische
Motivationsformen abgelöst werden (R. Dawkings: The Selfish Gene als
exponierter Vertreter einer solchen These für die Biosphäre).
Vielleicht ist die Menschheit _gerade_ (was sind da schon 300..400
Jahre) dabei, diesen Übergang für ihre eigene Vergesellschaftung zu
vollziehen (Reich des Zwangs vs. Reich der Freiheit, geschlossene
vs. offene Gesellschaft usw.)

2. Gleichzeitig geht es darum, Wirkzusammenhänge gestaltbar zu machen,
die den kausalen Horizont solch intrinsischer Motivation weit
übersteigen.  Das ist einfach eine technologische Notwendigkeit, sonst
fliegt uns der ganze Laden früher oder später um die Ohren. Wobei
dieser zu beherrschende kausale Horizont in der bisherigen
Menschheitsgeschichte immer gewachsen ist und kein Grund besteht
anzunehmen, dass das heute und in Zukunft anders sein wird.  Ich warne
immer davor, den gestrigen technologisch motivierten Abstimmungsbedarf
mit der Elle morgiger technologischer Möglichkeiten zu messen, was ja,
nach den kybernetischen Euphorien der 60er Jahre, seit Weizenbaum auch
zum Thema "Informationsgesellschaft" nicht mehr state of the art ist.
Wenn auch weit verbreitet (habe gerade Arno Peters'
"Computersozialismus" mit viel Frust gelesen).  Selbstentfaltung muss
also ihre Ergänzung finden in neuen Formen kollektiven und
kooperativen Vorgehens.  Das war Kern meiner von Dir kritisierten
Bemerkung

   > .. freilich in verkehrter negativer Form innerhalb der
   > kapitalistischen Hülle des warenproduzierenden Weltsystems:
   > nämlich als verkehrter Kommunismus der Sachen, als globale
   > Vernetzung des Inhalts der menschlichen Reproduktion; gesteuert
   > jedoch durch die blinde und tautologische Selbstbewegungsstruktur
   > des Geldes, die keinerlei sinnlicher Bedürfnislogik folgen
   > kann... (R. Kurz: Der Kollaps der Modernisierung, S. 289)
   > 
   > Anders: Der kausale Horizont der Vergesellschaftungsmechanismen ist
   > schlichtweg zu eng für heutige technologische und gesellschaftliche
   > Erfordernisse.  Ich sehe allerdings auch im bisherigen Oekonux-Konzept
   > keine Ansätze, die diese Dimensionen deutlich werden lassen. "Spaß
   > haben" ist eine ebenso "blinde" Steuerkraft.

   Wie kommst Du darauf? Blind in bezug auf was? Robert Kurz macht das
   ganz klar: "... die blinde und tautologische Selbstbewegungsstruktur
   des Geldes, die keinerlei sinnlicher Bedürfnislogik folgen kann".
   Demgegenüber ist die Selbstentfaltung (was ich mal "Spaß haben"
   zuordne) genau das: Die Befolgung der "sinnlichen Bedürfnislogik".
   Eine Gesellschaft nach dieser sinnlichen Bedürfnislogik aufzubauen,
   also nach den Kriterien der _Menschen_ und nicht der _Sachen_ (Ware,
   Wert etc.), ist das Ziel - und wenn man sich die FS anguckt, sogar
   das Mittel.

Es geht nicht (nur) darum, die "blinde und tautologische
Selbstbewegungsstruktur des Geldes" abzuschaffen, sondern jede "blinde
und tautologische Selbstbewegungsstruktur", jedenfalls der Dimension,
die heute mit Geld erfasst wird. Ich gebe einerseits zu bedenken, dass
'Geld' eine wichtige kulturelle 'Erfindung' der Menschheit ist, um
gewisse Wirkzusammenhänge (im Wesentlichen das Aufwand-Nutzen-
Verhältnis der produktiven Arbeit) zu operationalisieren.
Andererseits erfordert der Stand der technologischen Entwicklung die
_bewußte Gestaltung_ kausaler Zusammenhänge dieser Dimension, wenn die
Menschheit nicht in einer ökologischen und sozialen Katastrophe enden
will. Und weit ist es bis dahin nicht mehr, wenn Du Dir Bilder eines
"verölten" Regenwalds in Nigeria anschaust oder ebensolche Bilder aus
Rußland. Das erstere ist Produkt der "blinden und tautologischen
Selbstbewegungsstruktur des Geldes" (Shell korrumpiert mit seinem Geld
eine ganze Region), das zweitere auch? Lies Bulgakow, ein glänzender
Chronist des Rußlands der 20er Jahre, also lange vor der vollen
Entfaltung des Stalinschen Regimes, wohin reine "Selbstentfaltung",
gepaart mit Einfalt, führt (meine Lieblingsstory: Die verhängnisvollen
Eier).  Deshalb bin ich (und andere auf dieser Liste, Ralf Krämer
hatte sogar ein Zitat vom Meister selbst - hier mal Meister = Marx -
gebracht) gegen die generelle Abschaffung von "Buchhaltung", die heute
durch Geld realisiert wird.  Über Formen kann (und muss) man reden,
das Prinzip stelle ich nicht zur Disposition. Das ist auch der Kern
meiner Frage nach einer ontologischen Dimension der Wertkategorie. Da
hat mich Franz (04 Dec) gründlich mißverstanden, denn ich will nicht
die kapitalistische _Form_ perpetuieren, sondern frage nach dem
rationalen Kern, dem kulturellen Gut oder Keim, der in diesem heute
durch und durch pervertierten Instrument steckt (kann es anders sein
in einer durch und durch perversen Gesellschaft?).  Ich gehe davon
aus, dass eine solche Operationalisierung die Voraussetzung für
bewußte Gestaltung und schließlich Internalisierung dieser Formen in
einem umfassenderen Wertmechanismus ist. So etwa stelle ich mir eine
"Domestizierung des Marktes" vor. 

Es geht also bei der Selbstentfaltung nicht nur um ein individuelles
Motivationsschema, sondern um ein gesellschaftliches Verhältnis. In
unseren Emanzipationszthesen ('Emanzipation' war vorgegeben, sonst
hätte ich genauso gut 'Selbstentfaltung' schreiben können) heißt es an
zentraler Stelle 

   4. In diesem Sinne verstandene Emanzipation bildet eine Einheit aus
   Freiräumen und Kompetenz, aus Vertrauen und Verantwortlichkeit.

   In diesem Begriff verbindet sich damit sowohl individuell als auch
   gesellschaftsbezogen Anspruch und Herausforderung. Die
   hauptsächliche individuelle Herausforderung besteht in der
   Aneignung und Entwicklung von Kompetenz, um Freiräume
   verantwortlich zu gestalten. Die hauptsächliche gesellschaftliche
   Herausforderung besteht in der Schaffung von Freiräumen, in denen
   kompetente Individuen Verantwortung übernehmen können, sowie von
   Bedingungen, unter denen sich Kompetenz eigenverantwortlich
   reproduzieren und weiter entwickeln lässt.

Du schreibst weiter

   Die "Blindheit" - oder besser positiv formuliert: die
   Entlastungsfunktion - die "sich-selbst-organisierende" Mechanismen
   haben, muss also erhalten bleiben. "Geld beruhigt ungemein" - der
   Spruch stimmt ja, aber nur dann, wenn du stets genug hast. Um zu
   dieser Beruhigung und Entlastung zu kommen, muss mich allerdings auf
   den Kopf stellen, gegen meine Bedürfnissen handeln und der Geldlogik
   folgen. Die Beruhigung und Entlastung bleibt in einer freien
   Gesellschaft - gerade weil es dort kein Wert, Geld und die ganze
   negative Logik mehr gibt und ich mich trotzdem wie vorher nicht um
   jeden Scheiss kümmern muss, weil gesamtgesellschaftlich die
   "sich-selbst-organisierenden" Menschen auch um meine Angelegenheiten
   mit kümmern. Wie bei der FS ;-)

Da widerspreche ich in der Tat (fast) nicht. Ich sage eben nur: "Das
ist nur die eine Seite der Medaille". Und zur anderen Seite (wo auch
ich mehr Fragen als Antworten habe) sehe ich auch nach Deiner mail im
bisherigen Oekonux-Konzept nur wenig Ansätze.  Vielleicht sollten wir
doch mal weiter über das Dreieck in "Gegenbilder 2-1" (1) nachdenken,
wie Anfang November begonnen.

- -- 
Mit freundlichen Grüßen, Hans-Gert Gräbe

_________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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