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Re: [ox] Literaturhinweis



UlrichLeicht t-online.de

Lydia Heller schrieb:

Hallo alle!

Kleiner Beitrag eines Listen-Passivlings der ersten Stunde:

Zu Marx, Produktivkraftentwicklung, Selbsorganisation, ökonomische
Theorie... habe ich zwei interessante Aufsätze gefunden und zwar:

Haustein, Heinz-Dieter: Karl Marx und evolutorische Ökonomik
und
Weise, Peter: Evolution und Selbstorganisation bei Karl Marx

beide in:
Warnke, Camilla; Huber, Gerhard (Hrsg.) (1998): Die ökonomische Theorie
von Marx ? was bleibt? Reflexionen nach dem Ende des europäischen
Kommunismus, Metropolis-Verlag, Marburg

Vor allem der zweite ist interessant ("obwohl" er mathematisch ist
("mathematische Katastrophentheorie" ???), aber das macht vielleicht
auch nur mir was aus...). Er begreift die Marxsche Theorie als
Evolutions- und Selbstorganisationstheorie, kritisiert deren Defizite
und kommt so zu dem Schluß, daß "die Geschichte aller bisherigen
Gesellschaft  die Geschichte des Kampfes um Eigentums- und
Verfügungsbeschränkungen" ist.

Gut.
Weitermachen.

Liebe Grüße, Lydia.



Da ich zur Zeit auch auf der Suche nach Texten in diese Richtung bin, habe ich 
vor kurzem eine Rezension zu diesem Buch gefunden. Der Autor Stefan Grigat,  
Mag. Phil. aus Wien, unter anderem bei Agnoli studiert und an der FU promoviert 
und derzeit wohl Stipendiat der RLS. Wie Franz Schandl, Gerhard Scheit und 
andere interessante Wiener Mitglied im dortigen "Kritischen Kreis", der die 
"Streifzüge" herausgibt. Letzte Veröffenrlichung Grigats war der Text "Die 
Kritik der Politik, das Elend der Politikwissenschaft und der Staatsfetisch in 
der marxistischen Theorie" in : Bruhn, Joachim u.a. (Hg.): Kritik der Politik. 
Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag. Caira Verlag Freiburg 2000.

Im übrigen ein Text, der mithilft, die "unmarxsche" Sicht des leninistischen 
"Primats der Politik", die, wie uns zuletzt in der Liste auch Christian Fuchs 
mit seinen letzten verhängnisvollen mails deutlich gemacht hat, nicht nur die 
Marxsche Gesellschaftskritik (dies ist nämlich die Kritik der  
p o l i t i s c h e n   Ö k o n o m i e  und keine Wirtschaftslehre oder 
-kritik) auseinanderreißt und auf einen politischen Voluntarismus, der schon 
immer alle Abteilungen der Arbeiterbewegung und auch heute der 
mainstream-linken auszeichnete, hinausläuft. Dieser kann bei allem guten 
Willen mensch nicht nur in der Geschichte sondern auch heute noch in seinen 
politischen Schlußfolgerungen das Fürchten lehren, weil er meist alles andere 
als eine wirkliche Emanzipation der Menschen und der Gesellschaft auf den Weg 
brachte und bringt, die (immer bürgerliche) Politik und Politikfixiertheit 
ebenso wenig wie Ware, Wert, Arbeit, Kapital aufheben will 
und kann, sondern schlicht unter dem Etikett des sozialen Fortschritts, des 
"Sozialismus" oder der "Arbeiterbefreiung" verlängert. Zu diesem "Primat der 
Politik", der meines Erachtens niemals mehr einen Weg der Befreiung, der 
gesellschaftlichen Emanzipation bahnen kann und dabei weit hinter solchen 
anderen Wegen, wirklichen Alternativen wie "Free software" zurückbleibt und 
bleiben muß, vielleicht ein ander mal mehr.

Stephan Grigat arbeitet auch an der interessanten website 
- http://contextxxi.mediaweb.at/ -
mit, wo mensch unter anderem auch die meisten Texte der "Streifzüge" findet: 
http://contextxxi.mediaweb.at/texte/FRTexte.html

Dort ist auch die folgende Rezension zu der Buchempfehlung von Lydia Heller zu 
finden, in der der kritische Wertkritiker Grigat neben grundsätzlicher Kritik  
ebenfalls Positives vermerkt.

Gruß aus Dortmund
Uli                                                                              
   
**************************** aus "Streifzüge" 4/99 ***************************

Marx und die Volkswirtschaft

Über die mißbräuchliche Nutzbarmachung der Kritik der politischen Ökonomie für 
die Wirtschaftswissenschaft

von Stephan Grigat

Wenn man ein Buch über Marx durchblättert und es in ihm von 
volkswirtschaftlichen Diagrammen und Tabellen nur so wimmelt, und wenn sich im 
Stichwortregister dieses Buches zwar Begriffe wie "Transfereinkommen", nicht 
aber "Verdinglichung", "Fetischismus" oder "Versachlichung" finden, dann weiß 
man ungefähr, was einen erwartet. Wenn dann noch in der Einleitung der 
Herausgeber zu lesen ist, daß es ihnen darum geht, zu fragen, was von "der 
Marxschen Weltsicht wissenschaftlich produktiv bleibt", wenn sich der
Marxismus "in der Konkurrenz der ökonomischen Ansätze der scientific community 
zu bewähren hat", wird deutlich, daß hier keine Fortsetzung des Marxschen 
Projektes, nämlich der Kritik alles Bestehenden, zu erwarten ist, sondern die 
akademische Depotenzierung von jener Gesellschaftskritik, die mit Marx ihren 
Anfang nahm.

Peter Ruben, Professor im Ruhestand, bringt die Philosophiegeschichte in 
Anschlag, um mit Hegel und Epikur die Unvernünftigkeit des Kommunismus zu 
beweisen und zu der zeitgeistigen Überzeugung zu gelangen: "Die Vorstellung vom 
Privateigentum als der Wurzel aller sozialen Übel, ist falsch." Er verwirft die 
Darstellung der Wertformen im ersten Band des Marxschen "Kapital" und
meint, eigene Wertformen anbieten zu müssen. Er fordert Definitionen, wo es 
Marx um das Begreifen der Sache im Durchgang ihrer Darstellung ging. Er 
"variiert" die Marxsche Ausdrucksweise, verwirft zentrale Aussagen der 
Werttheorie als "völlig inakzeptabel", nimmt "Umbenennungen" vor, läßt Marxsche 
Kategorien, wie die Wertsubstanz "beiseite", um sie durch andere zu ersetzen 
und gibt das Ganze dennoch als einen Versuch einer Rekonstruktion der Marxschen 
Theorie aus. Seine Ausführungen sind über weite Strecken aber nur eine 
Wiedergabe der durch Engels mitverursachten Fehlinterpretationen des 
"Kapitals". Beispielsweise geht es ihm, der traditionsmarxistischen 
Betrachtungsweise des Marxschen Hauptwerkes treu bleibend, darum, abermals zu 
beweisen, daß "das der Wertformlehre zugrunde liegende Interesse (...) klar 
historisch, nicht analytisch (ist)." Dieses Mißverständnis der
Wertformanalyse, bei der es sich gerade nicht um eine geschichtliche 
Untersuchung, sondern um eine sytematische Ableitung des Geldes aus seinen 
logischen Voraussetzungen handelt, korrespondiert mit Rubens Einschätzung, 
Marx' Kapitalismusbegriff sei wesentlich an Personen, an die Kapitalisten als 
Träger dieser Gesellschaft, gebunden gewesen. Da er nicht sieht, daß es Marx
gerade um das Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis gegangen ist, daß er 
Bewegungsgesetze analysiert hat, die sich hinter dem Rücken der Personen 
durchsetzen, kommt er zu dem ebenso banal richtigen wie auch zugleich völlig 
falschen Schluß, daß wir heute "mit einer Gesellschaftsordnung konfrontiert 
(sind), die dem Kapitalismus in der Marxschen Beschreibung nicht mehr 
entspricht". 

Hans G. Nutzinger schließt sich in fast allen Punkten Rubens Einschätzung an 
und dokumentiert, welche praktischen Konsequenzen aus einem derartigen 
Marx-Verständnis resultieren. Der Volkswirtschaftsprofessor und Mitherausgeber 
des Jahrbuchs "Ökonomie und Gesellschaft" fordert nicht die Aufhebung der 
Warenförmigkeit, sondern wirft die "ethische Frage noch dem Umfang der
Warenförmigkeit" auf. Er sorgt sich um die "Zukunftsfähigkeit real 
existierender marktwirtschaftlicher Ordnungen" und hält sein
idealistisch-moralisches Sozi-Programm einer "ethischen Begrenzung der 
Warenförmigkeit" für eine "immanente Voraussetzung einer bürgerlichen 
Gesellschaft". Das große Problem von Marx sieht er darin, daß er "die positiven 
Koordinationsleistungen des Marktes nicht wirklich in den Blick" bekommen habe. 
Nutzinger hingegen tut das und fährt deswegen voll auf Preise und Profit ab, 
weil die schließlich "wertvolle Informationen generieren und weitergeben und so 
Handlungsanreize schaffen". Im akademischen Bereich plädiert er für eine 
"marxistisch inspirierte Sozialwissenschaft", die allerdings mit der Marxschen 
Wertkritik nichts am Hut haben dürfe. Da fragt man sich dann, wozu er den 
Zusatz "marxistisch" überhaupt für notwendig erachtet.

Durchaus lesenswert ist hingegen der Beitrag von Heinz-Dieter Hausstein, der 
die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Marx und der evolutorischen 
Ökonomik, die sich seit einiger Zeit als eigenständige theoretische Richtung 
in der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaft etabliert hat, herausarbeitet 
und dabei auch die Dogmatisierungen des Marxismus-Leninismus ins Zentrum
der Kritik rückt. Auch der Aufsatz von Manfred Lauermann über "Marx als 
Wirtschaftssoziologe" hebt sich, trotz seiner mitunter willkürlich anmutenden 
Vielfalt an Theoriebezügen (von den italienischen Operaisten über die 
Postmoderne bis zur Systemtheorie) positiv von Nutzingers und Rubens Beiträgen 
und vor allem auch von Gerhard Hubers Aufsätzen zur Kritik der Marxschen
Klassentheorie, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, ab.

Auch wenn sich in einigen Aufsätzen des Sammelbandes, der Beiträge einer Tagung 
von Ökonominnen und Ökonomen aus der ehemaligen DDR und der BRD aus dem Jahr 
1995 zusammenfaßt, durchaus Richtiges findet, bleiben die meisten Autoren einem
recht eigenwilligen, jedoch gerade im akademischen Betrieb häufig 
anzutreffenden Verständnis der Marxschen Theorie verhaftet. Wahrscheinlich ist 
dieses Verständnis schon in der Fragestellung, was von der ökonomischen Theorie 
von Marx bleibe, angelegt, da sie Marx zum Ökonomen stempelt, anstatt ihn als 
Kritiker der Ökonomie zu begreifen. Zwar ist die Marxsche Kritik auch
ökonomische Theorie im klassischen Sinne, aber ihr Wesen liegt in der Kritik 
der politischen Ökonomie als solcher. Die Marxsche Kritik der politischen 
Ökonomie basiert im Gegensatz zur auch heute in der Volkswirtschaftslehre 
vorherrschenden subjektiven Wertlehre, und durchaus auch im Gegensatz zu 
objektiven Werttheorien, als welche die Marxsche Wertkritik im Sammelband
immer wieder bezeichnet wird, auf etwas, was man am ehesten eine 
gesellschaftliche Werttheorie nennen könnte, die die Analyse des Werts, der 
Verselbständigung des Werts im Geld und der Verwandlung des Geldes in Kapital 
umfaßt. Eines der großen Mißverständnis von Marx "Kapital" ist wohl jenes, das 
man glaubt, es gäbe so etwas wie eine Marxsche Wirtschaftslehre. Dabei wird so 
getan, als gäbe es ein paar liberale und konservative, also bürgerliche 
Theorien dazu, wie das, was man so Wirtschaft nennt, funktioniert, und dann 
gibt es eben den Marx, der die gleichen Zusammenhänge ein bißchen anders 
erklärt. In einigen Punkten trifft das natürlich durchaus zu. Nur kann so das 
Wesen, der Kern von Marx kaum begriffen werden, da er sich zum Teil mit ganz
anderen Gegenständen beschäftigt als die bürgerliche Wirtschaftslehre. Vor  
allem stellt er ganz andere Fragen. Es war nicht sein Anspruch, eine 
ökonomische Theorie neben anderen zu entwerfen, sondern alle anderen 
ökonomischen Theorien in ihrer Gesamtheit, also bereits in ihren 
grundsätzlichen Prämissen, in ihren - oft unausgesprochenen - Voraussetzungen 
zu kritisieren. Der Marx im "Kapital" ist also durchaus kein Ökonom, da er 
gerade auf die sozialen Beziehungen, die das, was dann Ökonomie genannt
werden kann, erst konstituieren, abhebt. Er ist aber ebenso kein Soziologe - 
zumindest im positivistischen Sinne -, da er gerade die Scheinhaftigkeit der 
soziologischen Realität auf ein inneres Wesen der Gesellschaft zurückführt. 
Ebenso wenig ist er aber Philosoph, da er dieses innere Wesen als materielle 
Wirklichkeit faßt, der die Individuen, ohne daß sie diese Wirklichkeit 
begreifen, unterworfen sind. Die Marxsche Kritik handelt also, wie Hans-Jürgen 
Krahl das einmal nannte, von der Bewußtlosigkeit aller Beteiligten. Aber auch 
die Psychologie ist bei Marx etwas anderes als die Untersuchung individueller 
unbewußter Disposition, da es ihm um Ideologiekritik, um das gesellschaftlich 
Unbewußte und dessen soziale Konstruktion geht. Die ganze 
Wissenschaftseinteilerei funktioniert bei ihm nicht. Was wir bei Marx vorfinden, 
ist schlicht und einfach Gesellschaftskritik, also Kritik der bestehenden
Gesellschaft und Kritik der Vorstellungen, die von dieser Gesellschaft 
existieren. Diese Kritik gilt es fortzuführen, anstatt den "marxistischen 
Ansatz" auf seine Brauchbarkeit für volkswirtschaftliche Theoriebildung 
abzuklopfen.

     Camilla Warnke/Gerhard Huber (Hg.): Die ökonomische Theorie von Marx - 
was bleibt? Reflexionen nach dem Ende des europäischen Kommunismus. 
Metropolis-Verlag: Marburg 1998, 240 S., 44,- DM

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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