Re: [ox] Literaturhinweis
- From: UlrichLeicht t-online.de (Ulrich Leicht)
- Date: Thu, 14 Dec 2000 19:48:53 +0100
UlrichLeicht t-online.de
Lydia Heller schrieb:
Hallo alle!
Kleiner Beitrag eines Listen-Passivlings der ersten Stunde:
Zu Marx, Produktivkraftentwicklung, Selbsorganisation, ökonomische
Theorie... habe ich zwei interessante Aufsätze gefunden und zwar:
Haustein, Heinz-Dieter: Karl Marx und evolutorische Ökonomik
und
Weise, Peter: Evolution und Selbstorganisation bei Karl Marx
beide in:
Warnke, Camilla; Huber, Gerhard (Hrsg.) (1998): Die ökonomische Theorie
von Marx ? was bleibt? Reflexionen nach dem Ende des europäischen
Kommunismus, Metropolis-Verlag, Marburg
Vor allem der zweite ist interessant ("obwohl" er mathematisch ist
("mathematische Katastrophentheorie" ???), aber das macht vielleicht
auch nur mir was aus...). Er begreift die Marxsche Theorie als
Evolutions- und Selbstorganisationstheorie, kritisiert deren Defizite
und kommt so zu dem Schluß, daß "die Geschichte aller bisherigen
Gesellschaft die Geschichte des Kampfes um Eigentums- und
Verfügungsbeschränkungen" ist.
Gut.
Weitermachen.
Liebe Grüße, Lydia.
Da ich zur Zeit auch auf der Suche nach Texten in diese Richtung bin, habe ich
vor kurzem eine Rezension zu diesem Buch gefunden. Der Autor Stefan Grigat,
Mag. Phil. aus Wien, unter anderem bei Agnoli studiert und an der FU promoviert
und derzeit wohl Stipendiat der RLS. Wie Franz Schandl, Gerhard Scheit und
andere interessante Wiener Mitglied im dortigen "Kritischen Kreis", der die
"Streifzüge" herausgibt. Letzte Veröffenrlichung Grigats war der Text "Die
Kritik der Politik, das Elend der Politikwissenschaft und der Staatsfetisch in
der marxistischen Theorie" in : Bruhn, Joachim u.a. (Hg.): Kritik der Politik.
Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag. Caira Verlag Freiburg 2000.
Im übrigen ein Text, der mithilft, die "unmarxsche" Sicht des leninistischen
"Primats der Politik", die, wie uns zuletzt in der Liste auch Christian Fuchs
mit seinen letzten verhängnisvollen mails deutlich gemacht hat, nicht nur die
Marxsche Gesellschaftskritik (dies ist nämlich die Kritik der
p o l i t i s c h e n Ö k o n o m i e und keine Wirtschaftslehre oder
-kritik) auseinanderreißt und auf einen politischen Voluntarismus, der schon
immer alle Abteilungen der Arbeiterbewegung und auch heute der
mainstream-linken auszeichnete, hinausläuft. Dieser kann bei allem guten
Willen mensch nicht nur in der Geschichte sondern auch heute noch in seinen
politischen Schlußfolgerungen das Fürchten lehren, weil er meist alles andere
als eine wirkliche Emanzipation der Menschen und der Gesellschaft auf den Weg
brachte und bringt, die (immer bürgerliche) Politik und Politikfixiertheit
ebenso wenig wie Ware, Wert, Arbeit, Kapital aufheben will
und kann, sondern schlicht unter dem Etikett des sozialen Fortschritts, des
"Sozialismus" oder der "Arbeiterbefreiung" verlängert. Zu diesem "Primat der
Politik", der meines Erachtens niemals mehr einen Weg der Befreiung, der
gesellschaftlichen Emanzipation bahnen kann und dabei weit hinter solchen
anderen Wegen, wirklichen Alternativen wie "Free software" zurückbleibt und
bleiben muß, vielleicht ein ander mal mehr.
Stephan Grigat arbeitet auch an der interessanten website
- http://contextxxi.mediaweb.at/ -
mit, wo mensch unter anderem auch die meisten Texte der "Streifzüge" findet:
http://contextxxi.mediaweb.at/texte/FRTexte.html
Dort ist auch die folgende Rezension zu der Buchempfehlung von Lydia Heller zu
finden, in der der kritische Wertkritiker Grigat neben grundsätzlicher Kritik
ebenfalls Positives vermerkt.
Gruß aus Dortmund
Uli
**************************** aus "Streifzüge" 4/99 ***************************
Marx und die Volkswirtschaft
Über die mißbräuchliche Nutzbarmachung der Kritik der politischen Ökonomie für
die Wirtschaftswissenschaft
von Stephan Grigat
Wenn man ein Buch über Marx durchblättert und es in ihm von
volkswirtschaftlichen Diagrammen und Tabellen nur so wimmelt, und wenn sich im
Stichwortregister dieses Buches zwar Begriffe wie "Transfereinkommen", nicht
aber "Verdinglichung", "Fetischismus" oder "Versachlichung" finden, dann weiß
man ungefähr, was einen erwartet. Wenn dann noch in der Einleitung der
Herausgeber zu lesen ist, daß es ihnen darum geht, zu fragen, was von "der
Marxschen Weltsicht wissenschaftlich produktiv bleibt", wenn sich der
Marxismus "in der Konkurrenz der ökonomischen Ansätze der scientific community
zu bewähren hat", wird deutlich, daß hier keine Fortsetzung des Marxschen
Projektes, nämlich der Kritik alles Bestehenden, zu erwarten ist, sondern die
akademische Depotenzierung von jener Gesellschaftskritik, die mit Marx ihren
Anfang nahm.
Peter Ruben, Professor im Ruhestand, bringt die Philosophiegeschichte in
Anschlag, um mit Hegel und Epikur die Unvernünftigkeit des Kommunismus zu
beweisen und zu der zeitgeistigen Überzeugung zu gelangen: "Die Vorstellung vom
Privateigentum als der Wurzel aller sozialen Übel, ist falsch." Er verwirft die
Darstellung der Wertformen im ersten Band des Marxschen "Kapital" und
meint, eigene Wertformen anbieten zu müssen. Er fordert Definitionen, wo es
Marx um das Begreifen der Sache im Durchgang ihrer Darstellung ging. Er
"variiert" die Marxsche Ausdrucksweise, verwirft zentrale Aussagen der
Werttheorie als "völlig inakzeptabel", nimmt "Umbenennungen" vor, läßt Marxsche
Kategorien, wie die Wertsubstanz "beiseite", um sie durch andere zu ersetzen
und gibt das Ganze dennoch als einen Versuch einer Rekonstruktion der Marxschen
Theorie aus. Seine Ausführungen sind über weite Strecken aber nur eine
Wiedergabe der durch Engels mitverursachten Fehlinterpretationen des
"Kapitals". Beispielsweise geht es ihm, der traditionsmarxistischen
Betrachtungsweise des Marxschen Hauptwerkes treu bleibend, darum, abermals zu
beweisen, daß "das der Wertformlehre zugrunde liegende Interesse (...) klar
historisch, nicht analytisch (ist)." Dieses Mißverständnis der
Wertformanalyse, bei der es sich gerade nicht um eine geschichtliche
Untersuchung, sondern um eine sytematische Ableitung des Geldes aus seinen
logischen Voraussetzungen handelt, korrespondiert mit Rubens Einschätzung,
Marx' Kapitalismusbegriff sei wesentlich an Personen, an die Kapitalisten als
Träger dieser Gesellschaft, gebunden gewesen. Da er nicht sieht, daß es Marx
gerade um das Kapital als gesellschaftlichem Verhältnis gegangen ist, daß er
Bewegungsgesetze analysiert hat, die sich hinter dem Rücken der Personen
durchsetzen, kommt er zu dem ebenso banal richtigen wie auch zugleich völlig
falschen Schluß, daß wir heute "mit einer Gesellschaftsordnung konfrontiert
(sind), die dem Kapitalismus in der Marxschen Beschreibung nicht mehr
entspricht".
Hans G. Nutzinger schließt sich in fast allen Punkten Rubens Einschätzung an
und dokumentiert, welche praktischen Konsequenzen aus einem derartigen
Marx-Verständnis resultieren. Der Volkswirtschaftsprofessor und Mitherausgeber
des Jahrbuchs "Ökonomie und Gesellschaft" fordert nicht die Aufhebung der
Warenförmigkeit, sondern wirft die "ethische Frage noch dem Umfang der
Warenförmigkeit" auf. Er sorgt sich um die "Zukunftsfähigkeit real
existierender marktwirtschaftlicher Ordnungen" und hält sein
idealistisch-moralisches Sozi-Programm einer "ethischen Begrenzung der
Warenförmigkeit" für eine "immanente Voraussetzung einer bürgerlichen
Gesellschaft". Das große Problem von Marx sieht er darin, daß er "die positiven
Koordinationsleistungen des Marktes nicht wirklich in den Blick" bekommen habe.
Nutzinger hingegen tut das und fährt deswegen voll auf Preise und Profit ab,
weil die schließlich "wertvolle Informationen generieren und weitergeben und so
Handlungsanreize schaffen". Im akademischen Bereich plädiert er für eine
"marxistisch inspirierte Sozialwissenschaft", die allerdings mit der Marxschen
Wertkritik nichts am Hut haben dürfe. Da fragt man sich dann, wozu er den
Zusatz "marxistisch" überhaupt für notwendig erachtet.
Durchaus lesenswert ist hingegen der Beitrag von Heinz-Dieter Hausstein, der
die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Marx und der evolutorischen
Ökonomik, die sich seit einiger Zeit als eigenständige theoretische Richtung
in der zeitgenössischen Wirtschaftswissenschaft etabliert hat, herausarbeitet
und dabei auch die Dogmatisierungen des Marxismus-Leninismus ins Zentrum
der Kritik rückt. Auch der Aufsatz von Manfred Lauermann über "Marx als
Wirtschaftssoziologe" hebt sich, trotz seiner mitunter willkürlich anmutenden
Vielfalt an Theoriebezügen (von den italienischen Operaisten über die
Postmoderne bis zur Systemtheorie) positiv von Nutzingers und Rubens Beiträgen
und vor allem auch von Gerhard Hubers Aufsätzen zur Kritik der Marxschen
Klassentheorie, auf die hier nicht weiter eingegangen werden soll, ab.
Auch wenn sich in einigen Aufsätzen des Sammelbandes, der Beiträge einer Tagung
von Ökonominnen und Ökonomen aus der ehemaligen DDR und der BRD aus dem Jahr
1995 zusammenfaßt, durchaus Richtiges findet, bleiben die meisten Autoren einem
recht eigenwilligen, jedoch gerade im akademischen Betrieb häufig
anzutreffenden Verständnis der Marxschen Theorie verhaftet. Wahrscheinlich ist
dieses Verständnis schon in der Fragestellung, was von der ökonomischen Theorie
von Marx bleibe, angelegt, da sie Marx zum Ökonomen stempelt, anstatt ihn als
Kritiker der Ökonomie zu begreifen. Zwar ist die Marxsche Kritik auch
ökonomische Theorie im klassischen Sinne, aber ihr Wesen liegt in der Kritik
der politischen Ökonomie als solcher. Die Marxsche Kritik der politischen
Ökonomie basiert im Gegensatz zur auch heute in der Volkswirtschaftslehre
vorherrschenden subjektiven Wertlehre, und durchaus auch im Gegensatz zu
objektiven Werttheorien, als welche die Marxsche Wertkritik im Sammelband
immer wieder bezeichnet wird, auf etwas, was man am ehesten eine
gesellschaftliche Werttheorie nennen könnte, die die Analyse des Werts, der
Verselbständigung des Werts im Geld und der Verwandlung des Geldes in Kapital
umfaßt. Eines der großen Mißverständnis von Marx "Kapital" ist wohl jenes, das
man glaubt, es gäbe so etwas wie eine Marxsche Wirtschaftslehre. Dabei wird so
getan, als gäbe es ein paar liberale und konservative, also bürgerliche
Theorien dazu, wie das, was man so Wirtschaft nennt, funktioniert, und dann
gibt es eben den Marx, der die gleichen Zusammenhänge ein bißchen anders
erklärt. In einigen Punkten trifft das natürlich durchaus zu. Nur kann so das
Wesen, der Kern von Marx kaum begriffen werden, da er sich zum Teil mit ganz
anderen Gegenständen beschäftigt als die bürgerliche Wirtschaftslehre. Vor
allem stellt er ganz andere Fragen. Es war nicht sein Anspruch, eine
ökonomische Theorie neben anderen zu entwerfen, sondern alle anderen
ökonomischen Theorien in ihrer Gesamtheit, also bereits in ihren
grundsätzlichen Prämissen, in ihren - oft unausgesprochenen - Voraussetzungen
zu kritisieren. Der Marx im "Kapital" ist also durchaus kein Ökonom, da er
gerade auf die sozialen Beziehungen, die das, was dann Ökonomie genannt
werden kann, erst konstituieren, abhebt. Er ist aber ebenso kein Soziologe -
zumindest im positivistischen Sinne -, da er gerade die Scheinhaftigkeit der
soziologischen Realität auf ein inneres Wesen der Gesellschaft zurückführt.
Ebenso wenig ist er aber Philosoph, da er dieses innere Wesen als materielle
Wirklichkeit faßt, der die Individuen, ohne daß sie diese Wirklichkeit
begreifen, unterworfen sind. Die Marxsche Kritik handelt also, wie Hans-Jürgen
Krahl das einmal nannte, von der Bewußtlosigkeit aller Beteiligten. Aber auch
die Psychologie ist bei Marx etwas anderes als die Untersuchung individueller
unbewußter Disposition, da es ihm um Ideologiekritik, um das gesellschaftlich
Unbewußte und dessen soziale Konstruktion geht. Die ganze
Wissenschaftseinteilerei funktioniert bei ihm nicht. Was wir bei Marx vorfinden,
ist schlicht und einfach Gesellschaftskritik, also Kritik der bestehenden
Gesellschaft und Kritik der Vorstellungen, die von dieser Gesellschaft
existieren. Diese Kritik gilt es fortzuführen, anstatt den "marxistischen
Ansatz" auf seine Brauchbarkeit für volkswirtschaftliche Theoriebildung
abzuklopfen.
Camilla Warnke/Gerhard Huber (Hg.): Die ökonomische Theorie von Marx -
was bleibt? Reflexionen nach dem Ende des europäischen Kommunismus.
Metropolis-Verlag: Marburg 1998, 240 S., 44,- DM
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