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Re: Integrierbarkeit der Keimform (was: [ox] Konferenz in Berlin)



On Thu, May 17, 2001 at 10:51:23PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Merten wrote:
Das ist dann "der entscheidende Unterschied", wenn du glaubst, daß es
*im Kapitalismus* möglich ist, die Form der Selbstentfaltung wirklich
endgültig zu entfalten. Ich sage, da gibt es im Kapitalismus
strukturelle Grenzen, die der Kapitalismus nicht überspringen *kann*,
weil er dann schlicht kein Kapitalismus mehr ist.

Es gibt historisch doch jede Menge Beispiele dafür, was der
Kapitalismus alles eingesaugt hat. Nimm zum Beispiel die Popkultur.
Früher rebellische "Selbstentfaltung", heute nur noch
Kulturindustrie.

Ich sehe nix strukturell anderes an der "Selbstentfaltung" was
weniger gut verwertbar wäre als andere Sachen. Natürlich müssen die
Leute sich dann verbiegen und werden dann wahrscheinlich alle
schizophren, aber das macht dem Kapitalismus doch nix. Tatsächlich
habe ich schon heute oft das Gefühl mit Irren zu sprechen, wenn ich
wiedermal nach ellenlangem Gejammer ein freudiges "Aber meine Arbeit
macht mir ja Spass" hören muss. Und das ist meiner Wahrnehmung nach
so ungefähr der Mainstream in dem, wie die Leute über ihre Arbeit
reden. 

Ihr redet hier immer so, als muesste die "Selbstentfaltung" immer
erst noch verwertet werden. Der Witz ist, dass das doch schon längst
passiert. Nur deswegen sind die Leute doch bereit 60 Stunden und
mehr zu arbeiten, eben weil es ihnen Spass macht. Natuerlich gehen
sie dabei kaputt, aber das etwas kaputt geht, war noch nie ein
Problem des Kapitalismus.

Entscheidend scheint mir für den Kapitalismus die allseitige
Fremdbestimmung - sei es durch konkrete Personen wie ChefInnen oder
durch abstrakte Markt"gesetze". Im Kern ist das eine Folge der
kybernetischen Maschine der Wertverwertung, die eben nach abstrakten,
jedenfalls nicht menschengemäßen Gesetzmäßigkeiten läuft. Ja, die
Menschheit kommt in diesen Gesetzen sogar so wenig vor, daß deren
Ausrottung durch eine globale Umweltkatastrophe nicht nur denkbar ist,
sondern sogar täglich wahrscheinlicher wird.

Es sind schon immer vielfältige Mittel entwickelt worden, den
Menschen anderer Leute willen als ihren eigenen vorzugaukeln. Das
wird doch auch immer subtiler und funktioniert doch auch. Wo ist da
ein struktureller Unterschied?

Diese letztenendes in Entfremdung mündende Fremdbestimmung ist aber
genau das zentrale Problem mit dem Kapitalismus. Diese Entfremdung
bewirkt, daß die Menschen gegen ihre eigenen Interessen verstoßen
müssen - individuell (Maloche) genauso wie gesamtgesellschaftlich
(Umweltzerstörung).

Ja, aber das ist doch auch nix neues. 

Und genau hier liegt m.E. der Punkt, wo die KapitalistInnen es eben
nicht schaffen, die Selbstentfaltung sich wirklich entfalten zu
lassen. Hier müssen die KapitalistInnen den Markt"gesetzen" gehorchen
und das ist die immanente und durch nichts abzuschaffende und durch
nichts Immanentes zu überwindende Grenze.

Was heisst denn "die Selbstentfaltung sich wirklich entfalten
lassen"? Das klingt ja so, als gäbe es da ein vorbestimmtes Ziel von
100% Selbstentaltung und alles drunter wird nicht reichen. In den
Spitzenpositionen, wo das benötigt wird, lässt man soviel
Selbstenfaltung zu, wie gerade nötig und im ganzen Rest ist das
nicht nötig und da werden die Leute eben weiter fernsehentfaltet.

Stefan, woher nimmst Du nur diesen grenzenlosen Optimismus? Ich
beneide Dich ja irgendwie dafür und vielleicht hab ich auch nur
zuviel Adorno gelesen, aber irgendwie habe ich doch das Gefühl Du
unterschätzt die Integrationsfähigkeit des Kapitalismus. Die
Arbeitsweise wie sie heute in weiten Bereichen üblich ist
(60h-"Meine Arbeit macht mir Spass"-Woche) war doch vor wenigen
Jahren noch für die allermeisten undenkbar. Heute jedoch gehört es
schon zum guten Ton sich gegenseitig damit vorzuprahlen, wieviel man
denn arbeitet. 

Daher sehe ich bisher nicht, daß es dem Kapitalismus gelingen könnte,
diese Form, die in der Freien Software beispielhaft existiert,
wirklich integrieren zu können. Sie versuchen es - klar. Aber m.E.
gibt es fundamentale, immanent unüberschreitbare Grenzen.

Das ist bisher für mich der größte Schwachpunkt in der
Keimformtheorie. Ich sehe da nicht mehr als eine für mich meinen
konkreten Erfahrungen nach unplausible - wenn auch sicherlich
wünschenswerte - Behauptung.

PS: Ganz ehrlich: Ich würde mich freuen, wenn es gegen die oben zum
wiederholten Male ausgebreitete Argumentation mal was gäbe und nicht
nur dieses platte "Was dem Kapitalismus nutzt, das kann gar nicht gut
sein.". Wie sollen wir uns denn da weiterentwickeln?

Obiges hab ich auch nicht zum ersten Mal geschrieben. Jetzt mal
konkret: Was ist die theoretische Begründung, weshalb die
Selbstentfaltung entgegen aller historischer Erfahrung mit anderen
oder ähnlichen Ressourcen nicht - oder auch nur schlechter -
gezähmt werden kann.

Das es nicht zu 100% geht, ist klar. Aber das ist doch auch garnicht
nötig. Solange alle anderen Alternativen erdrückt werden, reicht das
aus. Man _kann_ ja auch heute immer noch Subsistenzwirtschaft
betreiben, nur tun es eben nur wenige.

Vielleicht ist es ein bisschen wie mit dem Kopierschutz: Es kann aus
theoretischen Überlegungen heraus keinen wirklich funktionierenden
geben, trotzdem sind Digital-Rights-Management-Systeme eine Gefahr,
weil sie möglicherweise es einfach schwer genug machen zu kopieren.

Und so kann es eben keinen 100%-Selbstentfaltungs-Kapitalismus geben
aber 90% reichen doch völlig. 

Grüße, Benni



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Organisation: projekt oekonux.de


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