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[ox] Konferenz-Beitrag: Von der Waren- zur Wissensgesellschaft



Von der Waren- zur Wissensgesellschaft
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Hans-Gert Gräbe

Neun Thesen
-----------

1. 'Oekonux' und 'New Economy' sind sich einig: Information und Wissen
und damit die Kompetenz der Individuen werden in der Gesellschaft von
morgen eine zentrale Rolle spielen. Damit hören die Gemeinsamkeiten
allerdings schon auf. Die Konsequenzen der 'New Economy' bedeuten,
auch Information, Wissen und Kompetenz marktgängig zu machen und damit
in kapitalistische Verwertungszusammenhänge einzubinden. Dabei wird
wenig Rücksicht genommen auf Traditionen im Umgang mit Wissen, das
jahrtausendelang als freizügig zugängliches gesellschaftliches
Gemeingut galt. Diese "Wissensallmende" (Grassmuck) soll in einem Akt
ursprünglicher Akkumulation parzelliert und damit Gemeineigentum an
Wissen durch Privateigentum abgelöst werden, um in Zukunft nicht nur
fremde Arbeit, sondern auch fremde Gedanken ausbeuten und die
entsprechenden 'Informationsrenten' einstreichen zu können.

Ein solcher Versuch ignoriert den Umstand, dass (nicht triviale)
Information Voraussetzung, nicht Gegenstand produktiver, also
marktgängiger Arbeit ist und eigentlich zu einer Sphäre gehört, in die
marktwirtschaftliche Austauschprozesse eingebettet sind. Mit dem
zunehmenden Focus auf solche Kompetenz wird der kausale Rahmen der
Waren produzierenden Gesellschaft verlassen, indem statt Produktion
und Verkauf nunmehr die Bedingungen für Produktion und Verkauf, kurz,
die Infrastruktur der materiellen Produktion, die "allgemeine Arbeit",
ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, eine Arbeitsform, deren
Ergebnis alle nutzen, deren Verrichtung aber (aus
marktwirtschaftlicher Logik heraus) keiner bezahlen will.



Parallel zur wachsenden Bedeutung dieser Bereiche wächst auch der
Druck, sie vordergründig marktwirtschaftlich zu organisieren und damit
einem kurzfristig denkenden Kalkül der lokalen Profitmaximierung zu
unterwerfen. Die Unangemessenheit solcher Regulationsmechanismen für
die globalen, erst in kooperativen Synergien zu Tage tretenden Effekte
einer solchen Infrastruktur vertieft die "Tragödie der
Allgemeingüter"[1] und trocknet das Substrat derselben weiter aus. Die
Ironie des Schicksals will es, dass Wissenschaft und Bildung - die
zentralen Themen einer Kompetenzgesellschaft - davon besonders
betroffen sind.

2. Die heutigen gesellschaftlichen Umbrüche resultieren wesentlich aus
einem kräftigen Produktivkraftzuwachs, der im breiten Einsatz moderner
wissensintensiver Technologien zum Ausdruck kommt und gewöhnlich als
Übergang zu einer Informations- oder Wissensgesellschaft bezeichnet
wird.

Obwohl dabei vor allem die IuK-Technologien im Mittelpunkt der
öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, reicht die technologische Basis
dieser Entwicklungen mit Biotechnologie, Mikro- und Nanotechnik,
"intelligenten Materialien" usw. weiter.

Charakteristisch für all diese Technologien ist eine gegenüber dem
klassischen Industriezeitalter enorm gewachsene Bedeutung von
Information, Organisation und Wissen. Wissen und Können werden zu
zentralen Kategorien und entscheiden über Erfolg und Misserfolg jedes
Einzelnen ebenso wie über Erfolg und Misserfolg von Firmen,
Vereinigungen, Staaten, ja der Menschheit insgesamt.

Im Alltag von (in diesem Sinne) modernen Gesellschaften spielen damit
Fragen des Wissensmanagements und anderer Formen allgemeiner Arbeit
auch in der ökonomischen Praxis eine zunehmend wichtige Rolle.

3. Marktwirtschaftlich geprägte Vergesellschaftungsformen produktiver
Arbeit und Formen der Vergesellschaftung von Wissen folgen
unterschiedlichen inneren Logiken. Die komplexe Dynamik der
Widersprüche unserer Zeit, die sich aus der Aufladung heutiger
Strukturen mit diesen widersprüchlichen Formen ergibt, erfordert
zunächst eine genauere Analyse der Unterschiede dieser beiden
Sozialisationsformen. Ihre normative und zugleich
gesellschaftskonstituierende Wirkung geht von völlig unterschiedlichen
Prämissen aus.

1.   Der klassische Produktmarkt ist zwar gesellschaftlich vermittelt,
     reduziert sich aber letztlich auf ein, zudem sehr individuelles,
     1:1-Verhältnis zwischen Käufer und Verkäufer, das zusätzlich von
     einem Wechsel dinglicher Eigentumsrechte im Rahmen des
     Verkaufsvorgangs begleitet wird. Dagegen kann man am eigenen
     Wissen und an Informationen viele andere partizipieren lassen,
     ohne dass dieses sich auch nur im mindesten verbrauchen würde.
     Wissen ist damit in der Lage sich zu verbreiten und (in einem
     gesellschaftsrelevanten Sinne) zu "vermehren".



2.   In einem klassischen Verkaufsvorgang haben, wie Marx immer wieder
     betont, Verkäufer und Käufer klare Vorstellungen von der
     Nützlichkeit des auszutauschenden Gegenstands. Mehr noch, für das
     Funktionieren marktwirtschaftlicher Mechanismen ist es
     wesentlich, dass diese Vorstellung nicht erst zum Zeitpunkt des
     Austausches, sondern bereits vor der Produktion der Ware selbst
     im Kopf des Produzenten existiert. Produktive Arbeit ist in
     diesem Sinne zweckgerichtete Arbeit und als solche planbar.
     Derartige A-priori-Vorstellungen gibt es für die meisten
     "geistigen" Produkte nicht. Im Gegenteil, es ist eher die Regel
     als die Ausnahme, dass der Nutzen wissenschaftlicher Arbeit erst
     im Nachhinein zu beurteilen ist und sich ein solcher Nutzen oft
     in kausal und auch zeitlich überraschender Form auf eine im
     Voraus nicht transparente Weise manifestiert und damit in dieser
     Form weder vorherseh-, geschweige denn planbar ist. Mehr noch,
     eine Beschränkung der Betrachtung auf in diesem Planbarkeitssinne
     "nützliches" Wissen blendet die für gesellschaftlichen
     Fortschritt entscheidenden Wissensformen aus, siehe [2].

3.   Eng damit verbunden ist der Umstand, dass die Vergesellschaftung
     und Reindividualisierung, die beiden Phasen der Sozialisation,
     die bei einem auf dem klassischen Markt ausgetauschten
     materiellen Produkt unmittelbar und inhärent miteinander
     verbunden sind, bei den meisten geistigen Produkten nicht nur
     zeitlich, sondern auch kausal weit auseinanderfallen können.

Während der Markt also mit den Kategorien Eigentum und Ware eine
gesellschaftlich vermittelte Individualität erzeugt, ist Wissen in
diesem Sinne eine individuell vermittelte Gesellschaftlichkeit. Als
solche ist es, im Gegensatz zu Waren, auch in Teilen nicht vernünftig
privatisierbar, ohne seine Reproduktionsfähigkeit existenziell in
Frage zu stellen.

4. Diese Prozesse lassen sich nicht im engen Korsett eines
Arbeitsbegriffs analysieren, der diese allein als "zweckgerichtete
Tätigkeit" versteht, da eine solche Betrachtung die Mechanismen der
Zwecksetzung samt der dahinter stehenden Gesellschafts- und
Vergesellschaftungsstrukturen ausblendet. Ein solcher Arbeitsbegriff -
Arbeit als "produktive Arbeit" - liegt aber der Marxschen
Kapitalanalyse zugrunde.

Dies ist jedoch kein theoretisches Defizit bei Marx, sondern
analytische Konsequenz der praktischen Blindheit marktwirtschaftlicher
Mechanismen für diese Zwecksetzung. Sie findet ihren Ausdruck in der
Reduktion aller dinglichen Zwecke auf eine einzige Form, die abstrakte
Wertform des Geldes.

Die Analyse heutiger ökonomischer Prozesse ist nur auf der Basis eines
erweiterten Arbeitsbegriffs möglich, der auch die reflektorischen
Leistungen der Gesellschaft in den Blick bekommt.

5. Die Analyse von Arbeit im ontologischen Sinne (als
Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur) wird dadurch
komplizierter. Während sie im vorindustriellen Zeitalter weitgehend
als direktes Verhältnis von Mensch und Natur analysiert werden konnte,
tritt im Industriezeitalter deren Mittelbarkeit in den Vordergrund.

Das komplexe Zusammenspiel der Mittel und Produkte, die sich die
Menschheit zur Einwirkung auf die Natur geschaffen hat, veranlasst
Marx bei seiner Untersuchung des Industriezeitalters zu einer
getrennten Analyse der Mittel-Natur-Verhältnisse (Produktivkräfte) und
der Mensch-Mittel-Verhältnisse (Produktionsverhältnisse) als
Voraussetzung der synthetischen Untersuchung der Wechselwirkungen
beider (Produktionsweise).

Mittel sind in diesem Zusammenhang vor allem die Arbeitsmittel und das
dingliche Produktionsinstrumentarium - das "Knochen- und Muskelsystem
der Produktion" (Marx). Zwecksetzung und Reflexion bleiben dem
Menschen vorbehalten, dem in dieser Kette (Natur - Mittel - Mensch)
einzigen aktiv-kreativen Element.

Moderne wissensintensive Technologien verdinglichen auch einen Teil
dieser Zwecksetzungs- und Reflexionsleistung. Dieser neu verdinglichte
Teil lässt sich weder der Komponente "Mensch" als dem aktiv-kreativen
Element in diesem Verhältnis noch der Komponente "Mittel" in ihrer
bisherigen Dimension zuordnen, da er gegenüber dieser einen Teil der
strukturierenden Aktivitäten übernimmt, die bisher dem Menschen
vorbehalten waren.

Dessen Subsumierung unter einen zu erweiternden Mittelbegriff ist für
die Zwecke der Analyse der heutigen Umbrüche kontraproduktiv, da genau
das Verhältnis dieser "Wissenstools" zu den bisherigen dinglichen
Produktionsmitteln der Analyse bedarf. Neben dem Kategorienpaar
Produkte/Mittel ist also ein weiteres Kategorienpaar Zwecke/Konzepte
(genauer: die in den Wissenstools vergegenständlichte Semantik und
Pragmatik) zu betrachten, das sich zwischen Produkte/Mittel als Target
von Zwecken/Konzepten und den Menschen als weiterhin einziges
kreatives Element in diesem Prozess der Auseinandersetzung mit der
Natur schiebt.

In der Perspektive flexibler automatisierter Produktionssysteme
verschiebt sich jedoch der instrumentelle Aspekt der
Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur eindeutig hin zu den
"Wissenstools", denen gegenüber die materielle Ausformung von
Produkten und Werkzeugen aus Sicht der notwendigen gesellschaftlichen
Aufmerksamkeit ähnlich marginal wird wie es heute bereits (im
Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter) der tatsächliche Einsatz der
industriellen Maschinerie zur (physischen) Bearbeitung/InFormung von
Naturprodukten ist.

Die revolutionären Veränderungen unserer Zeit bestehen damit im Kern
in der Verschiebung dieser Mittelperspektive von einer
"Arbeitsgesellschaft" (im Sinne einer Gesellschaft der "unmittelbar
produktiven Arbeit") hin zu einer "Wissensgesellschaft", die durch das
zunehmende Heraustreten des Menschen aus dem unmittelbaren
Produktionsprozess zugunsten seines stärkeren Einstiegs in den
Reproduktionsprozess geprägt wird.





6. Heutige Gesellschaftsstrukturen sind mit den, oft widerstreitenden,
Sozialisierungsbedürfnissen beider Mittelperspektiven aufgeladen. Um
die ablaufenden Veränderungen im Sinne des "Fünfschritts der
Revolution"[3] bzw. der "Allmählichkeit der Revolution"[4] zu
verstehen, ist zunächst eine analytische Trennung der Pole dieses
Dominanzwechsels notwendig, auch wenn sich dieser in allen Poren der
Gesellschaft, als Widerstreit innerhalb aller ihrer heutigen
funktionalen Strukturen vollziehen wird.

In einer zweiten Stufe der Analyse ist die Synthese der beiden Pole zu
untersuchen, um diese Widersprüchlichkeit realer gesellschaftlicher
Prozesse besser verstehen und prognostizieren zu können.

7. Eine wichtige Ebene eines solchen Dominanzwechsels wird geprägt
durch den Übergang von einer Arbeits- zu einer Kompetenzgesellschaft:

In Zukunft hängt die "Vernutzbarkeit" des Einzelnen viel stärker ab
von seinen individuellen Kenntnissen, Erfahrungen, Fähigkeiten und
Fertigkeiten, also von seiner Kompetenz, als von seiner physischen
Arbeitskraft. Marx stellt dazu in den "Grundrissen der politischen
Ökonomie" fest, dass in einem stark wissenschaftlich geprägten
Arbeitsumfeld

die Schöpfung des wirklichen Reichtums weniger abhängt von der
Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der
Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und
die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren
Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom
allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der
Technologie. (MEW 42, S. 592)

Technologische Voraussetzung der Teilhabe an einem solchen modernen
Produktionsprozess ist damit viel stärker die sich in individueller
Kompetenz ausdrückende Beherrschung (eines Teils) der "Macht der
Agentien" als die Bereitstellung einer (unterschiedslosen abstrakten)
physischen Arbeitskraft auf einem fiktiven "Arbeitsmarkt". Der daraus
resultierende Selbstverwirklichungsanspruch ist die Basis des
emanzipatorischen Potenzials der Wissensgesellschaft. Die Reproduktion
dieser "Macht der Agentien", insbesondere der aktiv verfügbaren
Wissensbasis der Gesellschaft und ihrer Teile, wird zur zentralen
gesellschaftlichen Aufgabe.

8. Eine weitere wichtige Ebene wird geprägt durch den Übergang von
einer Konsum- zu einer Vorsorgegesellschaft:

Mit den neuen technologischen Möglichkeiten rücken auch Fragen der
Planung und Zwecksetzung von Produktion selbst stärker in den
Vordergrund. Natürlich spielte die Zwecksetzung, die jeder produktiven
Arbeit vorausgehen muss, auch vorher eine wichtige Rolle als das
Risiko, das der kapitalistische Unternehmer auf sich nimmt.
Schließlich werden alle seine Aufwendungen nur dann ersetzt, wenn
diese Zwecksetzung "marktkonform" erfolgt. Der Schwerpunkt seiner
Aktivitäten lag bisher jedoch auf der Realisierung dieses Zwecks. Es
waren wenige Projekte notwendig, um entsprechende Aufträge zu
akquirieren, und auch die Qualität der Präsentation und
Detailliertheit der Ausarbeitung eines Projekts war nicht allzu
entscheidend. Dies hat sich heute schon grundlegend geändert. Selbst
kleine Handwerksbetriebe müssen mittlerweile Projekterstellung und

     o    überwachung in ganz anderen Dimensionen betreiben als
          vielleicht noch vor 10 Jahren. Mit zunehmender
          wissenschaftlicher Durchdringung nicht nur der Produktion
          selbst, sondern auch der Produktionsorganisation, und dies
          ist wohl die ökonomische Haupttendenz gegenwärtiger
          Modernisierungsprozesse, wird dieser Aufwand für die
          Zweckbestimmung noch einmal deutlich anwachsen.

Die Hauptgewichte der ökonomischen Aktivitäten, die sogenannten
"geschäftskritischen Prozesse", verlagern sich damit von der
Produktion selbst hin zur Vorbereitung der Produktion. Während man im
Fordismus, der das 20. Jahrhundert maßgeblich prägte, noch Produkte
vorhielt (mit Massenproduktion, Massenkonsum, Werbung etc. im
Schlepptau), verlagert sich nun der Schwerpunkt hin zum Vorhalten von
Produktionsbedingungen, aus denen heraus "just in time" und
maßgeschneidert Produkte entsprechend individuellen Bedürfnissen
produziert werden können.

Statt um den Konsum von Produkten geht es in Zukunft also stärker um
die Realisierung von Optionen. Dies ist jedoch nicht alternativ zu
verstehen, sondern als Perspektiverweiterung. Realisierung von
Optionen schließt den Konsum von Produkten ein, beschränkt sich aber
nicht auf die unmittelbare Produktperspektive.



Die Konsequenzen reichen deshalb weiter als bei Fortier[5] ausgeführt,
der schreibt:

IuK-Technologien ermöglichen es, das unmittelbare Ziel ökonomischer
Aktivitäten zu verschieben von der Maximierung des Ausstoßes
materieller Produkte hin zur Akkumulation von Wissen als Mittel der
Maximierung des Ausstoßes materieller Produkte.



Die Möglichkeiten dieser Technologie - aufgefasst nicht in einem
technizistischen Sinne, sondern als Einheit von Technik, ihrer
Implementierung in der gesellschaftlichen Praxis sowie der Ausprägung
sozialer Strukturen, die diese technischen Möglichkeiten adäquat
nutzen - gehen weit über eine solche Ausstoßmaximierung hinaus, siehe
[6].

Technologisch hat die Menschheit damit die Möglichkeit, sich zu einer
Vorsorgegesellschaft zu wandeln, die vielfältige Konzepte bereithält,
um auf die verschiedensten Situationen adäquat reagieren zu können,
von denen entsprechend der konkreten Situation aber nur einige wenige
tatsächlich bis zur Realisierung geführt werden. Ein solches, auch aus
ökologischen Gründen sehr attraktives Modell hat nur einen kleinen
Haken - es kollidiert mit den derzeitigen Verwertungsbedingungen. Das
Vorhalten von Produktionsbedingungen wird vom Markt nicht belohnt,
sondern nur die Produktion selbst.

9. Aus der Sicht des Dominanzwechsels in der Sozialisierungsform,
welche die Gesellschaftsstrukturen entscheidend prägt, handelt es sich
um den Übergang von einer Waren- zu einer Wissensgesellschaft.

Auch hier sind bereits deutliche Verschiebungstendenzen zu spüren,
selbst wenn wir heute mit dem vehementen Versuch konfrontiert sind,
die Geschäfte der Wissensgesellschaft über Eigentumstitel an
Wissensbestandteilen und den "Verkauf von Dienstleistungen"
warenförmig zu organisieren. Diese Instrumente der Warengesellschaft
stoßen aber immer mehr an die Grenzen ihrer Regulationskraft beim
Versuch, die Multioptionalität von Zielen und Bewertungen auf die
abstrakte "Wertform" zu reduzieren. Sie werden zunehmend

o    disfunktional (wie z.B. die Registrierungsmechanismen von
     kommerzieller Software, die nichts mit deren Funktionalität zu
     tun haben, sondern diese (gelegentlich) nur behindern),

o    irrational (wenn z.B. Prozesse der Bewirtschaftung von
     Infrastruktur mit mehreren Partnern künstlich in kleinteilige,
     "abrechenbare" Einheiten zerlegt werden müssen)

o    und anachronistisch (wenn ein Auftrag technisch zur Zufriedenheit
     erledigt ist und nun kaufmännisch noch eine Wertform aufgeprägt
     bekommen muss).

Andererseits ist das Wissen um die Bedingungen in einem Marktsegment
(Marktbedingungen, technologisches Know-How usw.) die gemeinsame
Infrastruktur, in der sich alle Marktteilnehmer dieses Segments
bewegen. Mit Kreuzlizensierungen und Supply Chain Management wird
diese Infrastruktur heute schon an vielen Stellen gemeinsam
bewirtschaftet, andererseits aber als Marktzugangshürde für
Neueinsteiger aufgebaut. Die Freizügigkeit des Zugangs zu Information
und Wissen innerhalb eines Marktsegments als technologisches
Erfordernis der Wissensgesellschaft wird konterkariert von der
Abschottung nach außen als herrschaftssicherndes Instrument in den
Auseinandersetzungen der Warengesellschaft.

Ein wesentliches Element der OpenSource-Bewegung besteht im
Niederreißen dieser Schranken, womit sie - jenseits aller Fragen einer
kommerziellen Verwertung von auf dieser OpenSource-Basis erstellter
Produkte - diesen Dominanzwechsel deutlich befördern hilft.

Mit der zunehmenden Verfügbarkeit flexibler Entwicklungs-,
Konstruktions- und Maschinensysteme wird die materielle Realisierung
von Konzepten zugleich immer einfacher. Fragen der unmittelbaren
materiell-technischen Realisierbarkeit, die im Zentrum der Mechanismen
der Warengesellschaft stehen, werden abgelöst von
konzeptionell-planerischen Fragen, die den Fokus vom Produkt auf die
"Kunden" und deren sachliche Bedürfnisse verschieben.

Gerade für kleinere Unternehmen wird es damit zur Überlebensfrage,
auch Teile der produktiven Kapazitäten, in denen das Know-How des
Marktsegments vergegenständlicht ist und die mit hohen
Anschaffungskosten zu Buche schlagen, gemeinsam zu bewirtschaften. Der
Kooperationsgedanke der Wissensgesellschaft kann sich so auch
unmittelbar in die produktive Sphäre ausdehnen.

Gegenwärtig ist allerdings verstärkt die entgegengesetzte Tendenz der
(globalen) Monopolisierung von Marktsegmenten zu verzeichnen, indem
durch Fusionen und gegenseitige Beteiligungen einzelne Firmen bzw.
verflochtene Firmengruppen ein ganzes Marktsegment beherrschen und
damit die Bewirtschaftung der Wissensbasis in diesem Bereich in
planerisch-realsozialistischer Manier organisieren können. Ein solcher
zentralistischer Zugang widerspricht jedoch den
Sozialisierungsbedürfnissen von Wissen, wie in These 3 ausgeführt.
Auch hier zeigt die OpenSource-Bewegung die Potenzen auf, die ein
kooperativer Zugang bietet.

Diskussion auf der Oekonux-Liste

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[1] Garrett Hardin: The Tragedy of the Commons
[http://dieoff.com/page95.htm], Science, 162 (1968), 1243-1248.

[2] Klaus Fuchs-Kittowski: Wissens-Ko-Produktion. Verarbeitung,
Verteilung und Entstehung von Informationen in kreativ-lernenden
Organisationen. In: Christiane Floyd, Wolfgang Hofkirchner (Hrsg.):
Stufen zur Informationsgesellschaft für alle. Festschrift zum 65.
Geburtstag Klaus Fuchs-Kittowskis. Peter Lang-Verlag, Frankfurt 2001.
siehe auch
http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/moderne/Texte.

[3] Gruppe Gegenbilder: Freie Menschen in freien Vereinbarungen, Kap.
2.4 (Version 1 vom 08.08.2000) siehe
http://www.opentheory.org/proj/gegenbilder

[4] Rainer Thiel: Die Allmählichkeit der Revolution - Blick in sieben
Wissenschaften [http://www.thiel-dialektik.de/revolution.htm] Reihe
"Selbstorganisation sozialer Prozesse", Bd. 6, Hrg. Herbert Hörz LIT
Verlag Münster, Juli 2000

[5] Francois Fortier: Virtuality Check - A Political Economy of
Computer Networking (Mai 1998) http://dkglobal.org/crit-ict/ff1.htm

[6] Wolf Göhring [http://ais.gmd.de/~goehring]: "Schließen
Nachhaltigkeit und Warenproduktion einander aus?"; "E-Commerce - Und
was kommt danach? Eine Perspektive für die Informationsgesellschaft"
(Mai 2000); "Mittels Informations- und Kommunikationstechnik die
Warenproduktion dialektisch aufheben?" Kommunistische Streitpunkte,
Heft 6, März 2001, S. 33-39.; siehe auch
http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/moderne/Texte



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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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