Re: [ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute
- From: KXX4493553 aol.com
- Date: Mon, 16 Jul 2001 17:01:18 EDT
In einer eMail vom 16.07.01 22:38:56 (MEZ) - Mitteleurop. Sommerzeit schreibt
quasi utopix.net:
Ich will nur so viel sagen: ohne die Vorarbeiten dieser modernen
> KünstlerInnen gäbe es so etwas wie Oekonux überhaupt nicht,
Das halte ich schon für gewagt, oder genauer, für ziemlich wage:
warum nicht? (Und ohne wieviele andere Erscheinungen in der davor
und dahinter liegenden Geschichte würde es so etwas wie Oekonux
auch nicht geben?) Will sagen, mich interessiert (vielleicht etwas
mehr als Stefan?) die besondere Relevanz dieser Parallelen.
Nun das musst dir so vorstellen: in den ersten drei Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts (grob gesagt) entwarfen KünstlerInnen neue Verfahren und neue
Techniken in der ästhetischen Darstellung. Z. B. künstliche Sprachen (s.
Chlebnikow). Die damals noch jungen Wissenschaften Linguistik und Semiotik
griffen das auf, formalisierten und mathematisierten die Verfahren. In der
Musik war's eher umgekehrt, dort griffen Komponisten mathematische Verfahren
auf (z. B. die Zwölftontechnik Schoenbergs, der vor ein paar Tagen seinen 50.
Todestag "beging", oder die serielle Musik als Weiterentwicklung der
Zwölftontechnik nach dem 2. Weltkrieg; Parallelen zur fordistischen
Fließbandproduktion sind da mehr als augenfällig). Wie auch immer, aber
Formalisierung und Mathematisierung waren die unabdingbare Voraussetzung für
die späteren Programmiersprachen.
Zudem gab's damals auch alle Spielarten des Verhältnisses von Kunst und
Politik: vom L'art pour l'art (auch Ästetizismus genannt, Kunst um der Kunst
Willen) über das doch recht plumpe Agitprop bis hin zur Überzeugung, dass ein
Künstler/Wissenschaftler auf seinem Spezialgebiet immer "an der Spitze der
Bewegung" sein müsse, damals wurden politischer Avantgardismus und
technischer Avantgardismus noch als zwei Seiten derselben Medaille
betrachtet, nur auf unterschiedlichen Terrains. Das glauben wir heute
natürlich in dieser simplen Parallelisierung nicht mehr. Zudem war die bloße
Existenz der Sowjetunion und die politisch prekäre Situation nach dem 1.
Weltkrieg mit dem langsamen Aufstieg des Faschismus Grund genug, sich
politisch zu engagieren oder sich zumindest zu "verhalten".
> und es waren in
> erster Linie KünstlerInnen - bildende Künstler, Architekten, Literaten
-,
die
> sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gedanken über das
Verhältnis
> von technologischer Entwicklung und der jeweiligen
Gesellschaftsformation
> machten - wie verzerrt und defomiert auch immer, aber immerhin.
Und vor allem waren die damals noch richtig präsent, man könnte fast sagen
main stream... (zumindest unter denen, die nicht einfach nur reproduktive
"Kunst" (zw. Biedermeier und Seifenoper) hervorbrachten)
Präsent ja, Mainstream nein. "Skandale" waren damals jedenfalls viel häufiger
als heute, wo man die Leute mit anscheinend nichts mehr hinterm Ofen
hervorlocken kann...
> Und auch
> damals wurde sich an den jeweils avanciertesten Techniken und an den
> avanciertesten ästhetischen Prinzipien ausgerichtet. Ohne die Stilmittel
der
> modernen Kunst und nicht zuletzt des Films (Collage, Montage,
Überblendung,
> "Schock"-Ästhetik etc.) wären die heutigen Video-Clips und die
Computerspiele
> gar nicht denkbar.
Und hier erhebt sich für mich die Hauptfrage: haben die Künstler
von heute überhaupt noch den Anspruch, eine ähnliche Perspektive
auf die Realität, die gesellschaftliche Entwicklung, die Rolle
der Technik in ihr usw. usf. einzunehmen? In meinem
(Klischee-)Bild von Video-Clips und Computerspielen kommt so
etwas jedenfalls nicht vor. Und witzigerweise bei den meisten
Programmierern auch nicht... -- um wieder auf die Parallele
zurückzukommen: schließlich waren ja nicht nur die Künstler
damals von der Schaffung einer neuen Welt inklusive neuem
Menschen interessiert und haben tatkräftig Hand angelegt. Heute
hingegen habe ich immer den Eindruck, wenn Naturwissenschaftler
sich zu etwas anderem als ihrem Fachgebiet äußern, dann kommen
sie über plumpe Übertragungen (mechanistische Analogien) nicht
hinaus, halten sich aber dennoch für äußerst befugt, eine
authoritative Meinung abzusondern...
Aber vielleicht liegt das ja viel eher an der inzwischen
gewandelten Struktur der Kommunikationskanäle. Die
Wissenschaftler, Künstler und Programmierer, die einen
fortschrittlichen und umfassenden Anspruch haben, wie Du ihn mit
der russischen Avantgarde illustriert hast, die kommen vielleicht
einfach nicht mehr zu Gehör, weil das "Grundrauschen" ungemein
zugenommen hat...
Da will ich nicht widersprechen.
Schöne Grüße
Kurt-Werner Pörtner
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