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Re: [ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute



am 16.07.2001 23:01 Uhr schrieb KXX4493553 aol.com unter KXX4493553 aol.com:

Nun das musst dir so vorstellen: in den ersten drei Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts  (grob gesagt) entwarfen KünstlerInnen neue Verfahren und neue
Techniken in der ästhetischen Darstellung. Z. B. künstliche Sprachen (s.
Chlebnikow). Die damals noch jungen Wissenschaften Linguistik und Semiotik
griffen das auf, formalisierten und mathematisierten die Verfahren. In der
Musik war's eher umgekehrt, dort griffen Komponisten mathematische Verfahren
auf (z. B. die Zwölftontechnik Schoenbergs, der vor ein paar Tagen seinen 50.
Todestag "beging", oder die serielle Musik als Weiterentwicklung der
Zwölftontechnik nach dem 2. Weltkrieg; Parallelen zur fordistischen
Fließbandproduktion sind da mehr als augenfällig).

Hallo Kurt-Werner,
ich habe einigermaßen herumüberlegt, ob eine Antwort auf eine Bemerkung bei
der sich mir die Nackenhaare sträuben, mehr als einen ästhetischen Streit
hervorrufen und damit dieser Liste irgendeinen Beitrag leisten könnte.
Vielleicht ja doch. Ich bitte um etwas Geduld, wenn ich weiter aushole.
Also zur Zwölftönerei: das ist sicherlich kein mathematisches Verfahren,
allerdings durchaus eine Formalisierung. Eine Formalisierung jedoch, die
ihre Grundlage in geschichtlicher Erfahrung hat, ist also z.B. keine
Kunstsprache, sondern die methodisch angewandte Erkennntnis bestimmter
Materialtendenzen. Das ist mit fordistischer Produktionsweise
durchaus vergleichbar, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied:
Schönberg bestimmte diese Technik lediglich als ein Verfahren der
Materialdisposition, die dem eigentlichen Kompositionsakt vorgeschaltet ist.
Pointiert und durchaus zutreffend könnte man also sagen, daß die Komposition
die Rationalität des Dispositionsverfahrens plausibel zu machen hat. Es ist
keinesfalls so gedacht, daß die bloße Verwendung dieser Technik schon
musikalisch Sinn machen würde. Genausowenig wie jemand auf die Idee kommen
würde, daß die bloße Verwendung von Dreiklängen und Tonleitern schon ein
tonale Komposition ergäbe (nur neotonale Vollidioten wie Philip Glass
glauben das). Warum dann überhaupt diese Rationalität? Das kann jeder
leicht nachvollziehen, der sich selbst einmal mit freier Komposition
versucht hat und wo sich dann regelmäßig herausstellt, daß die Komposition
alles andere als frei ist, sondern voller historischer Klischees steckt.
Besonders auffällig ist dies beim Improvisieren, wo angestrebte Atonalität
meist irgendwie auf einen Walkürenritt in Clustern hinausläuft.
Hier tritt das Verfahren in seiner Negativität hervor, indem es
unreflektierten Rückfällen einen Riegel vorschiebt. Was die Methode positiv
leisten kann erschließt sich allerdings nur demjenigen, der die historischen
Tendenzen, die zu diesem Verfahren führten, ergriffen, als Komponist
verinnerlicht hat, nicht demjenigen, der das Verfahren nur äußerlich
anwendet. Während in der fordistischen Produktion der Geist nur in der
Planung sich manifestiert, aus dem Produktionsprozeß selbst aber
ausgetrieben ist -und dies als VORAUSSETZUNG rationaler, massenhafter
Produktion- hat der Zwölftöner die Ebenen der Planung und Produktion
reflektiered zu vermitteln -und das gerät ihm zur Voraussetzung spärlicher
Produktion, die schon allein deswegen mit den Erfordernissen der
Kulturindustrie nicht mehr kompatibel genacht werden kann.
Was historisch dann passierte, ist allerdings genau das, daß die reflektive
Ebene weggeschlagen und Zwölftontechnik zu einem blinden Kompositions-
surrogat wurde, was Adorno in seiner "Philosophie der neuen Musik" ja
ausgiebig gegeißelt hat. Allerdings hat er sehr zu Unrecht die Ursache
in der Methode selbst finden wollen. Es war vielmehr so, daß die
künstlerischen Produktivkräfte der Technik nicht gewachsen waren; kaum
jemand als Schönberg selbst beherrschte das Verfahren so, daß sich ein
wirkliches Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer Subjektivität und
Materialwiderstand entfalten konnte, die meisten blieben entweder stumme
Knechte des Verfahrens, oder wurden zu Despoten des Materials. Da war die
"Weiterentwicklung" der Technik zur Serialität nur logisch, wo nun in der
Tat die Trennung von Planung und Produktion vollzogen wird: sind die
Parameter ersteinmal definiert, dann muß die Komposition nur noch abgespult
werden. Das Resultat ist ein akustisches Chaos, das vorgibt streng
determinierte Ordnung zu sein.

Sollten sich da eventuell Parallelen zur (freien)Softwareproduktion
herausstellen? Ist es nicht so, daß Programmierer wie die Irren Anwendungen
entwickeln, die sie selbst nicht sinnvoll anzuwenden wissen? Oft erscheint
es ja auch so, als würden die raffiniertesten Programme letztendlich in
irgendwelchen albernen Computerspielen kulminieren und vielfach stehen auf
der Anwenderseite die schnellsten und leistungsfähigsten Rechner in den
Kinderzimmern. Naja, auf jeden Fall scheint mir das reflexive Moment noch
nicht in adäquatem Verhältnis zu den Möglichkeiten zu stehen; womit wieder
einmal erwiesen wäre, daß die Entwicklung der Produktivkräfte allein noch
keine neue Gesellschaft hervorbringt. Allerdings und das kann das Beispiel
aus der Musik verdeutlichen, gibt es auch keinen Fortschritt ohne die
Entfaltung der Produktivkräfte.

JohSt


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