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[ox] Re: Gewaltformen und noch mehr Beispiele...



Hallo Casimir,

Casimir Purzelbaum schrieb am 26.8.:
Danke für Deine Antworten! Ich muß 'zugeben', daß ich viel daraus
gelernt habe, obwohl Du mich nicht überzeugt hast...

Lies mal weiter, vielleicht klappt's ja diesmal.  ;-)


Die Einschätzungen, die Du hier dem Urteil zugrunde legst, ob
etwas als Gewalt eingestuft werden kann oder nicht, scheinen mir
äußerst subjektiv.
Da Du im Moment den Maßstab bestimmst, muß ich
fragen, wer oder was Dich authorisiert, dies zu tun. Was mich
daran stört ist, daß Dein Urteil, welches zweifellos von der
heutigen Zeit und Deinem Leben in Westeuropa geprägt ist,
herangezogen wird, um Vorgänge in der menschenlosen Natur, in
anderen Gesellschaften oder anderen Zeitepochen zu
beurteilen.

Siehe dazu meinen vorangegangenen Beitrag (Stichwort "5000 Jahre").


Du bringst ja selbst Beispiele, wo bei gleicher "Gewalt"
unterschiedlicher Schaden ausgeübt wird. Man könnte diese
Beispiele (als geschulter Krimi-Konsument) auch so hindrehen, daß
im einen oder anderen Fall von "Gewalt"-Anwendung gar kein
Schaden mehr zugefügt wird, sondern im Endeffekt ein Nutzen
entsteht: z.B. beim Serien-Einbrecher -- sagen wir, er bestielt
einen reichen alten Herren, welchen seine junge Ehe-Frau sowieso
gerade umbringen wollte um dieses oder jenes Erbstückes
willen... -- nun, da die Erbstücke wohlbehalten von unserem
Serien-Einbrecher entwendet wurden, kommt unser reiches Alterchen
mit dem Leben davon und hat also ganz den Nutzen auf seiner
Seite... -- Ist nun also die Gewalt des Einbruchs und des
Diebstahls keine Gewalt mehr? -- nur wegen dem Hintergrund einer
anderen drohenden Gefahr?

Ich hatte ja geschrieben, dass "Gewalt" und "Schaden" _nicht_
synonym sind, sondern der jeweilige Schaden von der viktimologischen
Prädisposition der Opfer abhängt.  Dein Krimi-Beispiel ist allerdings
allzu weit hergeholt:  Zum Zeitpunkt des Diebstahls _schädigt_ der
Diebstahl natürlich das Opfer -- der Einbrecher wusste ja auch nichts
vom Mordplan der Ehefrau.  Eine Tat kann immer nur zum Zeitpunkt der
Begehung beurteilt werden -- hellseherische Kräfte gibt's ja nicht.

Die Tat später dann rückwirkend "UMzubeurteilen", ist ohnehin nicht
sinnvoll/möglich:  Noch später könnte ja der Dieb gefasst und die
Erbstücke zurückgegeben werden, woraufhin der Plan der Ehefrau dann
doch noch zur Ausführung kommt.  Wie auch immer:  Wenn "das Alterchen"
so ein VP (viktimologisch Prädisponierter) ist, dass sogar seine
Ehefrau ihn umbringen will, dann sind seine Tage ja eh gezählt...
Hier könnte "Bewusstmachung" echt helfen...


-- und wie ist es beim Sonnenbad? -- die einen haben den Schaden,
die anderen nicht; die gleich Sonne übt also am selben Strand auf
die einen  Gewalt aus, während die anderen zwar genauso
beschienen, aber von der Gewalt verschont werden???

Auch hier gilt: Der jeweilige Schaden hängt von der viktimologischen
Prädisposition der Opfer ab.  Und wie ich am 24.8. erwähnte: Wenn die
unbelebte Natur (hier: Sonne) auf der "Täter"seite ist, entscheidet die
_belebte_ Natur darüber, wer das Opfer ist (und wie stark es geschädigt
wird).  Im obigen Beispiel schädigen sich die Sonnenbadenden selbst,
indem sie sich unbedacht der Sonne aussetzen.  Wie stark der Schaden
ist, entscheidet dabei auch jeder selber, denn er weiss/sieht ja, wie
empfindlich er auf Sonne reagiert.  Du hast richtig beobachtet, dass
VPs eher zum Sonnenbrutzeln neigen.  Warum?  Weil ihnen der Eindruck,
den sie bei Anderen hinterlassen ("coole" Bräunung), wichtiger als
ihre Gesundheit ist.  Hier könnte "Bewusstmachung" echt helfen...


Des weiteren verhindert (in meinem gegenwärtigen Verständnis) das
Schadenskriterium eine eindeutige Anwendbarkeit des
Gewaltbegriffes, wenn das Subjekt des Schadens nicht eindeutig
feststellbar ist: Ein Kloster, das die Wissenschaft pflegt, aber
das Volk verdummt, gleichzeitig auch noch die Bauern auf den
umliegenden Länderein aussaugt, wird im Zuge der Politik eines
aufklärerischen Kaisers aufgelöst. Gewalt -- ja oder nein?

Die Frage ist eher "Gewalt -- gegen wen, wieviel?" als "Gewalt -- ja
oder nein?".
Gegen die Kloster-Leute ist die Auflösung des Klosters Gewalt, denn
ihnen wird kollektiv geschadet, indem ihre Macht weggenommen wird.
Gegen die Bauern ist jede Art von Unterdrückung Gewalt -- ob die neue
Art (Kaiser) mehr oder weniger Gewalt ist als die alte Art (Kloster),
das hängt natürlich von den Methoden des Kaisers ab.


Die Mönche mögen nicht mehr systematisch verdummt werden, aber
gleichzeit wird ihnen die Lebensgrundlage entzogen...

Dies ist wieder ein schönes Beispiel, wie dieselbe kollektive Gewalt
(Auflösung des Klosters) unterschiedliche individuelle Schädigungen
der Opfer bewirkt (je nach viktimologischer Prädisposition):  Einige
werden "draussen" (oder in anderen Klöstern) bessere Lebensgrundlagen
finden, die meisten aber schlechtere.

Wie bzw. warum es zur Auflösung des Klosters kam, muss man sowieso im
Gesamtkontext betrachten -- das ist kein Zufall, sondern lag wohl an
einer Schwäche der Kirchenvertreter in jener Region oder am Zustand
der Kirche insgesamt.  Viktimologisch immunere (VI) Individuen werden
diese Entwicklung rechtzeitig erkannt haben, und sich in andere Klöster
abgesetzt haben.  Nur ein VP-Kloster wird überhaupt geschlossen.


Die Bauern
werden sich bedanken, sofern sie eine Erleichterung zu spüren
bekommen, sie werden vielleicht auch ein bischen weniger verdummt
aus vorher (wenn auch immer noch gerade genug, um das nun neue
System am Laufen zu halten), sie müssen aber auch auf einige
soziale Funktionen verzichten, die das Kloster erfüllt hat,
bspw. daß die Leute, die sonst immer ins Kloster geschickt
wurden, dort keinen Unterschlupf mehr finden können (Zunahme von
Bettlern, Räubern, Kranken etc.), kein Ort des Glaubens und der
Wissenschaft mehr in der Nähe usw. ... Wer kann hier Schaden
gegen Schaden, Nutzen gegen Nutzen aufwiegen etc?

Die Analyse der einzelnen Interaktionen und Auswirkungen ist tatsächlich
kompliziert, aber sie wiederspiegelt lediglich die Komplexität der realen
Welt.


Ich glaube, daß diese Art von Relativismus zu unendlichen
Verschiebungen von Ursachen und damit Bewertungen führt. Und
dadurch verliert der Begriff (Gewalt) in meinen Augen seine
Anwendbarkeit und also seinen Sinn.

Wäre eine vereinfachende Darstellung besser ?  Wie sähe sie aus ?
Wie definierst Du Gewalt, um die reale Komplexität zu vermeiden ?
Beachte, dass (über)vereinfachende Modelle der Realität zu falschen
Ergebnissen führen.


Außerdem kann ich Dir nicht folgen, daß alles Gewalt sei, was
Schaden zufügt... Mein von der Umgangssprache geprägtes
Verständnis macht da einfach einen Unterschied zwischen List und
Gewalt, zwischen Verführen und Vergewaltigen, zwischen Vergiften
und Erschlagen.

Natürlich gibt es quantitative und qualitative Abstufungen von Gewalt.
Die Umgangssprache neigt dazu, nur physische, direkte Gewalt als Gewalt
zu bezeichnen -- das greift aber zu kurz, denn gerade in unseren modernen,
"zivilisierten" Gesellschaften ist die physische, direkte Gewalt nur ein
kleiner Teil -- quasi die "Spitze des Eisbergs" -- der Gesamtgewalt.


Man kann, in meinem Verständnis, Opfer einer Intrige werden,
deren ganzer Zweck es gerade ist, die Täter ohne Gewalt zum Ziel
                                              ^^^^^^^^^^^
Du meinst "ohne _physische_ Gewalt", also wieder den umgangssprachlichen
Begriff.  Eine Intrige ist aber psychische Gewalt, also auch Gewalt.
Psychische Gewalt kann sogar viel schlimmer sein als physische Gewalt.
Eine Intrige oder Beleidigung oder Geiselnahme, die dem Opfer physisch
kein Haar krümmt, kann das Opfer viel stärker schädigen (bis zum
Selbstmord) als ein Tritt ans Schienbein.  Anderes Beispiel: In der
Erziehung emfinden manche Kinder eine Ohrfeige als _weniger_ schwere
Strafe, als wenn der Vati einen Tag lang nicht mit ihnen redet...

In den USA müssen manche Delinquenten entsprechende "Warnschilder"
an ihre Türen und Häuser anbringen -- damit krümmt ihnen der Richter
kein Haar, aber manche haben sich vor Scham umgebracht... aber bei
Dir ist das trotzdem keine Gewalt seitens der Richter...


zu führen. Ist diese Unterscheidung in Deinen Augen müßig?

Nein, diese Unterscheidung erfolgt bei mir implizit durch das Ausmass
der Schädigung -- die hängt durchaus von der "Wahl der Mittel" ab.

Mal umgekehrt gefragt:  Würdest Du psychische Gewalt _nicht_ als
Gewalt definieren ?  Das wäre eine Verharmlosung, denn diese kann
wie gesagt _schlimmere_ Schädigungen bewirken als physische Gewalt,
und bildet den Hauptteil der heute vorkommenden Gewalt.


Hältst Du es für überflüssig, Gewalt von anderen Formen des Zwangs
bzw. Schädigens abzugrenzen?

Welche anderen Formen gibt es denn da noch, wenn man Gewalt nicht nur
eng als physische, unmittelbare Gewalt definiert ?  Dazu weiter unten...

---

Casimir Purzelbaum schrieb am 27.8.:
Wo ist hier das Problem?

Das Problem ist (in my humble op...), daß Gewalt hier als der
Inhalt verstanden wird und als solcher durchaus in verschiedenen
Gewändern (Formen) daher kommen könnte. Mir scheint es aber
naheliegender, Gewalt selbst als eine Form (der
Auseinandersetzung / Beziehung / Wechselwirkung oder so) zu
betrachten, in welchem Falle sie nicht in einer anderen Form
erscheinen kann, auch nicht der der Radioaktivität. Der Inhalt
der Gewalt ist bspw. die Ausübung von Zwang, Herrschaft,
Zerstörung, Unterwerfung, Ausbeutung usw. Gewalt ist die Form von
all diesem. Genauer, sie ist *eine* Form von all diesem, DENN
neben der gewaltsamen Form können all diese Beziehungen auch
anders durchgesetzt werden.

Genauer: _Physische_ Gewalt ist *eine* Form von all diesem, _psychische_
Gewalt ist eine *andere* Form von all diesem.

Mein Fischer-Lexikon definiert Gewalt (im soziologischen Sinne) als
"Ausübung von Macht durch Anwendung von Zwangsmitteln".  Also: Gewalt
_ist_ "die Ausübung....";  die _Form_ ist physisch oder nicht-physisch
(psychisch).


Ich kann einen Wächter K.O. schlagen oder ihn in den Schlaf
singen. Und in beiden Fällen habe ich ihn meinem Willen
unterworfen ("in die Knie gezwungen" sozusagen), aber nur in einem
Falle habe ich es gewaltsam getan.

Im ersten Fall ist der Schaden für das Opfer = den Wächter grösser, weil
er dabei verletzt wird (mit evtl. bleibenden Schäden, zumindest psychischen
in Form einer Traumatisierung).
Diese erste Variante ist also (auch nach meiner Definition) gewaltsamER
als die zweite (singen).  Aber auch die zweite Variante ist gewaltsam,
denn Du schädigst den Wächter bereits dadurch, dass Du seinen Job
vereitelst  (mit absehbaren Folgen seitens des Arbeitgebers).

Dies zeigt den Fehler Deiner Definition (Gewalt ist nur physische Gewalt):
Du tust so, als ob die Absenz von physischer Gewalt identisch wäre mit der
Absenz von Gewalt.  Das verharmlost aber die nicht-physische / strukturelle
Gewalt  (definiert sie einfach weg) -- nützt also den Herrschenden.
Deshalb bin ich gegen diese (Über-)Vereinfachung.

Ein ganzheitliches Gewaltmodell muss die nicht-physische Gewalt beinhalten.
Die Frage ist nicht "Gewalt -- ja oder nein", sondern "wieviel Gewalt,
gegen wen?".  Wir können Gewalt nicht abschaffen, nur versuchen zu
minimieren -- qualitativ und quantitativ.  Genau dies ist letztlich
der Zweck der IAC-Theorie.  Dabei können wir die nicht-physische Gewalt
nicht einfach ausklammern -- sie ist zu bedeutend in der Gesellschaft.

Grüsse,
Christoph


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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