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Re: [ox] Re: Arbeit, Produktion, Wert?



Hallo Ralf,

Ralf Krämer schrieb:

Hallo Ingo,

Aber in Bezug auf die Psyche des Menschen bin ich mir sicher, dass das
psychische Verhalten des Menschen nicht berechenbar ist, von einer
Ausnahme vielleicht abgesehen, wenn die Person vollständig abhängig ist
(also ein Zombie).

Wie gesagt ist m.E. vollständige Berechenbarkeit des Arbeitsgegenstands kein Kriterium für > Arbeit, in der Praxis nie gewesen und auch wissenschaftlich sehen das nur wenige so.

Ich muß jetzt hier etwas weiter ausholen.
Berechenbarkeit:
1. Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Bertelsmann Lexikon-Verlag, 1968
	berechenbar: so beschaffen, dass man es berechnen, voraussehen kann. 
	berechnen: ausrechnen (Kosten, Preis, Zinsen); genau überlegen,
erwägen, 		berücksichtigen; kalkulieren;  etc.
2. Hans Hermes, Aufzählbarkeit, Entscheidbarkeit, Berechenbarkeit,
Heidelberger Taschenbücher,    Sammlung Informatik, Springer-Verlag,
Berlin Heidelberg New York, 1978, Dritte Auflage:
	1. Berechenbare Funktionen. In der Mathematik treten häufig Funktionen
auf, zu denen 	es einen abbrechenden Algorithmus gibt, welcher bei
beliebigen vorgegebenen Argumenten 	den Funktionswert liefert. Derartige
Funktionen nennt man _berechenbare Funktionen_. 	(S.9)
Die Umgandssprache sieht es kaufmännisch, die Informatik
mathematisch-logisch. Bei der Arbeit geht es aber physikalisch,
chemisch, biologisch zu (bei Dir nicht nur, aber auch). Daher die Sicht
eines Physikochemikers und einer Wissenschaftsphilosophin:
3. Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: Das Paradox der Zeit. Zeit, Chaos
und Quanten, Piper    München Zürich, 1993
	3. Das Poincare-Theorem: integrable und nichtintegrable dynamische
Systeme
	Wir kommen nun zu einem Eckpfeiler der modernen Dynamik, der
Unterscheidung zwischen 	integrablen und nichtintegrablen Systemen. (S.
160)

Hier bedeutet integrabel berechenbar, nichtintegrabel nichtberechenbar.
Die nichtintegrablen Systeme sich die chaotischen Systeme, für welche
die Vorhersagbarkeit des Verhaltens verloren geht.
Nun ist es klar, dass auch integrable physikalische Systeme sich nicht
im mathematische Sinne identisch verhalten. Möglicherweise ist das die
Differenz deiner Auffassung gegen meine. Aber 
ich bin gar nicht der Auffassung, dass sich solche physikalischen
Systeme, welche integrabel ('berechenbar') sind, dies im Sinne der
Mathematik wären. Aber für den kapitalistischen Produktionsprozess sind
sie hinreichend berechenbar. Daher auch Qualitätskontrolle, etc. Das ist
nicht das Problem.
Aber chaotische Systeme haben keinen Platz in einem kapitalistischen
Produktionsprozeß.
Zusammenfassend meine ich: Was Marx Planbarkeit genannt hat, ist für
mich die Integrabilität dynamischer Systeme nach Prigogine.
	http://www.gerling-academy-press.com/books/stengers.htm
	http://order.ph.utexas.edu/people/Prigogine.htm

Berechenbarkeit als Kriterium für Arbeit:
Ich zitiere nochmals Marx:
--- Zitat Anfang ---
Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn
desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell
vorhanden war.
--- Zitat Ende --- (MEW, Bd. 23, S. 192/193)

Für mich steht hier fest, dass diese Vorstellung von Marx mit allen 3
obigen Auffassungen von Berechenbarkeit in Übereinstimmung steht.

Wissenschaftlich sehen das nur wenige so:

In meiner mail vom 'Mon, 08 Oct 2001 23:08:46 +0200' habe ich schon
einmal darauf hingewiesen, dass die Quantität der Anhänger einer
Auffassung nichts über die Richtigkeit bzw. Adäquatheit einer Theorie
(bzw. eines Begriffes) aussagt. Du hast Dich jetzt hier wiederholt.
Damit ich verstehen kann, warum du das meinst, mußt Du mir zusätzliche
Informationen zukommen lassen. 

Und anderseits beruht z.B. eben auch pädagogische Arbeit auf Kenntnissen über Strukturen des Lernverhaltens von SchülerInnen 

Das ist unbestreitbar. Es ist sogar sehr wichtig für LehrerInnen, diese
Strukturen zu kennen. Ich bin aber zutiefst davon überzeugt, dass diese
Strukturen mit Sicherheit mindestens so komplex sind, wie die von
Prigogine genannten nichtintegrablen physikalischen Systeme. Das
bedeutet, dass ihr Verhalten nicht berechenbar, also nicht vorhersagbar
ist. Die Aufgabe besteht also darin, einen Möglichkeitsspielraum an
Alternativen zu entwickeln, um auf möglichst viele Reaktionen adäquat
eingehen zu können. Das ist in analoger Weise vergleichbar mit einem
Schachspiel, wobei dies mit Sicherheit nicht so komplex ist wie
zwischenmenschliche Kommunikation im Bereich der schulischen
Unterrichtssituation. Und damit sind wir wieder dabei festzustellen,
dass Unterrichten im obigen Sinne nicht planbar ist, was nicht heißt,
dass der Lehrer sich nicht vorbereiten muß.
Aber ich muß in der Unterrichtssituation eben auch auf Reaktionen
eingehen, die ich vorher noch nicht überlegt habe. Da fängt dann die
wirkliche 'Arbeit' (Tätigkeit) des Lehrers an.

sowie über die Struktur der Lerninhalte.

Die Struktur der Lerninhalte hat mit der Struktur der Psyche der
Lernenden primär nichts zu tun (Dass alles mit allem zusammenhängt, ist
mir klar). Die logische und systematische Struktur eines
Sachzusammenhangs ist völlig verschieden davon, wie ein Individuum sich
diesen Sachverhalt aneignet. Und es ist so, dass das verschiedene
Individuen auch jeweils anders tun. Dies hat etwas mit der
unterschiedlichen Biographie dieser Induvidien zu tun.
Marx hat in 'Grundrisse der Kritk der politischen Ökonomie', Europäische
Verlagssanstalt Frankfurt, Europa Verlag Wien, (keine Jahresangabe
verfügbar), inzwischen auch als blauer Band erhältlich, diese
Problematik auf der Ebene der Politischen Ökonomie dargestellt:
--- Zitat Anfang ---
	3) DIE METHODE DER POLITISCHEN ÖKONOMIE
Wenn wir ein gegebnes Land ... 5) Der Weltmarkt und die Krisen.
--- Zitat Ende --- (S. 21 bis S. 29)


Es ist ja nicht so, dass das Studium der Pädagogik und Didaktik nur veranstaltet wird, um hinterher mit den Abschlüssen Einkommensansprüche als qualifizierte Beschäftigte legitimieren zu können. Und dass Unterrichtsvorbereitung nur gemacht wird, weil LehrerInnen sonst nichts zu tun hätten.


Darüber müssen wir uns doch nicht streiten.
 
und auch Marx selbst hatte offenbar einen weiteren Begriff als du.

Wieso soll dies offenbar sein? Wir beide haben als Vorraussetzung nur
den Text von Marx, du kannst dich sowenig wie ich auf die Person selbst
berufen. Und ich muß sagen, dass es für mich eben nicht 'offenbar' ist,
dass Marx so gemeint hat wie du es meinst. Hier müssen schon Argumente
auf den Tisch.


Du hast ja selbst Textstellen zitiert, in denen Marx von einem weiteren Arbeitsbegrff als nur materielle Produktion ausgeht, nur dass du ihn da so interpretierst, als kenne er seinen eigenen Arbeitsbegriff nicht und bezeichne z.B. Lehrtätigkeit deswegen als Arbeit, weil er sie auf Naturstoffumwandlung reduziere.

Ja, das habe ich ja als Konkretionsreduktionismus bezeichnet. An der
Stelle , an der Marx den Begriff der Arbeit _explizit_ definiert (Biene
- Baumeister), hat er sich den Sachverhalt genau überlegt und ich finde
nichts, was meinen ganzen Vorstellungen, die ich habe, irgendwie
widerspricht. Insofern beziehe ich mich auf diese Auffassung von Marx.
Eine kleine Modifikation ausgenommen. Nämlich das, was Prigogine in der
Phasik/Chemie an neuem zur Newtonschen Auffassung, welche ja Marx als
Grundlage diente, hinzugefügt hat.
Die Stellen, an welchen Marx die Tätigkeit des Lehrers als Arbeit
bezeichnet, halte ich für konkretionsreduktionistisch. 
Die beiden Auffassungen von Marx widersprechen sich. An denjenigen
Stellen, an welchen Marx von Arbeit spricht (Lehrertätikeit,
Pfaffentätigkeit, etc.), hat er nicht den Arbeitsbegriff explizit
erklärt. 
Hier besteht ein Unterschied. 
Du kannst natürlich die Stelle, wo er die Lehrertätigkeit als Arbeit
bezeichnet, als Definition der Arbeit ansehen (im mathematische Sinne).
Aber es ist nur eine implizite Definition. Die Definition (Biene -
Baumeister) ist dagegen eine explizite Definition, das heißt auf jeden
Fall eine mit Bewußtheit vorgenommene. Ich tendiere daher dazu, dass er
diese auch wirklich als gültige gemeint hat.

Ich finde diese Interpretation gelinde gesagt nicht nachvollziehbar, zumal wie ich schon anführte, auch im Kapital, etwa MEW 23, S. 531f., Marx explizit deutlich macht, dass er nicht nur materielle Produktionstätigkeit als Arbeit begreift,ondern jeden Teil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit.

Habe ich das irgendwo bestritten? Ein ganz essentieller Teil der Arbeit
ist doch gerade die Planung, und diese ist doch geistige Tätigkeit. Ich
kann nicht erkennen, wo dein Problem liegt. Was ich mit Marx behaupte,
ist dies, dass sich diese Planung darauf bezieht, dass es darum geht,
einen _Naturstoff_ nach den menschlichen Bedürfnissen zu formen. Das
materielle bezieht sich lediglich auf den Gegenstand der Produktion,
nicht auf die Tätigkeit. Menschliche Tätigkeit ohne den Kopf ist
undenkbar.

 Dagegen sagtest du, das könne "die grundsätzliche Schranke, welche durch die Planbarkeit gesetzt
ist", nicht aufheben. Bloß betrachtet nicht Marx, sondern bloß du diesen völlig verengten Begriff von "Planbarkeit" als "grundsätzliche Schranke", Marx anscheinend gerade nicht. Du magst finden, dass Marx' Begriff da falsch sei, aber deiner ist m.E. offenbar nicht seiner.


Warum denn nicht? Er sagt ganz klar, dass er jeden Teil der
gesellschaftlichen Arbeit als Arbeit betrachte. Also zum Biespiel die
Tätigkeit des Ingenieurs, der den Konstruktionsplan erstellt. Dies ist
Arbeit im Marxschen Sinne, auch wenn der Ingenieur weder Hammer noch
Sichel noch Pflug in die Hand nimmt.
Aber er sagt auch, 

--- Zitat Anfang ---
Die obige ursprüngliche Bestimmung der produktiven Arbeit, aus der Natur
der materiellen Produk- <532> tion selbst abgeleitet, bleibt immer wahr
für den Gesamtarbeiter, als Gesamtheit
betrachtet. Aber sie gilt nicht mehr für jedes seiner Glieder, einzeln
genommen.
--- Zitat Ende --- 

Es muß also nicht jeder Arbeiter einen Hammer in die Hand nehmen und
nicht jeder Arbeiter einen Plan erstellen (d. h. Ingenieur sein).


Freundliche Grüße

Ralf Krämer

Gruß Ingo.
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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