[ox] Fetisch (was: Re: Die unsichtbare Flosse der Freien Software)
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Wed, 05 Dec 2001 15:50:45 +0100 (CET)
Hi Petra und Liste,
meine Antwort wird etwas umfassender und arg theoretisch. Vielleicht am Rande
zum off-topic, die Übergänge sind halt fliessend. Das Subject habe ich zur
Kennzeichnung umgewandelt.
Zitiere RAUNHAAR aol.com:
Das Problem ist nicht die Tatsache, dass sich die
Vergesellschaftung hinter unserem Rücken vollzieht und damit
unsichtbar ist. Das Problem ist, dass es sich dabei nicht um
einen personalen Zusammensammenhang handelt, der dann auch
interventionsfähig ist (wie die FS), sondern um einen
sachlichen (abstrakten, nämlich den von Tauschwerten), der
fast nicht interventionsfähig ist. "Fast" deswegen, weil es
natürlich hier und da was zu "regulieren" gibt, aber der
Grundcharakter, nämlich das sich das Zusammenleben der
Menschen nach der Bewegung von Sachen (Waren/Werten) richtet,
kann nicht angetastet werden.
Das hört sich aber so an, als würdest Du lediglich die Aufhebung des
versachlichten Fetisch advozieren und diesen durch einen möglichst
"emanzipatorischen" persönlichen Fetish ersetzen wollen. Kann ja sein,
daß ich Dich hier mißverstehe,
Nun habe ich ja nicht von einem neuen Fetisch geschrieben, obwohl ich darüber
nachdachte, ob man für die Übergangszeit nicht doch so eine Art
"Entwöhnungsfetisch" bräuchte. Deswegen ja mein Vorschlag, die Börse doch nach
der Aufhebung von Ware/Geld/Staat einfach weiterbestehen zu lassen. Als
Simulationsspiel eben. Ok, mal das augenzwinkernde Kokettieren beiseite gelassen
zu deiner IMHO theoretisch spannenden Frage: Was heisst eigentlich Aufhebung,
geht's auch etwas genauer? Braucht's einen Fetisch, damit Vergesellschaftung
funktioniert?
IMHO kann die Fetisch-Denke, die uns Marx lehrte, nämlich dass sich in der
warenproduzierenden Gesellschaft der gesellschaftliche Zusammenhang als
Zusammenhang von Sachen hinter unserem Rücken herstellt, zu einer Reihe
fragwürdiger Verallgemeinerungen verführen, mal zwei herausgegriffen:
(1) Die Geschichte ist die Geschichte von Fetischverhältnissen
(2) Die Gesellschaft ist das "naturale Soziale", der Fetisch das "entfremdende
Falsche".
Die Aussage (1) ist phänomenologisch sicher ok, genauso ok, wie die Urfassung
"Die Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen". Beides hat's in der
Geschichte gegeben, also stimmt's irgendwie. Aber die Aussage behauptet ja, das
_Wesen_ von Gesellschaftsgeschichte zu erfassen, und das leisten IMHO beide
Aussagen nicht.
Die Fetischthese, die ja IIRC von Krisis stammt (oder älter?), macht etwas, was
Krisis sonst vehement kritisiert: Sie ontologisiert eine Erscheinung der
bürgerlichen Gesellschaft. Da, wo die Menschen nicht über ihre eigenen
Angelegenheiten herrschen, sondern "beherrscht" werden und diese Herrschaft auch
noch aktiv reproduzieren (und das haben sie noch immer getan), muss ein Fetisch
zu Gange sein. Sonst würden sie sich das ja nicht gefallen lassen. Tun sie aber
offensichtlich doch.
Wenn ich das so denke, dann kann die erwünschte "Aufhebung" in der Tat nur als
eine Serie einfacher Negationen verstanden werden mit dem Kern: kein Fetisch
mehr. Ich bekomme dann aber das gleiche Problem, das Robert Kurz in dem Artikel
"Antiökonomie und Antipolitik" dem Arbeiterbewegungsmarxismus vorgeworfen hat:
Die Frage der Vermittlungsschritte, der _Keimformen_ des Neuen kann nicht
beantwortet werden. Denn was man vorher "ontologisiert" (zur Seinsbestimmung des
Menschen erklärt) hat, wird man dann auch nicht mehr los - ausser eben über
diese ziemlich unvermittelte Vorstellung der Negation alles Vorherigen.
Die Aussage (2) hingegen trennt sozusagen Soziales und Fetisch. Der Fetisch ist
eine Art "AddOn", das man nur loswerden müsse. Dahinter steckt die Vorstellung,
die Gesellschaft konstituiere sich "eigentlich" aus den sozialen Absprachen der
Menschen; der jeweilige Fetisch herrscht dieser Struktur dann eine je besondere
Überformung auf (die Blutsbande, der Warenfetisch). Wenn der Fetisch aber quasi
"Überbau" ist, muss man erklären, wo er herkommt. Und da bleibt dann eigentlich
nur die Ideologie: die Religion oder die bürgerliche Philosophie. Diesen Hang
der (vereinseitigenden) Erklärung hat vor allem das "Schwarzbuch Kapitalismus"
(das ich ansonsten, lese ich es "nur" als Ideologie- und Phänomengeschichte des
Kapitalismus, für sehr gut halte).
Das war jetzt eine sehr grobe Skizze, ich lasse mich gerne eines Besseren
belehren. Aber davon gehe ich erstmal aus und komme zu dem Schluss: Beides
Formen der Fetischverallgemeinerung haben keinen angemessenen Begriff von
Gesellschaft. Während die "Wesensthese" (1) Gesellschaft und Vergesellschaftung
_mit_ dem Fetisch erklärt, hat die "AddOn-These" (2) eine Vorstellung vom
"eigentlich Sozialen" des Menschen (in dem Zushg. würde mich interessieren, was
genau mit "erster Natur" gemeint ist, wenn der Fetisch als "zweite Natur"
gegeisselt wird), deren Summe quasi Gesellschaft ergebe.
Meine Auffassung habe ich thesenartig im Dschungel-Aufsatz
(http://www.opentheory.org/dschungel) aufgeschrieben. Das Wesentliche daraus für
den Kontext hier ist: Gesellschaft ist stets ein sich eigenlogisch selbst
reproduzierender Zusammenhang, der sich unabhängig von konkreten Einzelnen
herstellt. Da muss nicht erst eine Blutsideologie oder die unsichtbare Markthand
kommen, die den Zusammenhang herstellt, sondern das ist sowieso immer so. Die
Frage kann nun anders, IMHO angemessener gestellt werden: In welcher _Form_
stellt sich der Zusammenhang her, wie ist die Eigenlogik beschaffen? Dabei ist
der Waren-Fetisch nur eine mögliche Form, es kann selbstredend auch
nichtfetischistische Formen geben.
Meine Antwort auf deine Frage (puh, endlich...) ist also: Nee, ich meine keinen
"persönlichen" Fetisch, sondern gar keinen Fetisch. Dennoch ist klar, das auch
eine freie Gesellschaft eine Eigenlogik hat. Die Knackfrage ist: Wie ist diese
Eigenlogik beschaffen?
Meine Anmerkungen zu Horst meine ich so wie dort geschrieben: Auch in einer
freien Gesellschaft stellt sich der gesellschaftliche Zusammenhang "hinter
unserem Rücken" her. Diese Tatsache mit "Fetisch" zu identifizieren, greift zu
kurz. Das Fetischartige ist doch nicht die "Unsichtbarkeit" der Herstellung des
gesellschaftlichen Zusammenhangs, sondern die Tatsache, dass sich diese Logik
gegen die Bedürfnisse der Menschen verselbstständigt durchsetzt. Oder anders
formuliert: Es gibt immer ein "Drittes" ausserhalb der Menschen - mit Christoph
Spehr formuliert: ein alienistisches Programm -, das die Regel setzt, nach denen
wir leben.
Worauf es "nur" ankommt, ist, die Regeln selbst zu setzen, also nach eigenen
Regeln zu leben, statt nach fremdgesetzten. Darin liegt doch die Bedeutung der
"Entfremdung": gegen meine Bedürfnisse setzen sich selbstständig Dinge durch,
deren Entstehungsbedingungen ich selbst geschaffen habe. Mein Wollen, meine
Bedürfnisse sind Ausgangspunkt eigener Handlungen, deren Resultate und Dynamik
sich stets gegen mich verkehren. Und dagegen kann ich "unmittelbar" nichts
machen, ich kann nicht intervenieren (wie ich oben nannte) und Regeln ändern.
Das wird zunehmend auch als das erfahren, was es ist: verrückt.
aber dann wäre mein, Dein, je Bewußtsein, wiederum nur auf
unmittelbar Ansprechbare (Menschen) reduziert
Ja, aber das ist doch der Witz der "unmittelbaren Gesellschaftlichkeit", die
Marx anspricht: Jede Handlung ist sozusagen "unmittelbar mittelbar", da nicht
von einem "Dritten" geregelt, sondern von je mir. Das Unmittelbare ist in der
gesamtgesellschaftlichen Vermittlung aufgehoben. Wenn du annimmst, das sei eine
"Reduktion" des Bewußtseins, dann ist das von jetzt und hier aus (der
bürgerlichen Gesellschaft) gedacht. Das nämlich setzt genau die
Nichtaufgehobenheit des Einzelnen voraus. Wenn das Unmittelbare immer auch das
vermittelte Ganze ist, dann liegt in der Konzentration auf das Unmittelbare,
oder besser: des Naheliegenden, keine Begrenzung, sondern der ganze Reichtum
menschlicher Gesellschaft.
und da muß halt jede/r so gut klarkommen wie er/sie kann
oder erzwingen kann (vulgo: Spehrsche Kooperation oder "wie
interpretiere ich die gegenwärtigen Verhältnisse so um, daß ich
letztendlich feststelle "alles ist wunderbar" es kommt nur auf
die Sichtweise und den richtigen "Willen" an).
Diese Charakterisierung der FK teile ich nicht - wie bekannt. Meine Position
steht im o.g. "Dschungeltext".
Erklärung erbeten.
Ich hab's versucht, mehr Selbst- als Erklärung.
Ciao,
Stefan
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