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[ox] Notizen zur Selbstentfaltung



Hallo!

Im Rahmen meiner Vorbereitung für das kommende Wochenende in
Kaiserslautern ist der folgende Text hier entstanden. Ich würde mich
freuen, eure Meinung dazu zu hören und ganz besonders würde ich mich
freuen, wenn das noch vor dem Wochenende wäre ;-) Hinterher ist
natürlich auch noch schön.

Grüße, Benni

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                      Notizen zur Selbstentfaltung

Wenn Selbstentfaltung - wie im Oekonux-Projekt üblich, verstanden als
Selbstentfaltung, die die Selbstentfaltung der anderen zur
unmittelbaren Vorraussetzung hat und umgekehrt - von uns zur Basis
einer menschlichen Gesellschaft erhoben wird, macht es Sinn, sich das
mal genauer anzuschauen, was damit gemeint sein könnte und was das für
Auswirkungen hat. Das will ich im Folgenden versuchen.

 Selbstentfaltung und Aufklärung

Aufklärung wurde von Kant bezeichnet als ``die Befreiung des Menschen
aus selbstverschuldeter Unmündigkeit''. Das liesse sich durchaus auch
auf Selbstentfaltung anwenden. Außerdem braucht man für eine
Gesellschaft, die auf Selbstentfaltung basiert, auch keinen Rückgriff
auf Götter, die natürlichen Feinde jeden Aufklärers, ja noch nicht mal
auf Moral, da es - ganz ähnlich wie im Liberalismus - jedes Menschen
Eigennutz ist, seiner Selbstentfaltung zu folgen. Anders als im
Liberalismus wird jedoch die Selbstentfaltung der Anderen für mich
unmittelbar bedeutsam. Zunächst sieht es also so aus, als sei
Selbstentfaltung die Fortführung der Aufklärung.

Doch stimmt das wirklich? Es handelt sich bei Selbstentfaltung ja um
eine Einstellung, die Menschen gegenüber ihren Beziehungen zu anderen
Menschen einnehmen und zwar eine empathische Einstellung. Das
verallgemeinerte Ich versucht in einem wie auch immer gearteten
kommunikativen Prozeß zu erahnen, was denn ein der Selbstentfaltung
des Anderen entsprechendes vorgehen wäre.

In der ``Dialektik der Aufklärung'' bezeichnen Horkheimer und Adorno
Aufklärung meiner Interpretation nach als dem widersprechend, da sie
ein Prozeß der immer größeren Distanz zu den Dingen und letzten Endes
auch zu den Menschen ist: ``Ihr Ideal ist das System, aus dem alles
und jedes folgt.'' Dann verwundert es auch nicht, daß eine aufgeklärte
Gesellschaft eine ist, die auf dem Individuum und seinem Eigennutz
basiert. Dem gegenüber steht der Mythos und die Zauberei., die mit
Nachahmung (Mimesis) sich versucht in das Objekt - ob Mensch, Tier,
Pflanze oder Ding - hineinzuversetzen um so die eigene
Handlungsfähigkeit zu verbessern. Und genau das ist es ja, was
Selbstentfaltung als empathische Praxis versucht.

Ist Selbstentfaltung also eine magische Praxis? Wenn man sich anguckt,
in welchem Kontext das Wort noch gebraucht wird, wird man sehr viele
doch ein wenig esoterisch anmutende Quellen finden. Nach obiger
Erkenntnis wäre das dann ja auch kein Zufall. Fairerweise sollte man
aber erwähnen, dass dort das Wort meist ohne die von uns verwendete
Erklärung auskommt.

Auch das alte christliche ``Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst!''
ist ja nicht so weit entfernt vom Selbstentfaltungsgedanken.

Wie verhält sich also Selbstentfaltung zu Aufklärung und Mythos? Ich
sage es ist ein Versuch Aufklärung weiterzutreiben und dabei deren
Dialektik zu berücksichtigen um den Umschlag in Barbarei, wie er in
der ``Dialektik der Aufklärung'' beschrieben wird, zu verhindern.

 Selbstentfaltung und Spiel

Selbstentfaltung hat für mich etwas spielerisches. Es dürfte Konsens
sein, daß Selbstentfaltung nur bei Freiheit von Zwang zu finden ist.
Auch daß es Spaß macht, sich selbst zu entfalten ist wohl eher ein
Allgemeinplatz. Identifikation z.B. mit einem Projekt und das
gemeinsame handeln kommen dazu. Das alles sind Momente von
Selbstentfaltung die man auch in Spielen findet.

Jetzt zu den wahrscheinlich mehr kontroversen Punkten:

Selbstentfaltung bedeutet nicht Abwesenheit von Konkurrenz.
Kooperation und Konkurrenz stehen immer in einem dialektischen
Verhältnis zueinander, sie bedingen sich gegenseitig, obwohl sie sich
auszuschliessen scheinen. Man kann nicht konkurrieren, wenn man sich
nicht wenigstens vorher darüber geeinigt hat, worum konkurriert wird
und man kann nicht kooperieren, wenn man nicht prinzipiell jederzeit
die Möglichkeit hat, die Kooperation wieder aufzukündigen (siehe dazu
den nächsten Abschnitt). Ich beschreibe es immer so, dass heute
Kooperation in Konkurrenzatmosphäre vorherrscht und das in einer
Selbstentfaltungsgesellschaft Konkurrenz in einer kooperativen
Atmosphäre wirken würde. Und das ist genau das selbe, wie wir es von
Spielen kennen. Man kooperiert in dem man sich gemeinsame Regeln wählt
(nicht: diktiert kriegt!) und konkurriert dann innerhalb dieses
Rahmens. Wenn zwei freie Softwareprojekte im Wettstreit liegen,
passiert genau das. Man ist sich einig darüber, dass Software frei
sein sollte und hat trotzdem unterschiedliche Vorstellungen, die man
in spielerischer Konkurrenz auslebt.

Spiele haben außerdem dem wirklichen Leben einen entscheidenden
Vorteil voraus: Man kann jederzeit aussteigen. Das ist etwas was
Spiele mit Freier Kooperation gemeinsam haben und eben meiner Meinung
nach auch mit Selbstentfaltung. Wenn ich nicht mehr aussteigen kann,
läuft das auf einen Zwang hinaus und mit Zwang weder Spiel noch
Selbstentfaltung.

Zusammenfassen: Wenn wir überlegen, wie wir die Bedingungen der
virtuellen Netzwelt verallgemeinern können um so Selbstentfaltung zur
Basis der Gesellschaft machen zu können, sollte man die älteste aller
virtuellen Netzwelten nicht vergessen: Das Spiel.

 Selbstentfaltung und Freie Kooperation

Freie Kooperation hat drei Bestimmungen und alle drei gelten auch für
auf Selbstentfaltung basierte Kooperationen für die dritte gilt das
aber nur eingeschränkt:

1. Beziehungen, die auf Selbstentfaltung basieren, können nicht auf
Zwang basieren, deshalb muss jedem Mitglied der Kooperation zu
jederzeit ermöglicht werden die Kooperation zu verlassen.

2. Wo Selbstentfaltung herrscht darf es keine sakrosankten Regeln
geben, denn dies würde Aufklärung ganz im oben genannten schlechten
System-Sinne sein. Wer sakrosankte Regeln setzt weil er meint, damit
alle Selbstentfaltungsbedürfnisse abdecken zu können, hat schon
verloren.

3. Die dritte Bedingung Freier Kooperation ist der ``faire
Scheidungspreis''. Dies macht sehr wohl Sinn unter den Bedingungen der
Wertverwertung weil nur so innerhalb der Werttotalität Freiraum
geschaffen werden kann. Dies macht allerdings keinen Sinn mehr, wenn
die Vergesellschaftung nicht mehr über Wert organisiert wird. Ganz
ähnlich übrigens, wie die GPL in der GPL-Gesellschaft nicht mehr
gebraucht wird, weil sie ein Mechanismus ist, die Keimform zu
verteidigen. Genauso auch der faire Scheidungspreis.
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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