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Re: [ox] Aus der systematischen Soziologie: Das Herrschaftsphaenomen



Hei Stefan (Mn), hei Benni,

Holloways Anti-Macht-Text und der aus der systematischen Soziologie, den Stefan Ende Maerz mal zitiert hat, sind m.E. v.a. in einem Aspekt voellig inkompatibel: Darin wie sie sich zu den grundlegenden Konzepten, wie staatlich-oekonomische Macht in 'liberalen Gesellschaften' legitimiert wird, stellen. Der systematische Soziologe (Siebel heisst er) verdoppelt v.a. zentrale Stuetzpfeiler dessen, was als das Wesen der FDGO gepredigt wird. Holloway versucht das Andere des Bestehenden zu verkuenden.

Als Soziolog lese ich Siebels Einfuehrungstext, den Stefan ausfuehrlich zitiert hat, als Polemik gegen die Feinde der in 'liberalen Gesellschaften' als legitim geltenden Herrschaftsausuebung. Das ist bei Einfuehrungen und grundlegenden Definitionen immer so: Sie stellen auch Kriterienkataloge dar dafuer, was eigentlich zu diskutieren ist und was nicht und legen damit schonmal fest, in welchem Rahmen die Loesung des Konflikts liegen wird.

Ich zitiere hier mal Siebel (wie immer selektiv aber hoffentlich nicht allzu unfair) und stelle meine Lesart in Paraphrasen dazwischen. Dann kommt meine Lesart von Holloway. Und dann versuche ich den Dissens ueber Macht damit ein bisschen zu erhellen.

At 17:05 27.03.02 [PHONE NUMBER REMOVED], you quoted:
Die Herrschaft ist sozusagen das Herz
der Gesellschaft, die Herrschaftsspannung der Motor der
gesellschaftlichen Wirklichkeit, die als solche nicht interpretiert
und verstanden werden kann, ohne Konstatierung und Fixierung der Art
und Form der jeweiligen Herrschaftsausübung.

Herrschaft ist natuerlich, wir koennen nicht ihre Abschaffung diskutieren, sondern nur noch, wie wir legitime Herrschaft hinbekommen, denn:

Eine `anarchische' Gesellschaft wäre demnach eine contradictio in adjecto."

In modernen Gesellschaften, die besonders grosse Gruppen darstellen, ist Herrschaft sogar besonders unumgaenglich:

Natürlich ist das Herrschaftsverhältnis in kleinen Gruppen weniger
ausgeprägt als in Großgruppen, aber die Ansätze zu allen
Grundfunktionen der Herrschaft lassen sich auch in Kleingruppen
finden. Zur vollen Entfaltung kommt Herrschaft aber erst in den
Großgruppen, den Verbänden und Institutionen, in Unternehmungen,
Gewerkschaften, Kirchen und besonders im Staat.

Damit kommen wir zur Frage der Legitimitaet von Herrschaft. Wie gesagt, es ist nicht das ob, sondern die Ausgestaltung der Herrschaft, die diskutiert werden soll. Ein Vorschlag fuer legitime Herrschaft sieht so aus:

Von hier aus zeigt sich deutlich, daß ein legitimes
Herrschaftsverhältnis in gegenseitiger Verpflichtung zwischen
Mitgliedern und Herrschaftspersonen begründet ist. Der Gehorsam auf
der einen Seite setzt die Befolgung der fundamentalen Normen der
Sozialeinheit durch die Herrschaft voraus.

Es geht also um Kontrolle der Herrschaft durch die Beherrschten, dafuer muessen sich die Beherrschten aber dann auch beherrschen lassen. Ein Deal: "Ich geb meine Freiheit (beherrsch mich!), dafuer gibst du aber auch ein bisschen Freiheit."

Das Medium der Kontrolle ueber den Herrscher ist Oeffentlichkeit:

Öffentlichkeit ist jene Sphäre, in der ein Sozialsystem sich in seiner
Herrschaft und seiner Mitgliedschaft selbst darstellt und in der
zwischen beiden Bereichen eine intensive Kommunikation stattfindet.

Zwar gibt es da ein Problem:

Öffentlichkeit wird reduziert oder zerstört,

die Medien bekommen zu viel Macht und vertreten partikulare Interessen, aber

Das besagt aber nicht, daß in vielen Gruppen und
Institutionen nicht auch heute noch Öffentlichkeit im eindeutigen Sinn
gegeben ist.

Und schliesslich: Weil es Herrschaft ueberall gibt, gibt es auch Eliten immer:

Eliten gibt es in allen Sozialsystemen.

So, das ist so ungefaehr meine Lesart.

Holloway hingegen verneint alles Bestehende:

Wir wol-len
die Welt nicht verstehen, ohne sie zu ne-gieren.
Das Ziel der Theorie besteht darin, die
Welt negativ zu begreifen

Seine Unterscheidung von Macht und Machen:

Um die Welt zu verändern, ohne die Macht zu
übernehmen, muss eine Unterscheidung zwi-schen
kreativer Macht (potencia) und instru-menteller
Macht (potestas) getroffen werden.

verstehe ich als Versuch, (kollektives) Handeln von Herrschaft zu loesen. Damit ist Siebels Ausgangspunkt, es gebe keine Gesellschaft (= u.a. auch kollektives Handeln) ohne Herrschaft, widersprochen. Waehrend Siebel z.B. in der Tat davon ausgehen muesste, dass Widerstand gegen Eliten immer darin enden muss, dass neue Eliten geschaffen werden (weil Eliten gibts ja immer), ist Holloway dafuer, Eliten im Prinzip abzuschaffen.

Der Dissens in der Machtfrage in Freier Software ist (hoffentlich) nicht so grundlegend wie der zwischen Siebel und Holloway. Ausgehend von deren Dissens scheinen mir aber in der Tat die Fragen wichtig, a) ob es Vermachtung und Herrschaft innerhalb real existierender freier Softwareprojekte gibt und
b) ob das unter allen Umstaenden ein Problem ist.

Bei (a) waeren sich Siebel und Holloway einig, allerdings aus unterschiedlichen Gruenden: Ja, es gibt sie, laut Siebel, weil es sie ja immer gibt, bei Holloway, weil die Projekte nicht genuegend Negativitaet gegenueber dem Bestehenden ausweisen (oder so). Bei (b) wuerde Siebel bestimmte Formen von Herrschaft, in denen genuegend gegenseitige Kontrolle existiert, als legitim ansehen. Holloway stimmt damit natuerlich nicht ueberein.

Ich persoenlich finde beide Texte uebrigens nicht besonders ansprechend. Weder habe ich viel mit Chiapas zu tun, noch bin ich ein Fan liberaler Demokratien.

Hoffe es klaert trotzdem

Thomas (be)

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Organisation: projekt oekonux.de


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