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Re: [ox] Zum Begriff der Herrschaft



Hi Stefan und Liste,

zunächstmal: prima, dass du deinen Standpunkt explizierst! Hat mir noch 
mal einiges klar gemacht. Ich weiss jetzt deutlicher, warum ich anderer 
Meinung bin - auch was gutes!

Ich würde gerne im Detail auf die Mail eingehen, nur dann kommen 100KB 
raus. Und ich stecke mitten in der Konferenz-Vorbereitung 
(organisatorisch und inhaltlich). Schaffe ich also nicht. Muss ich also 
schieben. Nehmen wir uns einfach die Zeit, die Herrschaft rennt uns nicht 
weg;-)

Eine mir wichtige Meta-Bemerkung möchte ich trotzdem vorher schonmal 
loswerden. Ich hatte schon an anderer Stelle (bei open theory, da gings 
um eine anthropologische Frage) eine bestimmte Art der Wissenschaft als 
"bürgerlich" gekennzeichnet. Da hatte ich sofort ein "wie kannst du 
nur..." geerntet. Ich mach das hier wieder: Siebels "systematischer 
Herrschaftsbegriff" ist ein Paradebeispiel einer bürgerlichen (hier auch: 
positivistischen) Wissenschaft.

Moralos/as - keep cool. Ich meine das nicht in einem denunziatorischen 
Sinne: Igitt, bürgerlich, ich bin aber besser, weil links, grün, 
sonstwas. Darum geht's nicht. Sondern "bürgerlich" ist für die 
summarische Kennzeichnung einer Wissenschaft, die (nur) in der 
bürgerlichen Gesellschaft entsteht und die objektiven Gedankenformen 
dieser Gesellschaft, also das, was denkend der Gesellschaft entspricht, 
in wissenschaftlich aufbereiteter Form affirmativ widerspiegelt. [Es ist 
noch komplizierter, denn auch die kritischen Gedanken, also auch meine 
oder deine, gehören dazu. Auch der "Marxismus".] Es kann in der 
Gesellschaft immer nur das gedacht werden, was eben denkmöglich ist. Das 
ist die sogenannte "Immanenzperspektive", die Sicht von "innen".

Kleiner Exkurs Immanenz-Transzendenz aus dem "Empire": Erstmal 
Fremdwörterbuch "transzendent": die Grenzen der Erfahrung und der 
sinnlich erkennbaren Welt überschreitend; übersinnlich, übernatürlich 
(Philos.); Gegensatz: immanent

Die Geschichte der "Moderne" beginnt mit der Entdeckung der "Immanenz". 
Verkürzt: Der individuelle Mensch ist _selbst_ handlungsmächtig, und 
nicht erst vermittels einer transzendenten Macht (Gott). Damit entdeckte 
die Menschheit ihre produktive Handlungsmacht (potencia). Aufklärung usw. 
waren Ausdruck dieser praktischen "Entdeckung". Gleichzeitig gab es die 
Kräfte der Ordnung, die ihre Macht der Beherrschung (potestas) erhalten 
wollten. Wie das hinbekommen? Indem man potencia nutzt, um potestas zu 
erreichen, oder anders formuliert: Indem man die Kraft der Immanenz 
(vereinfacht: die Selbstentfaltung) mit einer transzendenten Instanz 
verknüpft. Das ist an erster Stelle (aber nicht allein) der Staat und 
sein Inhalt, die Kapitalverwertung. Wie das geschah, sei erstmal 
dahingestellt, entscheidend ist: Ordnung ist nur herstellbar, wenn sich 
seine Begründung und Durchsetzung an einen transzendenten Souverän 
knüpft. Ohne Transzendenz keine Ordnung/Struktur und umgekehrt: 
Ordnung/Struktur wird selbst zur transzendenten Begründung: 
"Ordnung/Struktur muss sein" ("Immanent" kannst du das nicht begründen: 
immanent würden wir fragen, was wir wollen. Eine Anrufung eines "Muss" 
ist schlicht unmöglich, denn es wäre immer ein transzendentes "Muss". 
Immanenz ist mit Normativen unvereinbar). Mit der Wertkritik kann man nun 
leicht die Wertverwertung als Basis der Souveränkonstitution 
entschlüsseln.

Exkurs-Ende und Bogen zuende gespannt: bürgerlich nenne ich nun eine 
Sichtweise, die einen transzendenten Ort bemühen muss, ein gedachter 
abstrakter Standort ausserhalb des zu Bedenkenden (Gottesreich, 
Kommunismus, Gruppenstandpunkt etc.). Von diesem Ort ausserhalb - und nur 
von dort - kann ich "Ordnung" herstellen und begründen. Der "Standpunkt 
außerhalb" ist typisch dafür. Gleichwohl ermöglicht der transzendente 
Standpunkt sehr schön, das "Innere" zu analysieren, zu gruppieren und zu 
systematisieren. Positivistische Wissenschaft funktioniert so: Sie stellt 
fest, was ist. Damit naturalisiert und ontologisiert sie das Gegebene 
automatisch: sie "stellt" im Wortsinne "fest". Nur so kann ich auf den - 
immanent betrachtet - irrwitzigen Gedanken kommen, Herrschaft sei etwas 
natürlich-gesellschaftliches, da ich es ja feststellen (systematisieren 
etc.) kann.

(Die Frage, ob denn Kritik auch einen transzendenten Standpunkt braucht, 
ist genauso notwendig: Ich klammere sie hier aus)

Zur Illustration picke ich eines raus:

Von einem Mißbrauch her kann man aber keinen
Gegenstand definieren, so auch nicht die Herrschaft. Berechtigung
oder gar Notwendigkeit der Herrschaft in einem sozialen System müssen
von einem solchen Ansatz verfehlt werden. Eine systematische Analyse
der Herrschaft wird vielmehr berücksichtigen müssen, daß die
Aufrechterhaltung der Normen des Sozialsystems, die Befähigung eines
Sozialsystems zum Handeln und das dauerhafte Einnehmen eines nicht
partikulären Standpunkts, nämlich des Standpunkts des Gesamtsystems,
Herrschaft unaufgebbar notwendig machen.

Hier ist alles vorher Gesagte komprimiert vorhanden: Herrschaft _ist_ 
(Gegenstand), das andere ist Mißbrauch; Herrschaft muss deshalb positiv 
gefasst werden; Normen müssen aufrechterhalten werden; das Sozialsystem 
handelt; es kann nur handeln von einem Standpunkt des Gesamts (des 
Souveräns, des Staats, whatever); und das geht nur mit Herrschaft (via 
Domination und Repräsentation, deutlicher: Beherrschung und 
Stellvertretung).

Den "Naturcharakter" machst du sogar noch deutlicher:

Herrschaft als Wirken *für* ein Sozialsystem scheint mir nach längerem
Nachdenken über diese Definitionen und ein Betrachten der Welt durch
diese Brille wirklich ein Grundtatbestand menschlicher Sozialität
schlechthin zu sein. Genau deswegen muss sich m.E. darüber Gedanken
machen, wer über andere Gesellschaftsformationen nachdenkt.

Ja, durch die bürgerlich-positivistische Brille der systematischen 
Soziologie _musst_ du zu dem Schluss kommen. Logisch ist das Ganze schon. 
Es nur einfach gar nichts mit einer freien Gesellschaft zu tun, sondern 
einzig mit dieser unfreien. Diese ist. Und die systematische Soziologie 
hat das systematisiert. Mehr kann man daraus nicht ziehen.

Das nur als kleine "Irritation" von mir.

Ciao,
Stefan

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