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Repraesentation (was: Re: [ox] Re: Aussenstandpunkt vs. Gruppenstandpunkt)



Hi Olf und Liste!

Ich greife mal die Aspekte zum Thema Repräsentation raus. Das scheint
ja einer der umstrittensten Teilaspekte hier zu sein. Hier scheint mir
auch noch viel Begriffsanstrengung notwendig.

Last week (11 days ago) Olf Kaus wrote:
On Sun, Nov 17, 2002 at 02:52:51PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Merten wrote:
2 months (70 days) ago Stefan Meretz wrote:
Ist mittlerweile online
[http://www.unet.univie.ac.at/~a9709070/nummer2.pdf]. (Da hat mal wer
was verstanden :-) ).

Darin gibt es auch einen Artikel von Karl Reitter, der voll in unsere
Diskussion hier passt: "Repräsentation und Multitude - ein Bericht".

Da dieser Artikel angenehm kurz ist, habe ich ihn mal schnell gelesen.
Leider bin ich ziemlich enttäuscht. Wenn das die Grundlage für
Theoriebildung sein soll, dann Gute Nacht.

War das so gemeint?

Eine berechtigte Frage. Vielleicht habe ich dieses ideologisierende
Pamphlet ja nur missverstanden. Aber dennoch bleibt meine Kritik an
dieser "Schlusstechnik".

Es ging doch nur um die Frage von Repräsentation
und Herrschaft -- und zu diesem Thema passt der Text wirklich gut.

Wenn mensch vorher schon weiß, was hinten bei rauskommen soll: in der
Tat.

Was macht der Text? In der mittlerweile allzu üblichen Medientechnik
greift er sich ein Beispiel raus, was das zeigt, was der Autor zeigen
will. Und daraus folgt - nicht schwer - das, was er gerne zeigen
möchte. Mit dieser Technik kann prima alles mögliche "gezeigt" und bei
Bedarf auch mal schnell Pogrom- / Kriegs- /
Your-Lieblings-Alptraum-here-Stimmung erzeugt werden. Theoriebildung
geht mit diesem willkürlichen Umgang mit Realität aber nicht.

Ist keine Theoriebildung, sondern eher als eine empirischer "Beweis"
zu verstehen, dass Repräsentation immer mit Herrschaft verbunden
ist.

Du kannst eine These dieser Art nicht mit einem empirischen Beweis
belegen. Das geht logisch nicht, da es für den Allquantor nicht
reicht, ein Beispiel anzugeben. Das klappt nur für den Existenzquantor
oder für Gegenbeispiele.

Auf diesen Fall runtergebrochen: Die These, dass Repräsentation mit
Herrschaft(smissbrauch) verbunden sein kann, kann damit belegt werden.
Die ist aber gar nicht strittig. Genauso könnte das Beispiel als
Gegenbeispiel für eine These verwendet werden, nach der Repräsentation
niemals zu Herrschaft(smissbrauch) führt. Auch diese These ist nicht
strittig. Für die These, dass Repräsentation *immer* - und das betonst
du selbst - mit Herrschaft(smissbrauch) verbunden ist, liefert sie
leider gar keinen Hinweis. Eine solche These ist nicht empirisch zu
belegen, sondern eine solche These kann m.E. nur theoretisch begründet
werden. Empirie kann hier höchstens Hinweise geben.

Beispiele können m.E. aber zur Illustration einer These dienen.

Der zentrale Fehler des Textes liegt m.E. darin, dass er eine
Missbrauchssituation hernimmt und behauptet - und es ist wirklich nur
eine Behauptung - nichts anderes als Missbrauch sei möglich. Das ist
auf der Ebene der Sozialschmarotzerdebatte - um mal ein beliebiges
Beispiel zu nennen. Dieser Übergang von einem konkreten
Missbrauchsfall zur verallgemeinernden Theoriebildung konzentriert
sich in dem Satz "Für mich war diese Veranstaltung geradezu ein
Lehrstück in Sachen Repräsentationspolitik.". Damit verallgemeinert
Karl Reitter sein Beispiel zur Theorie - ähnlich wie die Bild-Zeitung
das mit den (wenigen) Fällen von Sozialhilfemissbrauch tut.

Es gibt hier keine Missbrauchssituation. Wenn die drei Leute
(=Herrschenden) am Tisch offen sind für Veränderung ihrer
                           ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^
Thesen/politischer Arbeit, also eben keine Repräsentanten eines
                             !!!! ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^
fertigen Konzeptes sind, dann gibt es keine Bevormundung, keine
Herrschaft und keinen "Missbrauch" dessen.

Diesen Widerspruch kann ich überhaupt nicht erkennen. Repräsentanz ist
für dich immer damit verbunden, dass die RepräsentantInnen nicht mehr
zuhören? Das ist für mich Borniertheit und Arroganz - und damit so
ziemlich das Gegenteil von Repräsentanz.

Da es mir letztlich nicht um Worte sondern um Begriffe geht: Hast du
vielleicht ein für dich passendes Wort für das, was ich da meine?

Und so geht es munter weiter: "Und gleichzeitig wurde mir einmal mehr
die Bedeutung, oder vorsichtiger formuliert, eine mögliche Bedeutung
des Begriffes `Multitude' und ihrer Nicht-Repräsentierbarkeit, klar."
Die ohnehin schon wenig erkenntnisdienliche Umdeutung des
Missbrauchsfalls eines Phänomens (Repräsentation) als Kern der Sache
wird umgedreht, auf einen anderen Bereich bezogen - die `Multitude'
als Begriff unterscheidet sich `Multitude' ja wohl erheblich von der
Gruppe, um die es in seinem Beispiel geht - und noch schnell zum
Gesetz erhoben. Na, vielen Dank.

Was meinst du mit "Missbrauch von Repräsentation"?

Habe ich öfters ausgeführt. Ich zitiere nochmal ein Abschnittchen des
systematischen Soziologen und streue ein paar Kommentare für diesen
Kontext hier ein.

  Integrativer
  Bestandteil der Repräsentation ist die Zusammenfassung und
  Vergegenwärtigung der Bestrebungen der Mitglieder der Sozialeinheit.

Missbrauch liegt also nach diesem Satz vor, wenn Repräsentation "die
Zusammenfassung und Vergegenwärtigung der Bestrebungen der Mitglieder
der Sozialeinheit" nicht mehr leistet. In der Tat ist das in dem
zitierten Beispiel der Fall: Weder fassen die "RepräsentatInnen" die
Bestrebungen der Mitglieder der Sozialeinheit zusammen noch
vergegenwärtigen sie sie. Vielmehr braten sie den vorgeblich
Repräsentierten irgendwelche gegenüber diesen entfremdeten Interessen
über. Darüber regt Karl Reitter, du und ich mich zusammen auf. Nur
dass es eben allein aufgrund dieses Satzes ein Missbrauch von
Repräsentation im Sinne des systematischen Soziologen (ich kürze das
mal auf "iSdsS") ist.

  Das heißt nicht, daß die Interessen der Mitglieder jemals einziger
  Orientierungspunkt des Handelns der Herrschaft sein können. Vielmehr
  muß die Herrschaft auch zu überzeugen versuchen und nötigenfalls auch
  gegen die Meinungen der Mitglieder zu handeln bereit sein.

Hier deutet er auch *die* Schwierigkeit schlechthin an. Diese
Schwierigkeit ist aber nicht dadurch zu beseitigen, dass sie geleugnet
wird. Dann setzt sie sich nur hinter dem Rücken der Beteiligten durch.

  Doch ist
  der Repräsentationsvorgang niemals ein einseitiger Prozeß.

Sic!

Nach dem Widerspruch, den du oben hingeschrieben hast, ist für dich
Repräsentation aber sogar nur *genau dann* gegeben, *wenn* es sich um
einen einseitigen Prozess handelt. Das wäre für mich so etwas wie
Arroganz der Macht - hatte ich schon gesagt.

  Vielmehr
  besteht zwischen der Herrschaft und den Mitgliedern ein
  Wechselverhältnis. Es werden nicht nur die Mitglieder im
  Repräsentationsvorgang dargestellt, im Dominationsvorgang betroffen,
  sondern sie selbst können den Führungsprozeß direkt oder durch
  bestimmte Institutionen beeinflussen, ja notfalls die Herrschaft
  beseitigen. Wäre dieses Wechselverhältnis nicht gegeben, so könnte auf
  Dauer die tatsächliche Orientierung der Herrschaft an der Gruppe nicht
  erzwungen werden.

Und alles was ich höre ist, dass genau das in den betrachteten
Beispielen vorliegt: Dass die Gruppe die Orientierung der Herrschaft
*auf* die Gruppe nicht erzwingen kann. Das ist dann aber keine
Herrschaft mehr iSdsS sondern Herrschaftsmissbrauch.

Nochmal: Was wäre für dich denn ein richtiges Wort für ein solches
Verhältnis?

IMHO ist Repräsentation kein Phänomen, sondern ein Machtinstrument
um Herrschaft auszuüben.

Nun auch Machtinstrumente sind in gewisser Weise Phänomene. Aber das
nur BTW.

Aber iSdsS hast du halb recht: Repräsentation ist ein Bestandteil von
Herrschaft. Die Machtinstrumente rechnet er aber wohl der Sphäre der
Domination zu. Und ich denke auch, dass es tatsächlich das ist, was an
Karl Reitters Beispiel stört: Das Gefühl dominiert worden zu sein, und
*eben nicht* repräsentiert worden zu sein. Es ist in Karl Reitters
Beispiel gerade der *Mangel* an Repräsentation, der den schalen
Geschmack und den Unmut hinterlässt.

Da es unmöglich für eine einzelne Gruppe
ist, für einen Menschen oder sogar viele Menschen zu sprechen...und
das ist keine Umdeutung, sondern Fakt.

Nun ist "für einen oder sogar viele Menschen" zu sprechen natürlich
ein dicker Hammer. Aber es geht ja gar nicht um diese Totalität
(jedenfalls nicht, wenn wir Staat / Gesellschaft / Multitude erstmal
außen vor lassen - was ich hiermit mal tue - auch weil ich da ja auch
meine Probleme habe).

Vielmehr geht es um *bestimmte* Interessen eines Menschen. Und du
wirst mir kaum widersprechen, dass du Interessen hast, die andere
problemlos für dich vertreten können. Und auch, dass du dich zu diesem
Zweck mit Gleichgesinnten zu einer Gruppe zusammenschließt. Nehmen wir
ein einfaches Beispiel und denken mal, dass du gerne Fußball spielst.
Wenn du das gerne tust, brauchst du ein paar MitspielerInnen - alleine
ist das wohl ein wenig fade. Außerdem brauchst du ein paar Utensilien,
zumindest aber einen Ball. Außerdem ein Gelände wo Fußballspielen
möglich ist.

D.h. aus deinem Bedürfnis nach Fußballspielen wächst eine bestimmte
Interessenlage. Diese Interessen kann doch problemlos jemensch anders
für dich vertreten - oder? Was ist daran "böse Herrschaft", wenn sich
jemensch aus der FußballerInnengruppe aufmacht und einen Fußballplatz
besorgt? DieseR Jemensch vertritt in diesem Moment aber gerade das
Interesse der Gruppe. Wenn dieseR Jemensch selbst nicht zu der
FußballerInnengruppe gehört - was ja denkbar ist -, dann vertritt
dieseR Jemensch bzgl. dem Fußballplatz nicht mal mehr ihr eigenes
Interesse. Diese Interessenvertretung ist aber nichts anderes als die
Repräsentation iSdsS. So hatte ich das zumindest verstanden.

Um nochmal auf die logische Figur zu kommen: Du sagtest es ist
unmöglich, d.h. es gibt keinen Fall wo ein Mensch für andere sprechen
kann. Ich habe ein Gegenbeispiel gebracht, wo es m.E. möglich ist -
sogar problemlos. Damit ist es nicht mehr unmöglich und wir müssen
schauen, wie genauer bestimmt werden kann, wo es unmöglich wird. M.E.
ist Entfremdung hierfür ein Schlüsselbegriff und Staat / Gesellschaft
/ Multitude passen da gut dazu. Hier eine genauere Bestimmung
hinzukriegen - insbesondere mit Blick auf die Freie Software - ist
Teil meines Anliegens.

Repräsentation (egal auf welche Gruppen bezogen) masst sich an, Wort
für andere Menschen zu ergreifen und sie damit zum blossen Objekt
der Repräsentation zu degradieren, da sie (die Menschen) keinen
Einfluss auf die einzelnen Handlungen der "Repräsentanten" haben.

Ja, das ist wohl deine Definition von Repräsentation. Ich denke, dass
ich das richtig wahrnehme. Wie würdest du bezeichnen, was ich
(momentan) darunter verstehe?

Daher und genau daher behindert bzw. verhindert eine Repräsentation
*immer* emanzipatorische Strömungen der Menschen, da Emanzipation
insbesondere auf die Abschaffung von Repräsentation hinarbeiten muss.

Das ist in deinem System dann nur folgerichtig. Weitere solcher
Schlüsse auf dieser Grundlage kommentiere ich nicht mehr, da es sich
wiederholen würde.

Ich kann nur wiederholen, was Siebel schon geschrieben hat und wo ich
immer besser verstehe, was er meint:

  Damit ist das in den Vordergrund gestellt, was an der Herrschaft für
  das heutige zeitgenössische Bewußtsein besonders hervorsticht,
  nämlich das Element der Macht und des Zwangs. Es ist jedoch zu
  fragen, ob diese Sicht nicht einseitig, ja verkürzt ist, wenn man
  dem Herrschaftsphänomen allein durch diese Begründung gerecht werden
  will. Dazu ist bereits zu bedenken, daß die Herrschaft von den der
  Herrschaft Unterworfenen grundsätzlich akzeptiert und gewünscht
  werden kann. [http://www.oekonux.de/liste/archive/msg04988.html]

Hier unterstellt "Siebel" das es "grundsätzlich" 'Sklaven' gibt und
dieser Zustand von den 'Sklaven' "akzeptiert" und auch noch
"gewünscht".

Ein SklavIn zeichnet sich ja nun gerade dadurch aus, dass sie eben die
Unterwerfung nicht akzeptiert / wünscht - sonst müsste sie ja nicht
unterworfen werden. Ich denke der reichlich ahistorische Begriff der
SklavIn ist hier ziemlich unpassend.

Was könnte besser zu dem passen, was du meinst?

Ich kann nur nochmal darauf hinweisen, dass ich in der Tat diese
Verkürzung für nicht erkenntnisfördernd halte, da sie den Zugang zu
wichtigen Zusammenhängen verbirgt.

...und ich weise hier darauf hin, dass ich eine solche Grundhaltung
für unsere Disskussion nicht akzeptabel halte.

Wo muss ich unterschreiben um akzeptabel zu sein?

Erkenntnisfördernd
ist eher das selbstständige und kritische Reflektieren und nicht das
blosse Aneignen von Menschenbildern aus der Kolonialzeit.

Dass ich mein Bemühen darum wieder nicht deutlich machen kann, sehe
ich mal wieder :-( .

Allerdings kann ich nicht erkennen, wo sich deine kritische Reflexion
von den Menschenbildern aus der Kolonialzeit anhebt. Nach meiner
Wahrnehmung reproduzierst du die koloniale Teilung der Welt in
UnterdrückerInnen und Unterdrückte ziemlich gnadenlos. Diese simple
Einteilung war aber wahrscheinlich schon immer Ideologie.

Ganz im
Gegenteil: Missbrauchte Herrschaft - wie im obigen Beispiel - ist
keine mehr, da Herrschaft wesentlich als ein Handeln im
Gruppeninteresse (sage ich hier mal so platt) verstanden werden muss,
wenn mensch das Phänomen wirklich tief verstehen will.

Wie nennst Du denn Herrschaft, wenn sie "missbraucht" wird?

Herrschafts- oder noch genauer: Machtmissbrauch.

Wenn
"mensch das Phänomen wirklich tief verstehen will" sollte mensch in
erster Linie denken. Ich lasse mir aber ungern vorschreiben, wie und
in welchen Zusammenhängen etwas "verstanden werden muss".

Dann liefere doch einfach mal eine bündige Erklärung für die
Gruppenvorgänge, die sich z.B. im Bereich der Freien Software
abspielen. Es muss doch irgendwie auch dir erklärlich sein, wie es bei
der Varianz von Individualinteressen nicht zum völligen Chaos kommt.
Wie geht das genau? Bisher kann ich nicht erkennen, dass es dafür auch
nur den Ansatz einer Theorie gibt. Deswegen bleibt das alles im
Bereich der Magie - und alle stehen staunend da und reißen Mund und
Augen auf, dass da was funktioniert. Davon will ich weg.

Noch so ein Dauerbrenner. In meiner gestrigen Mail andernthreads ("Die
Schlauch-Seil-Inkontingenz") bin ich ja genau auf diese Frage auch
eingegangen. Das was du hier als "systematisierte Deskription"
denunzierst ist nichts anderes als Begriffsbildung. Und auch wenn
diese Begriffe nicht da raus kommen, wo du sie gerne hättest,
*erklären* sie m.E. ungeheuer viel.

IMHO "erklaert" Begriffsbildung nichts.

Da hast du natürlich recht. Begriffsbildung kann helfen die Welt auf
eine bestimmte Weise zu sehen. Und diese Sicht kann erklärbar sein -
d.h. ich kann mir bestimmte Zusammenhänge erklären und ggf. sogar
Voraussagen treffen.

So meinte ich das auch: Die so gebildeten Begriffe geben mir einen
Rahmen, bei dem ich mir plötzlich Zusammenhänge erklären kann, die ich
vorher nicht mal gesehen habe.

Sie stellt eine bestimmten
Rahmen zur Verfügung in dem man sich diskursiv bewegen kann -- mehr
nicht.

Aber auch nicht weniger. Und einen Rahmen für einen Diskurs zu haben
ist ja schon mal besser als wenn der fehlt - oder?

Manchmal auch unpraktisch weil sie mit dem Rahmen auch
gleichzeitig einschränkt.

Das ist das Wesen des Rahmens.

Der Standpunkt einer Gruppe ist ein solcher transzendenter Standpunkt. Er
überschreitet je meinen Standpunkt. Er liegt außerhalb von je mir, es ist
ein Außenstandpunkt.

Nein. Im von mir so geschätzten Konsensmodell wird aus der
Gruppenstandpunktswolke für einen konkreten Fall ein Standpunkt
kristallisiert, der deinen Standpunkt *gerade nicht* überschreitet,
sondern ihn umfasst - auch wenn er vielleicht gerade nicht mit deinem
individuellen Standpunkt identisch ist. Letzteres ist bei
Einstimmigkeit der Fall.

Wenn der "kristallisierte Standpunkt" meinen Standpunkt nicht
überschreitet gibt kein Problem, weil wir dann einer Meinung sind.

Das halte ich für ein totales Missverständnis - was aber weitreichende
Folgen hat.

Der kristallisierte Standpunkt bedeutet nicht, dass wir *einer*
Meinung sein müssen. Im Konsensmodell gibt es z.B. auch die
Möglichkeit des Zurückstehens, die dann gewählt werden kann, wenn eine
bestimmte Entscheidung zwar nicht meiner Meinung entspricht, diese
Meinung aber auch aus irgendwelchen Gründen nicht so wichtig ist. Oder
wenn ich gar keine Meinung zu einem Thema habe.

Um beim Fußballplatz zu bleiben: Es könnten zwei Fußballplätze zur
Wahl stehen. Dir ist die Wahl egal, weil sie deinen Detailinteressen
gleich gut entsprechen. Aber eine Fraktion der FußballerInnengruppe
möchte unbedingt Klos in unmittelbarer Nähe haben, was nur einer der
beiden Fußballplätze bietet. Der kristallisierte Standpunkt wird dann
vermutlich den mit den Klos beinhalten. Er ist aber nicht deine
Meinung, überschreitet sie aber auch nicht.

Solche Unterscheidungen sind m.E. ungeheuer wichtig.

Wenn aber der "kristallisierte Standpunkt" _meinen_ Standpunkt
überschreitet, liegt er automatisch ausserhalb meines Standpunktes
und ist -- laut Definition -- tranzendent. Richtig?

Nun bin ich (noch ;-) ) kein Fachman für Transzendenzfragen. Aber so
wie ich den Begriff mittlerweile verstanden habe, ist das nicht
notwendig der Fall. Ich habe es mittlerweile so verstanden, dass ein
transzendenter Standpunkt einer ist, der nicht aus der Gruppe
gewachsen, sondern aus irgendwelchen der Gruppe äußerlichen Regeln
abgeleitet wird. Trifft übrigens auch meinen Entfremdungsbegriff.

Ein kristallisierter Standpunkt, der deinen Standpunkt überschreitet -
d.h., der gegen deine dedizierten individuellen Interessen verstößt -
kann aber sehr wohl aus der Gruppe heraus wachsen, also immanent sein.
Die Gruppe ist dann vielleicht nicht besonders nett, dich einfach zu
übergehen oder im Zweifelsfall sogar zu dominieren, aber daraus leitet
sich noch nicht ab, der Standpunkt transzendent ist.

Das heisst wenn es einen tranzendenten Standpunkt gibt, entspricht
es nicht mehr meinen (oder eines anderen Gruppenmitglieds)
Standpunkt mehr. Doof.

Ich glaube, es verhält sich noch ein bisschen anders. Aber da sollten
die TranszendenzspezialistInnen ran.

Ich gebe dir aber Recht darin, dass es für transzendent vs. immanent
von zentraler Bedeutung ist, wie diese Gruppenstandpunktswolke
kristallisiert und wie sehr dieser Prozess mit Entfremdung verbunden
ist. Hier scheidet sich m.E. letztlich die Frage, ob eine
Gruppenstandpunktswolke vorgeblich und damit Missbrauch ist oder eben
nicht.

Im Empire wird nun gezeigt, dass die Konstitution
eines solchen transzendenten Standpunkts entscheidend ist zur
Beherrschung der Multitude.

Da sagst du es selbst.

Wenn ein (doofer) tranzendenter Standpunkt konstituiert wird (z. B.
von irgendwelchen Repräsentanten), wird die Multitude beherrscht. Das
heisst mein (oder der eines anderen Gruppenmitglieds) Standpunkt
wird nicht mehr vertreten und damit repräsentiert die Repräsentation
mich nicht mehr. Ich werde von Ihr beherrscht (obwohl ich das nicht
will)!

Nochmals: So rum haben wir keinen Dissens. Das Machtmissbrauch mit
allem möglichen begründet wird ist wirklich nicht strittig.

Ob allerdings jede Repräsentation qua Konstruktion einen
transzendenten Standpunkt braucht, oder ob auch immanente Formen von
Repräsentation möglich sind, das halte ich immer noch nicht für
geklärt.

Wie in diesem Thread schon angedeutet, ist mein Wunsch, diese andere
Richtung genauer zu betrachten: Wie können sich
Gruppenstandpunktswolken in einer Weise konstituieren, die den
Missbrauch von Herrschaft mindestens kräftig erschweren?

Geht nicht. Leider!

Freie
Software mit ihrem Prinzip der Selbstentfaltung Einzelner als
Voraussetzung der Selbstentfaltung der Gruppe und umgekehrt liefert
hier m.E. bahnbrechende Beispiele.

Naja, wenn mir ein FS-Projekt nicht mehr gefaellt gehe ich. Dann ist
das Problem des tranzendenten Standpunktes gelöst, da ich nicht mehr
Teil der Gruppe bin. Würde ich bleiben, würde ich mich beherrschen
lassen. Bei FS-Projekten habe ich die Freiheit zu gehen, daher
taucht das Herrschafts-Problem in der Regel nicht auf.

In den meisten sozialen Zusammanhängen KANN ICH NICHT einfach gehen.

Sorry, aber das ist doch ein Märchen. Die bürgerliche Gesellschaft
zeichnet sich gegenüber ihrem Vorläufer *gerade* dadurch aus, dass du
praktisch überall gehen kannst. Die allgemeine Entbettung der Menschen
ist ja ein wichtiges Kennzeichen kapitalistischer Gesellschaften. Was
beides bietet: Chance zur Freiheit und Risiko der Freiheit.

Manchmal musst du einen Preis für die Freiheit / das Weggehen zahlen -
aber das nimmt dir nicht die grundsätzliche Möglichkeit, sondern
deutet nur an, dass es eben keine Einbettung (mehr) gibt, die
jegliches Handeln von dir sanft abfedert.

Es existieren Zwänge, die mich festhalten.

Abgesehen von Knast: Welche denn?

Geldgesellschaft wäre vielleicht ein Punkt, aber immerhin hast du
*innerhalb* der Geldgesellschaft reichlich Möglichkeiten zu Gehen. Und
mit deren Abschaffung mühen wir uns ja gerade ;-) .

Gerade die im "Empire" (wenn ich nur mal das
nehme) dargelegte Sicht ist in der Lage die Menschen in ihrer Vielheit
wahrzunehmen.

Ich kann nicht erkennen, wo der Begriff der Gruppenstandpunktswolke
diese Vielheit auch nur annähernd negiert. Das ist für mich einfach
kein Widerspruch.

Es sind zwei verschiedene Begriffe: die "Vielheit" ist die Vielheit
der Menschen, deine "Gruppenstandpunktswolke" ist halt die
Vermengung der Standpunkte die diese Menschen haben. Schon zwei
verschiedne paar Schuhe, oder?

Danke für die Präzisierung. Ja, in dieser Totalität sind es zwei
verschiedene Paar Schuhe. Wenn die Vielheit auf bestimmte Interessen
runtergebrochen wird, dann erscheint die Gruppenstandpunktswolke auf
dem Radar.

Ich tendiere immer mehr dazu, dass dieser Schritt zur Entfremdung der
entscheidende Punkt ist. Und du zählst auch zwei Beispiele auf, die
wir sicher alle hier als entfremdet verstehen können. Hast du auch
Beispiele, bei denen keine Entfremdung vorliegt?

Ja, meine Aktivität im Oekonux-Kontext.

Auch hier gibt es die Gruppenstandpunktswolke. In vielen Fällen ist
die ziemlich diffus, aber mindestens in der Frage der Spam-Filter
gegen kommerziellen Spam von Außen sind sich wohl hier alle einig. Und
damit konstituiert sich zumindest ein Gruppenstandpunkt sogar ziemlich
deutlich.
Auch die pure Anwesenheit auf der Liste zeigt schon ein gemeinsames
Interesse, das - in sehr weiten Grenzen - eine Gruppenstandpunktswolke
konstituiert.

Das ist wohl war -- hört aber hier wieder auf. Du wirst mir doch
sicher zustimmen, wenn ich sage:

   Es gibt niemanden, der diese "Gruppenstandpunktswolke"
   repräsentieren kann.

Du wirst mir zustimmen, dass alle zusammen diese
Gruppenstandpunktswolke repräsentieren können?

Das ist aber (leider) wenig realitätstauglich. D.h. wenn wir annehmen,
dass es eine Gruppenstandpunktswolke gibt, dann müssen wir überlegen,
wie damit umzugehen ist. Ignorieren führt nur dazu, dass sie sich
hinter dem Rücken der Beteiligten durchsetzt. Die zentrale Frage ist
für mich immer noch, wie das Ideal möglichst gut erreicht werden kann.

Immanenz pur - aber dennoch als (überindividueller)
Gruppenstandpunkt formulierbar.

Nein. Du kannst deine Sicht haben, du kannst behaupten, es gäbe den GS, du
kannst ihn dir wünschen, du kannst darum kämpfen. Aber niemand und nichts
entscheidet: Es gibt einen Gruppenstandpunkt und das issa.

Doch: Alle zusammen.

Nada!

Nada?

Jeder Versuch
müsste sich aus der Immanenz begeben, und den GS an überindividuelle
Gegebenheiten binden: so ist es nun mal, das ist die Mehrheitsmeinung,
die praktische Erfahrung zeigt es doch, es funktioniert doch so usw. Das
sind Bindungen an transzendente "Instanzen", nur das nicht mehr "Gott"
oder die "Wahrheit" ist.

Quark. Es ist eine Einigung möglich und im Falle der Einstimmigkeit
ist sie sogar völlig fraglos. Das hat nichts, aber auch gar nichts mir
Transzendenz zu tun.

Nur zeigt die Praxis, das es die halt nicht gibt.

Aber klar gibt es. Ich vermute sogar, dass die Frage der Spam-Filter
für kommerziellen Spam von Außen hier einstimmig beantwortet würde.

Du kannst sie
wünschen, herbeireden oder einfach auch feststellen, es wird sie
aber trotzdem nicht geben.

Gar keine Einigung möglich? Oder nur keine Einstimmigkeit? Wie kann
d.E. eine Einigung auf emanzipatorischer Grundlage ohne Einstimmigkeit
entstehen?

Eine Anrufung eines "Muss"
ist schlicht unmöglich, denn es wäre immer ein transzendentes "Muss".
Immanenz ist mit Normativen unvereinbar).

Wenn das Normative hilft, die individuelle (und kollektive?)
Selbstentfaltung zu befördern, dann ist es nicht unvereinbar sondern
die Voraussetzung für die Entfaltung der Immanenz.

Normative sind immer transzendent und damit strukturell gegen
Selbstentfaltung gerichtet. Sich selbst zu entfalten bedeutet gerade und
immer mehr, genau sich nicht normkompatibel zu verhalten.

Was Unfug ist, wenn du die Norm für dich selbst gesetzt hast.

Hier negierst du einfach die "Norm"! Dann gehts naluertich.

Ich negiere sie nicht, sondern ich hole sie aus der Transzendenz in
die Immanenz. Warum kann das nicht möglich sein?


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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