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Re: [ox] Re: Warum Herrschaftsdebatte?



Hei Stefan (Mn) und alle anderen!

Monday, January 27, 2003, 2:05:31 PM, Stefan (Mn) wrote:
Last week (13 days ago) Thomas Berker wrote:
Der Aufsatz heisst
Individuum und Organisation und darin wird _mehr_ Organisation gefordert und
begruendet unter welchen Bedingungen Organisation befreiend wirkt,

Hast du da einen Link?

Ich empfehle unbedingt den ganzen Text zu lesen, der in der Bibliothek
deines Vertrauens erhaeltlich ist. Hier gleichwohl ein paar
Appetithappen. Den Anfang lese ich als einen eleganten Seitenhieb
gegen Denker vom Schlage des systematischen Soziologen.

Adorno, Th. W. 1995 [1953]: Individuum und Organisation. In: Th. W.
Adorno, Soziologische Schriften I, hrsg. v. Rolf Tiedemann,
Frankfurt/M., S. 440-456:

[Was ist Organisation?]

[...]

Ich versage es mir, deren Begriff vorweg zu definieren. Sein Inhalt
steht in gewissen Grenzen Ihnen allen vor Augen, und ich möchte es
vermeiden, ihn so einzuengen, daß Zusammenhänge, die der Sache nach
dazu gehören, abgeschnitten werden, weil sie nicht in die Definition
fallen. Ein gesellschaftliches Phänomen wie die moderne Organisation
läßt sich ohnehin bestimmen nur in seiner Stellung im
gesamtgesellschaftlichen Prozeß, also eigentlich durch eine
ausgeführte Theorie der Gesellschaft. Formalistisch wäre es, ein paar
Merkmale herauszugreifen und willkürlich den Umfang dessen, was diesen
Merkmalen entspricht, für die Sache selbst zu unterschieben. Immerhin
sei zur Orientierung daran erinnert, daß Organisation ein bewußt
geschaffener und gesteuerter Zweckverband ist. Als solcher
unterscheidet er sich ebenso von naturwüchsigen Gruppen, etwa dem
Stamm oder der Familie, wie umgekehrt von dem ungeplanten Ganzen des
gesellschaftlichen Prozesses. Wesentlich ist die Zweckrationalität.
Eine Gruppe also, die auf den Namen Organisation Anspruch hat, ist so
geartet, daß der Zweck, um dessentwillen sie existiert, sich möglichst
vollkommen und mit dem relativ geringsten Kräfteaufwand erreichen
läßt. Die Beschaffenheit derjenigen, aus denen die Organisation sich
bildet, tritt in deren Anlage zurück hinter der Zweckdienlichkeit des
Ganzen. Der Name Organisation erinnert an Organe, Werkzeuge. Darin
klingt an, daß die von der Organisation Erfaßten ihr primär nicht um
ihrer selbst willen, sondern eben als Werkzeuge zur Realisierung des
Zweckes angehören, dem die Organisation dient und der erst mittelbar -
abermals, wenn Sie wollen, als »Werkzeug« - ihnen wiederum nützt. Mit
anderen Worten, in der Organisation sind die menschlichen Beziehungen
durch den Zweck vermittelt, nicht unmittelbar. Nach der amerikanischen
Terminologie wäre jede Organisation eine sekundäre Gruppe. Solche
Mittelbarkeit, der Werkzeugcharakter des Einzelnen für die
Organisation und der Organisation für den Einzelnen, setzt Momente von
Starrheit, Kälte, Äußerlichkeit, Gewaltsamkeit. In der Sprache der
deutschen philosophischen Tradition wird das von den Worten
Entfremdung und Verdinglichung umrissen. Sie steigert sich mit der
Ausweitung der Organisationen - schon Max Weber hat dargetan, daß der
Drang dazu jeglicher Organisation innewohnt. Dieser Expansionsdrang
jedoch verläuft bis heute einzig in der Bahn des Funktionierens. Immer
neue Sektoren werden in den Mechanismus hineingezogen und
beherrschbar. Die Organisation, die, was immer ihr erreichbar ist,
verschlingt, verfolgt dabei technische Vereinheitlichung, wohl auch
die eigene Macht. Kaum jedoch erwägt sie den Sinn ihres Daseins und
seiner Erweiterung im gesellschaftlichen Ganzen. Die Trennung von
Werkzeug und Ziel, die das Organisationsprinzip ursprünglich
definiert, gefährdet mehr als je in der modernen Gesellschaft das
Verhältnis der Organisation zu ihrem Rechtsgrund. Losgelöst vom Zweck
außerhalb ihrer selbst wird sie zum Selbstzweck. Je weiter sie zur
Totalität fortgetrieben wird, um so mehr befestigt sich der Schein,
sie, das System der Werkzeuge, sei die Sache selbst. Sie dichtet sich
ab gegen das, was ihr nicht gleicht. Gerade den alles einspannenden
Organisationen wohnt paradox die Qualität des Ausschließenden,
Partikularen, inne. Sie wissen, daß totalitäre Organisationen
regelmäßig und unerbittlich Gruppen designieren, die nicht
dazugehören, und Sie kennen auch die Willkür solcher Auswahl. Sie
waltet aber keineswegs bloß in der Sphäre des äußersten Grauens,
sondern begleitet als Schatten die organisatorische Sachlichkeit. Daß
man aus einer Organisation ausgeschlossen werden kann, gehört ebenso
zum Begriff der Organisation dazu, wie das Ausschlußverfahren Spuren
der durch die Gruppenmeinung hindurch ausgeübten Herrschaft trägt.
Solche Willkür im Gesetzmäßigen trägt für das Erschreckende der
verwalteten Welt weit größere Verantwortung als die Rationalität,
gegen die gemeinhin die Vorwürfe gerichtet werden. Wo man auf
organisatorische Gewaltsamkeit stößt, darf man auf Interessen
schließen, die am Ende nicht die eigenen der Zusammengeschlossenen
sind.

[...]

[Ueber "Humanisierung" von Organisation]

Nicht darum kann es sich handeln, das Menschliche, Unmittelbare oder
Individuelle in die Organisation einzubauen. Durch solchen Einbau
würde es selber organisiert und eben der Qualitäten beraubt, die man
zu bewahren hofft. Der Naturschutzpark rettet nicht die Natur und
stellt sich über kurz oder lang im gesellschaftlichen Getriebe bloß
als Verkehrshindernis heraus. Dem Individuum kann nicht dadurch
geholfen werden, daß man es begießt wie eine Blume. Besser dient es
dem Menschlichen, wenn die Menschen unverhüllt der Stellung
innewerden, an die sie der Zwang der Verhältnisse bannt, als wenn man
sie im Wahn bestärkt, sie seien dort Subjekte, wo sie im Innersten
recht wohl wissen, daß sie sich fügen müssen. Nur wenn sie es ganz
erkennen, können sie es ändern. Das Hohle der Sprache, die das
Lebendige in der verwalteten Welt mit Clichés konserviert, vom
Sozialpartner bis zur Begegnung, dem Auftrag, dem Anliegen und dem
Gespräch, in das die Verstummenden immerzu kommen wollen oder sollen,
verrät die Nichtigkeit des Beginnens. Sie sind auf einen
pseudokonkreten, weihevollen Jargon der Eigentlichkeit verwiesen, der
sich transzendenten Abglanz von der Theologie borgt, ohne sich doch
auf theologische Gehalte stützen zu können.

[...]

[Und der Schlussabsatz: Seeehr Adornitisch]

Wenn Hoffnung bleibt in der verwalteten Welt, dann liegt sie nicht bei
der Vermittlung, sondern bei den Extremen. Wo Organisation notwendig
wäre, in der Gestaltung der materiellen Lebensverhältnisse und der auf
ihnen beruhenden Beziehungen zwischen den Menschen, gibt es zu wenig
Organisation und zu viel im Bereich des Privaten, in dem Bewußtsein
sich bildet. Nicht, daß ich die Spaltung in eine öffentlich berufliche
und eine private Sphäre sanktionieren möchte: sie selber ist Ausdruck
der gespaltenen Gesellschaft, deren Bruch in jeden Einzelnen
hineinreicht. Aber eine Praxis, welche dem Besseren gilt, darf nicht
die historisch gesetzte Trennung des Öffentlichen und Privaten
verleugnen, sondern müßte an diese als an ein objektiv Gegebenes
anknüpfen. Die vernünftige Ordnung des Öffentlichen ist vorstellbar
nur, wenn am anderen Extrem, im individuellen Bewußtsein, der
Widerstand gegen die zugleich überdimensionierte und unvollständige
Organisation geweckt wird. Nur in den gleichsam rückständigen
Bereichen des Lebens, die von der Organisation noch freigelassen sind,
reift die Einsicht ins Negative der verwalteten Welt und damit die
Idee einer menschenwürdigeren. Die Kulturindustrie besorgt das
Geschäft, es dazu nicht kommen zu lassen, das Bewußtsein zu fesseln
und zu verfinstern. Not wäre mit anderem die Emanzipation von jenen
Mechanismen, die einzig die blind gesellschaftlich produzierte
Dummheit in jedem Einzelnen bewußt nochmals reproduzieren. Darum ist
es dringlich, die heutige Ideologie, die in der Verdopplung des Lebens
durch alle Sparten der Kulturindustrie besteht, beim Namen zu nennen.
Eine Impfung der Menschen gegen die ausgespitzte Idiotie, auf die
jeder Film, jedes Fernsehprogramm, jede illustrierte Zeitung ausgehen,
wäre selber ein Stück verändernder Praxis. Wir mögen nicht wissen, was
der Mensch und was die rechte Gestaltung der menschlichen Dinge sei,
aber was er nicht sein soll und welche Gestaltung der menschlichen
Dinge falsch ist, das wissen wir, und einzig in diesem bestimmten und
konkreten Wissen ist uns das Andere, Positive, offen.


Jawollja!

Thomas Be

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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