Re: [ox] Re: Selbst{organisation, entfaltung, verwirklichung}
- From: "Stefan Matteikat" <smatteikat web.de>
- Date: Sun, 01 Aug 2004 13:44:34 +0200
Hi StefanMn,
32 days (not 475 days:) ago Stefan Merten wrote:
4 days ago Stefan Matteikat wrote:
Zwei Fragen:
1. Mich irritierte irgendwie der entremdete Gebrauch des Wortes
"entfremdet". Aber ich sehe,
den hast Du ja gerade weggelassen, oder ?
Mag sein, dass ich den Begriff der Entfremdung ein wenig unorthodox
verwende - die Nachfrage / Kritik kam schon öfter. Wenn ich's richtig
überblicke, dann vor allem von Leuten, die den DDR-Sprachgebrauch
kennen.
Den DDR-Sprachgebrauch kenne ich in dieser Beziehung weniger; da ich in
Ungarn studiert habe, blieb mir einiges der damals üblichen marxistisch-
leninistischen Indoktrination erspart, und die nachfolgenden Jahre
hat's mich dann einfach nicht mehr interessiert, weil ich den Verdacht hatte,
daß die uns vermittelte Weltanschauung so "wissenschaftlich" nicht war. Mir
scheint es heute, daß man in der DDR mit der marxschen Kategorie der
Entfremdung unter Umständen Probleme hatte, da diese ja im real existierten
Sozialismus hätte verschwinden müssen, was - bedingt durch die
Produktionsweise - keineswegs der Fall war. Also schien es einfacher zu
sein, sie irgendwie aus dem Werk von Marx hinwegzuinterpretieren (andererseits
weisen auch moderne Marx-Interpreten auf das Fehlen der Kategorie
Entfremdung beim späteren Marx hin).
Kannst du eine (unentfremdete ;-) ) Definition geben? Vielleicht
können wir das ja mal glatt ziehen. Wäre mir dran gelegen, weil mir
der Begriff mittlerweile sehr wichtig geworden ist.
Ich beziehe mich - solange ich nichts Besseres finde - auf Postones
Marx-Interpretation (auch Postone ist - und das macht ihn mir sympathisch -
bei seiner Begriffsanwendung reichlich unorthodox:). Und da wiederum
heißt es über das Spätwerk von Marx:
"Ihre (der Arbeit) Funktion, Tätigkeit gesellschaftlich zu vermitteln,
wird als unabhängige, abstrakt gesellschaftliche Sphäre veräußerlicht,
die eine Form unpersönlichen Zwangs auf die Menschen ausübt, die diese
Sphäre konstituieren. _Entfremdung ist diese Form selbst erzeugter
reflexiver Herrschaft_."
Nun gehe ich allerdings davon aus, daß wir mit unserer Frage nach der
Konstituierung von Selbstorganisation ja eben diese selbst erzeugte
reflexive Herrschaft überwinden wollen bzw. Wege aufzeigen möchten,
wie das möglich sein könnte. Darum befremdete mich in diesem Zusammenhang
also Deine Formulierung:
Selbstorganisation: Eine Organisationsform, bei der alle für das
OHA-System handelnden nicht von der jeweiligen sozialen Gruppe
entfremdet sind.
Das hat für mich bei näherer Betrachtung zwar den Sinn einer
Abgrenzung der Selbstorganisation von der Entfremdung als reflexiver
Herrschaft, soll aber doch auch eine Abgrenzung verschiedener
selbstorganisierter Zusammenhänge voneinander und von einer - hoffentlich -
"nicht entfremdeten" Umgebung ausdrücken.
2. Wo ordnest Du die Selbsthilfe ein?
Interessante Frage. Und durchaus ambivalent.
Auf der einen Seite strotzt Freie Software natürlich nur so von
Selbsthilfe. Einerseits lebt sie von der zupackenden Selbsthilfe, wo
sich Leute einfach um ihre Belange kümmern. Also das, was ThomasK mit
Selbstorganisation bezeichnet hat. Andererseits dadurch, dass Leute
aufgefordert sind, Beiträge zu leisten / zu helfen, aber andererseits
auch Selbsthilfe durch offene Standards ermöglicht wird.
Es gibt sicherlich mehr als eine Betrachtungsweise von Selbsthilfe,
aber der von Dir betrachtete Aspekt führt genau zu der Fragestellung,
die ich auf dem Wiener Kongreß aufgeworfen habe; meine Intention ist
es ja, die Spezialisierung der Arbeitswelt, also die Entfremdung der
Arbeit, wenn man so will, durch Offenlegung der Produkt- und
Produktionsinformationen zu überwinden. (Eine in diesem Zusammenhang
wesentliche Beobachtung aus meiner eigenen Praxis ist zum Beispiel die, daß
sich dadurch innerhalb eines Betriebes ein peer-review Verfahren zur
Qualitätssicherung herausbilden kann, nicht administrativ, sondern aus eigenem
Antrieb der an der Produktion Beteiligten)
Ein ganz entscheidender Punkt bei der Adressierung des Produzenten ist, daß
damit zumindest theoretisch die Möglichkeit geschaffen wird, die Anonymität
der heutigen Produktionsweise zu überwinden. (Wobei anzumerken ist, daß
auch für eine zukünftige Produktionsweise Anonymität wichtig bleiben
wird: ich bin mittlerweise zu der Auffassung gelangt,
daß ein Geheimnis des Erfolgs frei verfügbarer Software darin besteht, daß
sich zwar der Produzent gewissermaßen outet, der Rezipient - oder
Verbraucher - aber nur, wenn er das ausdrücklich will.
Das ist ein himmelweiter Unterschied zu den von Wolfgang Pilcher beschriebenen
Schenkungsgesellschaften: hier wird der Vorgang des Schenkens als primär
der Schaffung von Abhängigkeiten dienend beschrieben, und sei es einfach
nur durch Erzeugung von Dankbarkeit. Dadurch, daß der Verbraucher anonym
bleiben kann, aber nicht muß, wird die Schaffung derartiger Abhängigkeiten
von vornherein eingeschränkt.
Die Anonymität wird aber dort und dann aufgehoben, sofern dies für die
Anwendung, die Tätigkeit sinnvoll oder unumgänglich ist - bestes Beispiel
der Support [oder auch nur Anregungen, Wünsche usw.])
Ja, ich weiß, jetzt kommt wieder, dass Windows viel einfacher ist.
Nicht von mir:)
Ich habe jahrelang damit gearbeitet und weiß daher, daß die Betreuung
genauso aufwendig ist, wie die jedes anderen Systems. Nicht zuletzt darum
gibt es Unmengen von Sekundärliteratur, Ratgeberzeitschriften usw., die
sich eigentlich in einer Grauzone bewegen, aber für das Überleben von
Windows unabdingbar sind - ohne diese keine Selbsthilfe, kein Aha!- Effekt,
oft genug kein sinnvoller Einsatz. Das wird von Microsoft uneingestanden
geduldet.
Auf der anderen Seite ist Selbsthilfe auch insofern problematisch, als
das sie bei der Komplexität heutiger Gesellschaften sehr leicht mit
Dilettantismus Hand in Hand geht.
Schließt irgendwie an die Diskussion von Open Craft auf dem Wiener Kongreß an:
in vielen Fragen ist und bleibt jeder Dilettant, muß sich aber irgendwie
in den Fragestellungen, die ihn interessieren, wenigstens einigermaßen
auskennen, um überhaupt eine Sprache zu finden mit dem "Experten".
Das heißt aber, um das Ideal von Marx und Engels - in der Frühe das Schwein
schlachten, nach dem Mittag Gitarren bauen und abends Pfeife rauchend
die neuesten Marx-Interpretationen analysieren - verwirklichen zu können
(oder, wie es bei oekonux ja auch heißt: den universellen
Menschen), muß man gewissermaßen die Voraussetzungen zum munteren Dilettieren
schaffen.
Das ist - um da anzuschließen - das
Problem der Leute, die mit der super-komplexen Maschine Computer nicht
zurecht kommen, wenn sie nicht in ein super-enges Korsett gesteckt
werden. Diesen Aspekt von Selbsthilfe finde ich weniger gut, wenn es
denn um eine ernsthafte Bewältigung von Aufgaben und nicht nur um eine
autodidaktische Lernerfahrung geht.
Ich gehe vielleicht ein bißchen von mir aus; auch hier wieder ein Beispiel,
das Wolfgang Pilcher gebracht hat, das mir selbst aber schon vorher durch
den Kopf gegangen war: wenn ich vor 20 Jahren ein
Tonbandgerät, oder eine elektrische Orgel gekauft habe, lag _immer_
ein Schaltplan dabei, der es mir ermöglichte, mir gegebenenfalls auch
selbst zu helfen - wo gibt es das heute noch? Hier schließt sich für mich
nahtlos meine Forderung nach eindeutiger Adressierung der Komponenten und
Einzelteile an (und damit der Verfügbarkeit der genauen Produktbeschreibung),
auf die Franz in der Diskussion meines Vortrages mit
unmittelbarem Bezug auf den parallel abgelaufenen Workshop über freie
Hardware einging, als er die Notwendigkeit der Möglichkeit der
Zweck"entfremdung" von (Hardware)-Komponenten ins Spiel brachte.
Aus all dem folgt für mich, daß auch die Befähigung zur Selbsthilfe (in dem von
Dir beschriebenen Sinn) eine Voraussetzung für die Aufhebung der Entfremdung
ist und somit für die Selbstorganisation, die ich demnach - und ausgehend
von Deiner weiterführenden Erläuterung -
Hier wäre dann eher wieder
Selbstorganisation in meinem Sinne gefragt: Dass ich mich eben nicht
um alles selber kümmern muss, sondern in einer sozialen Entität sich
auch andere um meine Belange kümmern - nicht weil sie (strukturell)
gezwungen werden, sondern weil es ihnen gut tut.
wie folgt definieren würde:
Selbstorganisation:
Eine Organisationsform, in welcher jemand deshalb für das jeweilige
OHA-Sytem handelt und sich dadurch als diesem zugehörig erweist,
weil in ihm die Voraussetzungen sowohl für die eigene Befähigung
zur Selbsthilfe, als auch für das Einbringen seiner eigenen
Fähigkeiten gegeben sind.
Wobei diese "Gegebenheit der Voraussetzungen" wiederum eigentlich einer
gesonderten Abhandlung bedarf. Wahrscheinlich ist nämlich
das der Knackpunkt, denn genau diese ergeben sich eben nicht
"von selbst", sonst wären wir bald wieder da, wo wir hinauswollen...
Ich habe an dieser Stelle allerdings einige Verständnisfragen (zu meiner
eigenen Definition:)
1. Ich setze "OHA-System" gewissermaßen mit der "Freien Kooperation"
nach Spehr gleich. Ist das korrekt?
2. Daraus folgt, daß es viele, in vieler Hinsicht verschiedene OHA-Systeme
geben muß. Auch hier bin ich mir nicht sicher, ob das Deiner Vorstellung
entspricht.
3. Ich würde (2) sogar noch weiter fassen: welche Mechanismen (Ausschluß,
Spaltung, Abwanderung, Vergraulen, Scheidung, Ableben usw.)
führen zur Herausbildung der "optimalen Korngröße" (Gräbe) von
OHA-Systemen? Ich erinnere an die Schlußdiskussion auf dem Wiener Kongreß.
Viele Grüße
StefanMa
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