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Re: [ox] Re: Selbst{organisation, entfaltung, verwirklichung}



Hi StefanMa et al!

Vorweg: Zu den Debatten auf der Konferenz kann ich nur begrenzt was
sagen, da ich bislang auch bestenfalls ein Drittel davon mitbekommen
habe. Und ich hatte noch keine Gelegenheit, mir die Audios anzuhören.

3 months (99 days) ago Stefan Matteikat wrote:
32 days (not 475 days:) ago Stefan Merten wrote:
4 days ago Stefan Matteikat wrote:
Zwei Fragen:
1. Mich irritierte irgendwie der entremdete Gebrauch des Wortes
"entfremdet". Aber ich sehe,
den hast Du ja gerade weggelassen, oder ?

Mag sein, dass ich den Begriff der Entfremdung ein wenig unorthodox
verwende - die Nachfrage / Kritik kam schon öfter. Wenn ich's richtig
überblicke, dann vor allem von Leuten, die den DDR-Sprachgebrauch
kennen.
[...]
Kannst du eine (unentfremdete ;-) ) Definition geben? Vielleicht
können wir das ja mal glatt ziehen. Wäre mir dran gelegen, weil mir
der Begriff mittlerweile sehr wichtig geworden ist.

Ich beziehe mich - solange ich nichts Besseres finde - auf Postones
Marx-Interpretation (auch Postone ist - und das macht ihn mir sympathisch -
bei seiner Begriffsanwendung reichlich unorthodox:). Und da wiederum
heißt es über das Spätwerk von Marx:

"Ihre (der Arbeit) Funktion, Tätigkeit gesellschaftlich zu vermitteln,
wird als unabhängige, abstrakt gesellschaftliche Sphäre veräußerlicht,
die eine Form unpersönlichen Zwangs auf die Menschen ausübt, die diese
Sphäre konstituieren. _Entfremdung ist diese Form selbst erzeugter
reflexiver Herrschaft_."

Das steht meinem Verständnis von Entfremdung nicht entgegen, ich würde
den Begriff aber auch in viel profaneren Zusammenhängen benutzen und
insbesondere nicht nur wenn es um Arbeit geht. Um mal ein schnelles,
nicht groß durchdachtes Beispiel aus einem völlig anderen Bereich zu
wählen: Wenn sich eine Liebesbeziehung trennt, dann i.A. deswegen,
weil sich die Partner von der Liebesbeziehung entfremdet haben.

Entfremdung scheint mir als Bezeichnung einer großen Klasse von
Phänomenen geeignet. Wobei ich noch nicht scharf definieren könnte,
was ich meine :-( . Ich suche da auch noch.

Nun gehe ich allerdings davon aus, daß wir mit unserer Frage nach der
Konstituierung von Selbstorganisation ja eben diese selbst erzeugte
reflexive Herrschaft überwinden wollen bzw. Wege aufzeigen möchten,
wie das möglich sein könnte.

Da Organisation für mich ein Euphemismus für Herrschaft - oder besser:
für OHA - ist, könnten für mich höchstens die Attribute irgendwie weg
fallen. "Selbst erzeugt" kann wohl kaum weg fallen, da wir es
ansonsten wieder mit einer Fremdorganisation zu tun haben. Bleibt das
"reflexiv". Damit kann ich leider zu wenig anfangen ;-) .

Darum befremdete mich in diesem Zusammenhang
also Deine Formulierung:

Selbstorganisation: Eine Organisationsform, bei der alle für das
OHA-System handelnden nicht von der jeweiligen sozialen Gruppe
entfremdet sind.

Das hat für mich bei näherer Betrachtung zwar den Sinn einer
Abgrenzung der Selbstorganisation von der Entfremdung als reflexiver
Herrschaft, soll aber doch auch eine Abgrenzung verschiedener
selbstorganisierter Zusammenhänge voneinander und von einer - hoffentlich -
"nicht entfremdeten" Umgebung ausdrücken.

Nicht wirklich, aber egal.

2. Wo ordnest Du die Selbsthilfe ein?

Interessante Frage. Und durchaus ambivalent.
Auf der einen Seite strotzt Freie Software natürlich nur so von
Selbsthilfe. Einerseits lebt sie von der zupackenden Selbsthilfe, wo
sich Leute einfach um ihre Belange kümmern. Also das, was ThomasK mit
Selbstorganisation bezeichnet hat. Andererseits dadurch, dass Leute
aufgefordert sind, Beiträge zu leisten / zu helfen, aber andererseits
auch Selbsthilfe durch offene Standards ermöglicht wird.

Es gibt sicherlich mehr als eine Betrachtungsweise von Selbsthilfe,
aber der von Dir betrachtete Aspekt führt genau zu der Fragestellung,
die ich auf dem Wiener Kongreß aufgeworfen habe; meine Intention ist
es ja, die Spezialisierung der Arbeitswelt, also die Entfremdung der
Arbeit, wenn man so will, durch Offenlegung der Produkt- und
Produktionsinformationen zu überwinden.

Ja. Als sehr praktisch würde ich es z.B. empfinden, wenn auf jedes
Ding eine URL aufgeprägt / aufgedruckt wäre, über die
Detail-Information über dieses Ding zu erhalten sind.

(Eine in diesem Zusammenhang
wesentliche Beobachtung aus meiner eigenen Praxis ist zum Beispiel die, daß
sich dadurch innerhalb eines Betriebes ein peer-review Verfahren zur
Qualitätssicherung herausbilden kann, nicht administrativ, sondern aus eigenem
Antrieb der an der Produktion Beteiligten)

Klar, das macht Sinn, wenn die Selbstentfaltung Raum bekommt. Dann
will mensch gute Arbeit machen und ein gutes Produkt herstellen, in
dem jemensch sein Selbst entäußert. Das macht keinen Sinn dort, wo es
um die Erzielung von Geldeinkommen geht und Angst (vor der ChefIn /
Arbeitsplatzverlust / KollegInnen) regiert, wo Entäußerung des Selbst
auf das unvermeidliche Minimum beschränkt bleibt. Kurz:
Gebrauchswertorientierung und eine gute Atmosphäre sind entscheidend.

Ein ganz entscheidender Punkt bei der Adressierung des Produzenten ist, daß
damit zumindest theoretisch die Möglichkeit geschaffen wird, die Anonymität
der heutigen Produktionsweise zu überwinden. (Wobei anzumerken ist, daß
auch für eine zukünftige Produktionsweise Anonymität wichtig bleiben
wird: ich bin mittlerweise zu der Auffassung gelangt,
daß ein Geheimnis des Erfolgs frei verfügbarer Software darin besteht, daß
sich zwar der Produzent gewissermaßen outet, der Rezipient - oder
Verbraucher -  aber nur, wenn er das ausdrücklich will.
Das ist ein himmelweiter Unterschied zu den von Wolfgang Pilcher beschriebenen
Schenkungsgesellschaften: hier wird der Vorgang des Schenkens als primär
der Schaffung von Abhängigkeiten dienend beschrieben, und sei es einfach
nur durch Erzeugung von  Dankbarkeit. Dadurch, daß der Verbraucher anonym
bleiben kann, aber nicht muß, wird die Schaffung derartiger Abhängigkeiten
von vornherein eingeschränkt.
Die Anonymität wird aber dort und dann aufgehoben, sofern dies für die
Anwendung, die Tätigkeit sinnvoll oder unumgänglich ist - bestes Beispiel
der Support [oder auch nur Anregungen, Wünsche usw.])

Weitgehnend d'accord. Ich halte den Anonymitätsgewinn, den die
bürgerliche Gesellschaft gebracht hat, für einen zivilisatorischen
Fortschritt, der bei der Komplexität heutiger Gesellschaften völlig
unaufgebbar geworden ist (wobei ich oft das Gefühl habe, dass die
klassischen Selbstorganisationsmodelle hier in vormoderne Zustände
zurück wollen). In Freier Software ist diese Anonymität - wie du
bemerkst - in der sinnvollen Richtung verwirklicht.

Auf der anderen Seite ist Selbsthilfe auch insofern problematisch, als
das sie bei der Komplexität heutiger Gesellschaften sehr leicht mit
Dilettantismus Hand in Hand geht.

Schließt irgendwie an die Diskussion von Open Craft auf dem Wiener Kongreß an:
in vielen Fragen ist und bleibt jeder Dilettant, muß sich aber irgendwie
in den Fragestellungen, die ihn interessieren, wenigstens einigermaßen
auskennen, um überhaupt eine Sprache zu finden mit dem "Experten".

Hier fällt mir BTW die Atomenergiedebatte ein, wo sich die
Protestbewegung eben auch selbst sehr schlau gemacht hat.

Das heißt aber, um das Ideal von Marx und Engels - in der Frühe das Schwein
schlachten, nach dem Mittag Gitarren bauen und abends Pfeife rauchend
die neuesten Marx-Interpretationen analysieren - verwirklichen zu können
(oder, wie es bei oekonux ja auch heißt: den universellen
Menschen), muß man gewissermaßen die Voraussetzungen zum munteren Dilettieren
schaffen.

Marx legt die Latte da sehr hoch ;-) . Aber ja: Die Voraussetzungen
zum Lernen - was ich mal als die positive Alternative zum Dilettieren
betrachten würde - sollten so weit irgend möglich gegeben sein.
Transparenz ist hier auch ein wichtiges Stichwort.

Aus all dem folgt für mich, daß auch die Befähigung zur Selbsthilfe (in dem von
Dir beschriebenen Sinn) eine Voraussetzung für die Aufhebung der Entfremdung
ist und somit für die Selbstorganisation, die ich demnach - und ausgehend
von Deiner weiterführenden Erläuterung -

Hier wäre dann eher wieder
Selbstorganisation in meinem Sinne gefragt: Dass ich mich eben nicht
um alles selber kümmern muss, sondern in einer sozialen Entität sich
auch andere um meine Belange kümmern - nicht weil sie (strukturell)
gezwungen werden, sondern weil es ihnen gut tut.

wie folgt definieren würde:

Selbstorganisation:
   Eine Organisationsform, in welcher jemand deshalb für das jeweilige
   OHA-Sytem handelt und sich dadurch als diesem zugehörig erweist,
   weil in ihm die Voraussetzungen sowohl für die eigene Befähigung
   zur Selbsthilfe, als auch für das Einbringen seiner eigenen
   Fähigkeiten gegeben sind.

Deswegen war es oben egal: Dem kann ich zustimmen :-) .

Wobei diese "Gegebenheit der Voraussetzungen" wiederum eigentlich einer
gesonderten Abhandlung bedarf.

Wenn nicht mehrerer ;-) .

Wahrscheinlich ist nämlich
das der Knackpunkt, denn genau diese ergeben sich eben nicht
"von selbst", sonst wären wir bald wieder da, wo wir hinauswollen...

Ja.

Ich habe an dieser Stelle allerdings einige Verständnisfragen (zu meiner
eigenen Definition:)
1. Ich setze "OHA-System" gewissermaßen mit der "Freien Kooperation"
   nach Spehr gleich. Ist das korrekt?

Ganz und gar nicht. Ich habe heftige Kritik an der Spehr'schen Freien
Kooperation und halte sie - vor allem bei der Wirkung, die sie hat -
für verheerend. Immer noch ganz treffend finde ich

	http://www.oekonux.de/liste/archive/msg03604.html

Dass sie überhaupt solchen Raum greifen kann, zeigt m.E. vor allem den
Zustand der Debatte an. Aber das ist natürlich auch ein Anreiz, das
Thema mal gründlich anzugehen - woran ich seit einigen Jahren mit dem
OHA-Begriff diskursiv arbeite.

2. Daraus folgt, daß es viele, in vieler Hinsicht verschiedene OHA-Systeme
   geben muß. Auch hier bin ich mir nicht sicher, ob das Deiner Vorstellung
   entspricht.

Nun, mein Ansatz bei dem OHA-Begriff ist zunächst mal der, dass ich
überhaupt verstehen will, mit welchem Phänomen wir es hier überhaupt
zu tun haben. Das steht m.E. vor der Frage, wie wir innerhalb dieses
Phänomens bestimmte Dinge ändern können bzw. unter welchen
Voraussetzungen was geschieht. Und ja, ich halte OHA als solches für
unabdingbar. Dies zu leugnen ist m.E. einer der Kardinalfehler linker
Debatte.

Mein letzter Konferenzbeitrag bezog sich ja auf den OHA-Begriff. Ich
bin wild entschlossen, in dem Paper, das ich dazu irgendwann schreiben
werde, mal zu versuchen einen Schnittpunkt zu bilden, von dem aus sich
die Debatte dann fortsetzen kann und soll.

3. Ich würde (2) sogar noch weiter fassen: welche Mechanismen (Ausschluß,
   Spaltung, Abwanderung, Vergraulen, Scheidung, Ableben usw.)
   führen zur Herausbildung der "optimalen Korngröße" (Gräbe) von
   OHA-Systemen? Ich erinnere an die Schlußdiskussion auf dem Wiener Kongreß.

Dazu müsste ich mich erst damit befasst haben, was Hans-Gert da genau
meint. Liegt auch noch auf Halde :-( .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan



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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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