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Korngroesse vs. OHA, Minimalismus vs. Selbstentfaltung (was: Fwd: [Hans-Gert Gräbe] Re: [ox] Hans-Gert Graebe * Die Macht des Wissen in der (post)modernen Gesellschaft)



Hi Hans-Gert et al!

Ok, ich glaube das Ding mit den Korngrößen habe ich jetzt verstanden.
Aber ich fürchte, ich habe immer noch eine fundamental andere
Sichtweise. Ich versuche das ein bisschen zu explizieren.

Last month (29 days ago) Stefan Merten wrote:
Stefan Merten wrote:
Hans-Gert wrote:
Marktmechanismen spielten in diesem Zusammenhang eine progressive
Rolle in der Entwicklung menschlicher Vergesellschaftungsformen.
Während in vorkapitalistischen Zeiten Zwecksetzung für die produktive
Arbeit extern, durch Clanführer, Sklavenbesitzer, Feudalherren -
allerdings auf einer dinglichen Basis - erfolgte, so rückt die
Zwecksetzung nun in die unmittelbare Nähe der produktiv Tätigen.

Mit anderen Worten: Die Machtmittel sind mächtiger geworden. Richtig?
Dein Beispiel andernorts mit dem Terrorismus scheint mir ein weiterer
Hinweis auf diese Lesart zu sein.

Wir
befinden uns dabei an einem Bifurkationspunkt menschlicher
Entwicklung: Während in der ganzen bisherigen Entwicklung die
"Korngröße" der gesellschaftlichen Entwicklungsstrukturen mit
Zwecksetzungsvollmacht linear mit der Korngröße der durch die
produktive Arbeit in Gang gesetzten "Macht der Agentien" wuchs und so,
wenigstens notdürftig, der dinglichen Logik der Planung produktiver
Arbeit Genüge getan war, sind wir mit Beginn der kapitalistischen
Marktwirtschaft mit dem Phänomen konfrontiert, dass ein weiteres
Wachstum der Korngröße der Macht der Agentien mit einem Rückgang der
Korngröße der Zwecksetzungsvollmacht einher geht.

Mit anderen Worten: Die InhaberInnen der Zwecksetzungsvollmacht
verfügen über vergleichsweise immer weniger Macht über die allgemein
zur Verfügung stehenden Machtmittel. Zumindest auf einem
gesamtgesellschaftlichen Level. Richtig? Der bürgerliche Staat hat
z.B. immer weniger Macht über die bürgerliche Ökonomie, wohingegen die
Macht von deren Machtmitteln ständig wächst.

Ich habe nicht verstanden, was hier ein Korn sein soll. Kannst du mal
ein paar Beispiele angeben?

Das ist hier recht knapp und auch bei meinem Vortrag in KL etwas außen
vor geblieben, aber relativ wichtig.

Sehe ich so langsam.

Alles was du tust hat Auswirkungen
auf andere. Ich rede damit nicht von einem "alles ist mit allem
verbunden", sondern möchte mich auf genügend intensive Auswirkungen
beschränken. Das "Kaffee-Beispiel", das Wolf in dem Zusammenhang gern
bringt, illustriert diese Interdependenz sehr gut.  Charakteristisch
ist, dass diese Auswirkungen 1) für andere wesentlich, 2) vermittelt und
3) von dir höchstens in einer allgemeinen Form intendiert, jedoch nicht
auf das konkrete Individuum bezogen gewollt sind (weil du die Nutzer
deines Tuns meist ja auch gar nicht kennst).  Die Macht der Agentien,
welche du in Bewegung setzt, hat also eine deutlich größere Reichweite
als der Bereich, in dem du selbst Zwecke setzen, d.h. planvoll und
selbstbestimmt agieren kannst.

Um beim Terrorismus zu bleiben: Wenn ich das Ventil der VX-Flasche
öffne, dann hat der daraus strömende Tod eine Reichweite, die in die
Zwecksetzungsbereiche anderer nachhaltig eingreift.

Oder mit Freier Software: Wenn ich einen Bug in einem Stück Freie
Software fixe, dann hat das in der nächsten Release Auswirkung auf
alle, die diese Freie Software benutzen. Der Bug-Fix liegt aber nicht
direkt in deren Zwecksetzungsbereich.

Verstehe ich dich richtig?

Für gesellschaftlich herausgehobene Personen, Clanführer usw., war das
teilweise anders, da der Radius ihrer Zwecksetzungsvollmacht deutlich
weiter reichte als der eines "normalen" Menschen. Was der Chef sagt, das
wird gemacht. Über diese Institution (möglicherweise oligarchisch
aufgebohrt - der Elitenansatz ist ein Relikt dieses Denkens) wurde lange
der gesellschaftsweite Entscheidungsbedarf abgewickelt. Planwirtschaft
war ein Rückfall in diesen Ansatz und ist deshalb an den heutigen
Herausforderungen noch eher als die kap. Warenwirtschaft gescheitert.

Hier würde ich das OHA-System ins Spiel bringen. ( Hans-Gert: Ein paar
- vertröstende ;-) - Bemerkungen dazu auch in
http://www.oekonux.de/liste/archive/msg08674.html).

Andernorts sprichst du von kommandobasiert, hier steht "Was der Chef
sagt, das wird gemacht." Ja, du siehst Zwecksetzungsmechanismen, die
über die individuelle Ebene hinaus gehen, offensichtlich immer nur als
Kommandosysteme. Insbesondere zeichnest du die KommandoempfängerInnen
als ungefragte, aber ausführende Masse - so eine Art RoboterInnen.

Diesem Bild würde ich für ein nachhaltiges OHA-System fundamental
widersprechen. Die Herrschafts- / Organisationfunktion, die von den
ZwecksetzerInnen ausgeht, ist nicht einfach unabhängig von der Gruppe,
für die *organisatorische* Zwecke gesetzt werden sollen. Das ist bei
dem von dir skizzierten Kommandosystemen so, wo die Kommandos mit
Gewalt durchgesetzt werden. Solche Systeme haben nach meiner
Einschätzung aber eine historisch kurze Lebensdauer.

Der Grund dafür ist, dass die in der Herrschafts- /
Organisationfunktion gebündelte Macht von den ZwecksetzerInnen
mißbraucht wird in dem Sinne, dass sie für vom *generellen* Zweck der
Gruppe entfremdeten Zielen eingesetzt wird. Wenn eine ClanführerIn
z.B. den Reichtum des Clans vor allem in die eigene Tasche
wirtschaftet anstatt ihn via organisatorischer Möglichkeiten dem Clan
zwecks Mehrung des allgemeinen Lebensstandards - d.h. dem generellen
Zweck der Gruppe - zu Gute kommen zu lassen, dann ist dies eine
Entfremdung.

Und diese Entfremdung nehmen die Menschen nicht endlos hin. Je größer
die Entfremdung wird, desto größer wird das Aufbegehren dagegen und
desto größer werden die Machtmittel, um dieses Aufbegehren im Zaum zu
halten. Mit Kommandosystem ist das gar nicht so schlecht beschrieben,
da hier der Gewaltapparat gegen das Aufbegehren schon im Wort
mitschwingt.

In einem nachhaltigen OHA-System stimmen die Menschen aber tendenziell
der Herrschafts- / Organisationfunktion zu. Nicht weil sie geil auf
Unterwerfung sind, sondern weil sie sie als *für sich* nützlich
erkennen können, weil sie spüren, dass es ihrer Entfaltung dient. Das
ist genau dann der Fall, wenn der Entfremdungsgrad der Herrschafts- /
Organisationfunktion gering ist. In einem solchen System gibt es auch
keine Kommandos, sondern die Herrschafts- / Organisationfunktion
bemüht sich um Aushandlungsprozesse, die zu einem Konsens tendieren.

Dieses Problem, nämlich in diesem klassischen Ansatz für
gesamtgesellschaftlich relevante Entscheidungen über eine Struktur
verfügen zu müssen, die in der Reichweite ihrer Entscheidungsmächtigkeit
mit der Reichweite der Wirkmächtigkeit einer vernetzten Macht der
Agentien mithalten kann, bezeichne ich als Korngrößendilemma.  Das geht
seit wenigstens 300..500 Jahren nicht mehr und Markt ist eine sehr
radikale Antwort.  Das ist m.E. auch die entscheidende zivilisatorische
Errungenschaft von Marktwirtschaft. Heute brauchen wir aber mehr.

In meinem Bild sind ZwecksetzerInnen und Ausführende nicht mehr
konzeptionell voneinander getrennt, sondern wir haben es mit einer Art
Arbeitsteilung innerhalb einer Gruppe zu tun. In diesem Bild gibt es
auch kein Korngrößendilemma, weil die Macht der Machtmittel *immer* im
Sinne des OHA-Systems und damit im Sinne der Gruppe eingesetzt wird -
solange eben der Entfremdungsgrad gering bleibt.

... Durch die sehr hohe Dimensionalität des Raumes
dinglicher Logiken ist der Effekt dieser Verdrängung aber ein anderer
als der heute zu beobachtende Effekt räumlicher Verdrängung: Der
Verdrängte hat viel mehr Ausweichdimensionen zur Auswahl als in einem
System, welches nur auf die blinde Geldmacht gründet, und kann (und
muss!) sich eine neue, seinen Neigungen und Fähigkeiten entsprechende
"sinnvolle" Tätigkeit suchen und dabei sein Kompetenzprofil
entsprechend weiterentwickeln und schärfen. ....

Verdrängung? Warum sollte überhaupt verdrängt werden? Der Raum ist ja
nicht durch knappes Geld begrenzt.

Ich gehe dabei von einem Minimalitätsprinzip aus, das m.E. der
Vergesellschaftung individueller Arbeit auch jenseits des Kapitalismus
eigen sein wird, weil Verschwendung etwas ist, das sich die Natur auch
anderswo nur dann leistet, wenn ein neuer Raum explorativ besetzt werden
soll bzw. muss.

Also wenn irgendwer nicht "muss", dann die Natur ;-) . Und wenn
irgendwer verschwendet, dann wieder die Natur. Ich wundere mich schon,
dass FranzN nicht längst mit dem Apfel auf der Matte steht und ihn als
ein frühes Überflussprodukt preist - mithin Verschwendung pur.

Die Natur ist minimalistisch nur dort, wo es Begrenzungen gibt.
Minimalismus oder Sparsamkeit ist ein Weg mit Begrenzungen umzugehen.
Gibt es keine Begrenzungen, dann geht *gerade die Natur* in die
Vollen.

In diesem Sinn werden sich immer Mechanismen
herausbilden, die bewirken, dass gesellschaftlich erforderliche Arbeit,
wenigstens in den Kernbereichen, so verteilt wird, dass der
gesellschaftliche Aufwand dafür in der Summe minimal ist.

Du argumentierst aus einer Logik, in der Arbeitskraft knapp ist. Wo
Arbeitskraft begrenzt zur Verfügung steht, mag ihre Minimierung in der
Tat überhistorisch sinnvoll sein. Wie gesagt: Sparsamkeit ist ein Weg
um mit Begrenzungen umzugehen.

Ist Arbeitskraft aber nicht begrenzt - z.B. weil Doppelt Freie
Software-EntwicklerInnen einfach nur mal mit einem bestimmten Thema
rumspielen wollen -, dann gibt es auch keinen Grund zur Minimierung.
Selbstentfaltung hat eben nur in den Fällen etwas mit Minimierung /
Sparsamkeit zu tun, wo Begrenzungen existieren.

Von einigen
Details abgesehen bedeutet das, dass derjenige die Arbeit macht, der das
am besten kann.

Nicht unter Bedingungen der Selbstentfaltung.

BTW ist da auch der Kapitalismus ausgesprochen verschwenderisch. Die
Doppelarbeit, die durch die Verdrängungskonkurrenz und - ja! -
Betriebsgeheimnisse und andere Arten "geistigen Eigentums"
erforderlich wird, spottet jeder Beschreibung.

In dem Sinne Verdrängung, wobei ich mir durchaus einen
intensiveren Wettbewerb von Konzepten um die beste Lösung als heute
vorstellen kann, einschließlich der Lösung der "Brötchenfrage" dafür.

Ich würde zustimmen, dass sich auf der Ebene der Produktwahl
wahrscheinlich wenige Produkte von Selbstentfaltung für viele heraus
kristallisieren werden. Einfach weil es Qualitätsunterschiede gibt.
Das hat aber gar nichts mit Verdrängung zu tun, weil ich weiter an
meinem Super-Editor basteln kann, der in wenigen Jahren ganz bestimmt
alles hinweg schwemmen wird.

... muss da noch verdrängt werden? Könnte es nicht
sein, dass anstatt Verdrängung die Menschen von selbst zu dem gehen,
was gesellschaftlich sinnvoll ist?

Klar. "Nach kurzer Zeit wird es keine überlappenden Geschäftsfelder mehr
geben -- und sie werden dann auch nicht mehr Geschäfts- sondern
Kompetenzfelder heißen." Dabei wird sicher noch viel mehr vom Kopf auf
die Füße gestellt, denn es werden jahrtausende alte Denktraditionen zu
brechen sein.

Ich denke auch, dass Denktraditionen gebrochen werden müssen. Mein
Eindruck bei deinen hiesigen Überlegungen ist aber, dass du diese
ziemlich bruchlos fortführst :-( .

Wenn der Zustand erreicht ist, dann wirst du selbst sehr
schnell aus einem Bereich, der dir nur Frust bereitet (weil andere
dauernd besser sind als du), rausgehen.

Wenn das ein Grund dafür ist, dass ich eine Sache nicht mehr mache,
dann sollte ich am besten in Bett liegen bleiben. Nein, es wird immer
jemensch geben, der das besser kann als ich, was ich gerade mache.
Eine schöne Chance etwas zu lernen - nicht aber, damit aufzuhören :-) .

Heute wirst du dich mit aller
Macht dagegen wehren, weil jenseits deines heutigen Frusts im
ungeliebten Beruf mit Alg-II nur noch größerer Frust droht.

Der mawi-Text ist bewusst auch terminologisch so gehalten, dass an heute
gängige Argumentationsmuster angeknüpft wird, insbesondere mit dem
Vorteilsbegriff. Aber das hatte ich dir ja schon gesagt.

Ja, hatte ich verstanden. Ist nicht mein Ding, aber that's fine.
Allerdings habe ich den Einduck, dass du dich zu sehr auf dein
gefühltes Gegenüber einlässt.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

--
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reached my mailbox since yesterday evening.



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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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